The Project Gutenberg EBook of Von morgens bis mitternachts, by Georg Kaiser This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Von morgens bis mitternachts Author: Georg Kaiser Release Date: December 18, 2019 [EBook #60952] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK VON MORGENS BIS MITTERNACHTS *** Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
GEORG KAISER
STÜCK IN ZWEI TEILEN
1930
GUSTAV KIEPENHEUER VERLAG
BERLIN
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt. Verkauf und Verleihung dieses Exemplars, sowie das Ausschreiben der Rollen verboten. Das Aufführungsrecht für alle Länder ist ausschließlich vom Bühnenvertrieb Felix Bloch Erben, Berlin-Wilmersdorf, Nikolsburger Platz Nr. 3 zu erwerben. Copyright 1916 by S. Fischer Verlag, Berlin. Gedruckt bei Poeschel & Trepte, Leipzig.
Kassierer
Mutter
Frau
Erste, zweite Tochter
Direktor
Gehilfe
Portier
Erster, zweiter Herr
Laufjunge
Dienstmädchen
Dame
Sohn
Hotelkellner
Jüdische Herren als Kampfrichter
Erste, zweite, dritte, vierte weibliche Maske
Herren im Frack
Kellner
Mädchen der Heilsarmee
Offiziere und Soldaten der Heilsarmee
Publikum einer Versammlung der Heilsarmee:
Kommis, Kokotte, Arbeiter usw.
Schutzmann
Die kleine Stadt W. und die große Stadt B.
Kleinbankkassenraum. Links Schalteranlage und Tür mit Aufschrift: Direktor. In der Mitte Tür mit Schild: Zur Stahlkammer. Ausgangstür rechts hinter Barriere. Daneben Rohrsofa und Tisch mit Wasserflasche und Glas.
Im Schalter Kassierer und am Pult Gehilfe, schreibend. Im Rohrsofa sitzt der fette Herr, prustet. Jemand geht rechts hinaus. Am Schalter Laufjunge sieht ihm nach.
KASSIERER
klopft auf die Schalterplatte.
LAUFJUNGE
legt rasch seinen Zettel auf die wartende Hand.
KASSIERER
schreibt, holt Geld unter dem Schalter hervor, zählt sich in die Hand — dann auf das Zahlbrett.
LAUFJUNGE
rückt mit dem Zahlbrett auf die Seite und schüttet das Geld in einen Leinenbeutel.
HERR
steht auf.
Dann sind wir Dicken an der Reihe.
Er holt einen prallen Lederbeutel aus dem Mantelinnern.
Dame kommt. Kostbarer Pelz, Geknister von Seide.
HERR
stutzt.
DAME
klinkt mit einigem Bemühen die Barriere auf, lächelt unwillkürlich den Herrn an.
Endlich.
HERR
verzieht den Mund.
KASSIERER
klopft ungeduldig.
DAME
fragende Geste gegen den Herrn.
HERR
zurückstehend.
Wir Dicken immer zuletzt.
DAME
verneigt sich leicht, tritt an den Schalter.
KASSIERER
klopft.
DAME
öffnet ihre Handtasche, entnimmt ein Kuvert und legt es auf die Hand des Kassierers.
Ich bitte dreitausend.
KASSIERER
dreht und wendet das Kuvert, schiebt es zurück.
DAME
begreift.
Pardon.
Sie zieht den Brief aus dem Umschlag und reicht ihn hin.
KASSIERER
wie vorher.
DAME
entfaltet noch das Papier.
Dreitausend bitte.
KASSIERER
überfliegt das Papier und legt es dem Gehilfen hin.
GEHILFE
steht auf und geht aus der Tür mit dem Schild: Direktor.
HERR
sich wieder im Rohrsofa niederlassend.
Bei mir dauert es länger. Bei uns Dicken dauert es immer etwas länger.
KASSIERER
beschäftigt sich mit Geldzählen.
DAME
Ich bitte: in Scheinen.
KASSIERER
verharrt gebückt.
DIREKTOR
jung, kugelrund — mit dem Papier links heraus.
Wer ist —
Er verstummt der Dame gegenüber.
GEHILFE
schreibt wieder an seinem Pult.
HERR
laut.
Morgen, Direktor.
DIREKTOR
flüchtig dahin.
Geht's gut?
HERR
sich auf den Bauch klopfend.
Es kugelt sich, Direktor.
DIREKTOR
lacht kurz. Zur Dame.
Sie wollen bei uns abheben?
DAME
Dreitausend.
DIREKTOR
Ja drei — dreitausend würde ich mit Vergnügen auszahlen —
DAME
Ist der Brief nicht in Ordnung?
DIREKTOR
süßlich, wichtig.
Der Brief geht in Ordnung. Über zwölftausend —
Buchstabierend.
Banko —
DAME
Meine Bank in Florenz versicherte mich —
DIREKTOR
Die Bank in Florenz hat Ihnen den Brief richtig ausgestellt.
DAME
Dann begreife ich nicht —
DIREKTOR
Sie haben in Florenz die Ausfertigung dieses Briefes beantragt —
DAME
Allerdings.
DIREKTOR
Zwölftausend — und zahlbar an den Plätzen —
DAME
Die ich auf der Reise berühre.
DIREKTOR
Der Bank in Florenz haben Sie mehrere Unterschriften geben müssen —
DAME
Die an die im Brief bezeichneten Banken geschickt sind, um mich auszuweisen.
DIREKTOR
Wir haben den Avis mit Ihrer Unterschrift nicht bekommen.
HERR
hustet; blinzelt den Direktor an.
DAME
Dann müßte ich mich gedulden, bis —
DIREKTOR
Irgendwas müssen wir doch in Händen haben!
EIN HERR
winterlich mit Fellmütze und Wollschal vermummt — kommt, stellt sich am Schalter auf. Er schießt wütende Blicke nach der Dame.
DAME
Darauf bin ich so wenig vorbereitet —
DIREKTOR
plump lachend.
Wir sind noch weniger vorbereitet, nämlich gar nicht!
DAME
Ich brauche so notwendig das Geld!
HERR
im Sofa lacht laut.
DIREKTOR
Ja, wer brauchte keins?
HERR
im Sofa wiehert.
DIREKTOR
sich ein Publikum machend.
Ich zum Beispiel —
zum Herrn am Schalter.
Sie haben wohl mehr Zeit als ich. Sie sehen doch, ich spreche mit der Dame noch. — Ja, gnädige[S. 13] Frau, wie haben Sie sich das gedacht? Soll ich Ihnen auszahlen — auf Ihre —
HERR
im Sofa kichert.
DAME
rasch.
Ich wohne im Elefant.
HERR
im Sofa prustet.
DIREKTOR
Ihre Adresse erfahre ich mit Vergnügen, gnädige Frau. Im Elefant verkehre ich am Stammtisch.
DAME
Kann der Besitzer mich nicht legitimieren?
DIREKTOR
Kennt Sie der Wirt schon näher?
HERR
im Sofa amüsiert sich köstlich.
DAME
Ich habe mein Gepäck im Hotel.
DIREKTOR
Soll ich Koffer und Köfferchen auf seinen Inhalt untersuchen?
DAME
Ich bin in der fatalsten Situation.
DIREKTOR
Dann reichen wir uns die Hände: Sie sind nicht in der Lage — ich bin nicht in der Lage. Das ist die Lage.
Er gibt ihr das Papier zurück.
DAME
Was raten Sie mir nun zu tun?
DIREKTOR
Unser Städtchen ist doch ein nettes Nest — der Elefant ein renommiertes Haus — die Gegend hat Umgegend — Sie machen diese oder jene angenehme Bekanntschaften — und die Zeit geht hin — mal Tag, mal Nacht — wie sich's macht.
DAME
Es kommt mir hier auf einige Tage nicht an.
DIREKTOR
Die Gesellschaft im Elefant wird sich freuen, etwas beizutragen.
DAME
Nur heute liegt es mir dringend an dreitausend!
DIREKTOR
zum Herrn im Sofa.
Bürgt jemand hier für eine Dame aus der Fremde auf dreitausend?
DAME
Das könnte ich wohl nicht annehmen. Darf ich bitten, mir sofort, wenn die Bestätigung von Florenz eintrifft, telephonisch Mitteilung zu machen. Ich bleibe im Elefant auf meinem Zimmer.
DIREKTOR
Persönlich — wie gnädige Frau es wünschen!
DAME
Wie ich am raschesten benachrichtigt werde.
Sie schiebt das Papier in das Kuvert und steckt es in die Tasche.
Ich spreche am Nachmittag noch selbst vor.
DIREKTOR
Ich stehe zur Verfügung.
DAME
grüßt kurz, ab.
HERR
am Schalter rückt vor und knallt in der Faust einen zerknüllten Zettel auf die Platte.
DIREKTOR
ohne davon Notiz zu nehmen, sieht belustigt nach dem Herrn im Sofa.
HERR
im Sofa zieht die Luft ein.
DIREKTOR
lacht.
Sämtliche Wohlgerüche Italiens — aus der Parfümflasche.
HERR
im Sofa fächelt sich mit der flachen Hand.
DIREKTOR
Das macht heiß, was?
HERR
im Sofa, gießt sich Wasser in ein Glas.
Dreitausend ist ein bißchen hastig.
Er trinkt.
Dreihundert klappern auch nicht schlecht.
DIREKTOR
Vielleicht machen Sie billigere Offerte — im Elefant, auf dem Zimmer?
HERR
im Sofa.
Für uns Dicke ist das nichts.
DIREKTOR
Wir sind mit unserm moralischen Bauch gesetzlich geschützt.
HERR
am Schalter knallt zum zweitenmal die Faust auf die Platte.
DIREKTOR
gleichmütig.
Was haben Sie denn?
Er glättet den Zettel und reicht ihn dem Kassierer hin.
LAUFJUNGE
hatte die Dame angegafft, dann die Sprechenden — verfehlt die Barriere und rennt gegen den Herrn im Sofa.
HERR
im Sofa nimmt ihm den Beutel weg.
Ja, mein Junge, das kostet was — schöne Mädchen angaffen. Jetzt bist du deinen Beutel los.
LAUFJUNGE
lacht ihn verlegen an.
HERR
Was machst du denn nun, wenn du nach Hause kommst?
LAUFJUNGE
lacht.
HERR
gibt ihm den Beutel wieder.
Merk' dir das für dein Leben. Du bist der erste nicht, dem die Augen durchgehen — und der ganze Mensch rollt nach.
LAUFJUNGE
ab.
KASSIERER
hat einige Münzen aufgezählt.
DIREKTOR
Solch einem Schlingel vertraut man nun Geld an.
HERR
im Sofa.
Dummheit straft sich selbst.
DIREKTOR
Daß ein Chef nicht den Blick dafür hat. So was brennt doch bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, aus. Der geborene Defraudant.
Zum Herrn am Schalter.
Stimmt es nicht?
HERR
prüft jedes Geldstück.
DIREKTOR
Das ist ein Fünfundzwanzigpfennigstück. Das sind zusammen fünfundvierzig Pfennig, mehr hatten Sie doch nicht zu verlangen?
HERR
steckt umständlich ein.
HERR
im Sofa.
Deponieren Sie doch Ihr Kapital in der Stahlkammer! — Nun wollen wir Dicken mal abladen.
HERR
am Schalter rechts ab.
DIREKTOR
Was bringen Sie uns denn?
HERR
legt den Lederbeutel auf die Platte und holt eine Brieftasche heraus.
Soll man kein Vertrauen zu Ihnen kriegen mit Ihrer feinen Kundschaft?
Er reicht ihm die Hand.
DIREKTOR
Jedenfalls sind wir für schöne Augen in Geschäftssachen unempfänglich.
HERR
sein Geld aufzählend.
Wie alt war sie? Taxe.
DIREKTOR
Ohne Schminke habe ich sie noch nicht gesehen.
HERR
Was will die denn hier?
DIREKTOR
Das werden wir ja heute abend im Elefant hören.
HERR
Wer käme denn da in Betracht?
DIREKTOR
In Betracht könnten wir schließlich alle noch kommen!
HERR
Wozu braucht sie denn hier dreitausend Mark?
DIREKTOR
Sie muß sie wohl brauchen.
HERR
Ich wünsche ihr den besten Erfolg.
DIREKTOR
Womit?
HERR
Daß sie ihre Dreitausend kapert.
DIREKTOR
Von mir?
HERR
Von wem ist ja nebensächlich.
DIREKTOR
Ich bin neugierig, wann die Nachricht von der Bank in Florenz kommt.
HERR
Ob sie kommt!
DIREKTOR
Ob sie kommt — darauf bin ich allerdings noch gespannter!
HERR
Wir können ja sammeln und ihr aus der Verlegenheit helfen.
DIREKTOR
Auf Ähnliches wird es wohl abgesehen sein.
HERR
Wem erzählen Sie das?
DIREKTOR
lacht.
Haben Sie in der Lotterie gewonnen?
HERR
zum Kassierer.
Nehmen Sie mir mal ab.
zum Direktor.
Ob wir draußen unser Geld haben oder bei Ihnen verzinsen — richten Sie mal ein Konto für den Bauverein ein.
DIREKTOR
scharf zum Gehilfen.
Konto für Bauverein.
HERR
Es kommt noch mehr.
DIREKTOR
Immer herein, meine Herrschaften. Wir können gerade gebrauchen.
HERR
Also: sechzigtausend — fünfzig Mille Papier — zehn Mille Gold.
KASSIERER
zählt.
DIREKTOR
nach einer Pause.
Sonst geht's noch gut?
HERR
zum Kassierer.
Jawohl, der Schein ist geflickt.
DIREKTOR
Wir nehmen ihn selbstverständlich. Wir werden ihn wieder los. Ich reserviere ihn für unsere Kundin aus Florenz. Sie trug ja auch Schönheitspflästerchen.
HERR
Es stecken aber tausend Mark dahinter.
DIREKTOR
Liebhaberwert.
HERR
unbändig lachend.
Liebhaberwert — das ist kolossal.
DIREKTOR
unter Tränen.
Liebhaberwert —
Er gibt ihm die Quittung des Kassierers.
Ihre Quittung.
Erstickend.
Sechzig — tau — —
HERR
nimmt, liest sie, ebenso.
Sechzig — tau — —
DIREKTOR
Liebhaber —
HERR
Lieb — —
Sie reichen sich die Hände.
DIREKTOR
Wir sehen uns heute abend.
HERR
nickend.
Liebhaber —
Er knöpft seinen Mantel, kopfschüttelnd ab.
DIREKTOR
steht noch, wischt sich die Tränen hinter dem Kneifer. Dann links hinein.
KASSIERER
bündelt die zuletzt erhaltenen Scheine und rollt die Münzen.
DIREKTOR
kommt zurück.
Diese Dame aus Florenz — die aus Florenz kommen will — ist Ihnen schon einmal eine Erscheinung wie diese vorm Schalter aufgetaucht? Pelz — parfümiert. Das riecht nachträglich, man zieht mit der Luft Abenteuer ein! — — Das ist die große Aufmachung. Italien, das wirkt verblüffend — märchenhaft. Riviera — Mentone — Bordighera — Nizza — Monte Carlo! Ja, wo Orangen blühen, da blüht auch der Schwindel. Von Schwindel ist da unten kein Quadratmeter Erdboden frei. Dort wird der Raubzug arrangiert. Die Gesell[S. 24]schaft verstreut sich in alle Winde. Nach den kleineren Plätzen — abseits der großen Heerstraße — schlägt man sich am liebsten. Dann schäumend in Pelz und Seide. Weiber! Das sind die modernen Sirenen. Singsang vom blauen Süden — o bella Napoli. Verfänglicher Augenaufschlag — und man ist geplündert bis auf das Netzhemd. Bis auf die nackte Haut — die nackte, nackte Haut!
Er trommelt mit seinem Bleistift dem Kassierer den Rücken.
Ich zweifle keinen Augenblick, daß die Bank in Florenz, die den Brief ausgestellt hat, so wenig von dem Brief etwas weiß — wie der Papst den Mond bewohnt. Das Ganze ist Schwindel, von langer Hand vorbereitet. Und seine Urheber sitzen nicht in Florenz, sondern Monte Carlo! Das kommt zuerst in Frage. Verlassen Sie sich drauf. Wir haben hier eine jener Existenzen gesehen, die im Sumpf des Spielpalastes gedeihen. Und ich gebe mein zweites Wort darauf, daß wir sie nicht wiedersehen. Der erste Versuch ist mißglückt, die Person wird sich vor dem zweiten hüten! — Wenn ich auch meine Späße mache — dabei bin ich scharfäugig. Wir vom Bankgeschäft! — Ich hätte eigentlich unserm Polizeileutnant Werde einen Wink geben sollen! — Es geht mich ja weiter nichts an. Schließlich ist die Bank zu Stillschweigen verpflichtet.
An der Tür.
Verfolgen Sie mal in den auswärtigen Zeitungen: wenn Sie von einer Hochstaplerin lesen, die hinter Schloß und Riegel sichergesetzt ist, dann wollen wir uns wieder sprechen. Dann werden Sie mir recht geben. Dann werden wir von unserer Freundin aus Florenz mehr hören — als wir heute oder morgen hier wieder von ihrem Pelz zu sehen bekommen!
Ab.
KASSIERER
siegelt Rollen.
PORTIER
mit Briefen von rechts, sie dem Gehilfen reichend.
Eine Quittung für eine Einschreibesendung bekomme ich wieder.
GEHILFE
stempelt den Zettel, gibt ihn an den Portier.
PORTIER
stellt noch Glas und Wasserflasche auf dem Tisch zurecht. Ab.
GEHILFE
trägt die Briefe in das Direktorzimmer — kommt wieder.
DAME
kehrt zurück; rasch an den Schalter.
Ach Pardon.
KASSIERER
streckt die flache Hand hin.
DAME
stärker.
Pardon.
KASSIERER
klopft.
DAME
Ich möchte den Herrn Direktor nicht nochmal stören.
KASSIERER
klopft.
DAME
in Verzweiflung lächelnd.
Hören Sie bitte, ist das nicht möglich: ich hinterlasse der Bank den Brief über den ganzen Betrag und empfange einen Vorschuß von dreitausend?
KASSIERER
klopft ungeduldig.
DAME
Ich bin eventuell bereit, meine Brillanten als Unterpfand auszuhändigen. Die Steine wird Ihnen jeder Juwelier in der Stadt abschätzen.
Sie streift einen Handschuh ab und nestelt am Armband.
DIENSTMÄDCHEN
rasch von rechts, setzt sich ins Rohrsofa und sucht, alles auswühlend, im Marktkorb.
DAME
hat sich schwach erschreckend umgedreht: sich aufstützend sinkt ihre Hand auf die Hand des Kassierers.
KASSIERER
dreht sich über die Hand in seiner Hand. Jetzt ranken seine Brillenscheiben am Handgelenk aufwärts.
DIENSTMÄDCHEN
findet aufatmend den Schein.
DAME
nickt hin.
DIENSTMÄDCHEN
ordnet im Korb.
DAME
sich dem Kassierer zuwendend — trifft in sein Gesicht.
KASSIERER
lächelt.
DAME
zieht ihre Hand zurück.
Ich will die Bank nicht zu Leistungen veranlassen, die sie nicht verantworten kann.
Sie legt das Armband an, müht sich an der Schließe. Dem Kassierer den Arm hinstreckend.
Würden Sie die Freundlichkeit haben — ich bin nicht geschickt genug mit einer Hand nur.
KASSIERER
Büsche des Bartes wogen — Brille sinkt in blühende Höhlen eröffneter Augen.
DAME
zum Dienstmädchen.
Sie helfen mir, Fräulein.
DIENSTMÄDCHEN
tut es.
DAME
Noch die Sicherheitskette.
Mit einem kleinen Schrei.
Sie stechen ja in mein offenes Fleisch. So hält es. Vielen Dank, Fräulein.
Sie grüßt noch den Kassierer. Ab.
DIENSTMÄDCHEN
am Schalter, legt ihren Schein hin.
KASSIERER
greift ihn in wehenden Händen. Lange sucht er unter der Platte. Dann zahlt er aus.
DIENSTMÄDCHEN
sieht das aufgezählte Geld an; dann zum Kassierer.
Das bekomme ich doch nicht?
KASSIERER
schreibt.
GEHILFE
wird aufmerksam.
DIENSTMÄDCHEN
zum Gehilfen.
Es ist doch mehr.
GEHILFE
sieht zum Kassierer.
KASSIERER
streicht einen Teil wieder ein.
DIENSTMÄDCHEN
Immer noch zuviel!
KASSIERER
schreibt.
DIENSTMÄDCHEN
steckt kopfschüttelnd das Geld in den Korb. Ab.
KASSIERER
durch Heiserkeit sträubt sich der Laut herauf.
Holen Sie — Glas Wasser!
GEHILFE
geht aus dem Schalter zum Tisch.
KASSIERER
Das ist abgestanden. Frisches — von der Leitung.
GEHILFE
geht mit dem Glas in die Stahlkammer.
KASSIERER
behende nach einem Klingelknopf — drückt.
PORTIER
kommt.
KASSIERER
Holen Sie frisches Wasser.
PORTIER
Ich darf nicht von der Tür draußen weg.
KASSIERER
Für mich. Das ist Jauche. Ich will Wasser von der Leitung.
PORTIER
mit der Wasserflasche in die Stahlkammer.
KASSIERER
stopft mit schnellen Griffen die zuletzt gehäuften Scheine und Geldrollen in seine Taschen. Dann nimmt er den Mantel vom Haken, wirft ihn über den Arm. Noch den Hut. Er verläßt den Schalter — und geht rechts ab.
DIREKTOR
in einen Brief vertieft links herein.
Da ist ja die Bestätigung von Florenz eingetroffen!
GEHILFE
mit dem Glas Wasser aus der Stahlkammer.
PORTIER
mit der Wasserflasche aus der Stahlkammer.
DIREKTOR
bei ihrem Anblick.
Zum Donnerwetter, was heißt denn das?
Hotelschreibzimmer. Hinten Glastür. Links Schreibtisch mit Telefonapparat. Rechts Sofa, Sessel mit Tisch mit Zeitschriften usw.
DAME
schreibt.
SOHN
in Hut und Mantel kommt — im Arm großen flachen Gegenstand in ein Tuch gehüllt.
DAME
überrascht.
Du hast es?
SOHN
Unten sitzt der Weinhändler. Der schnurrige Kopf beargwöhnt mich, ich brenne ihm aus.
DAME
Am Morgen war er doch froh, es loszuwerden.
SOHN
Jetzt wittert er wohl allerhand.
DAME
Du wirst ihn aufmerksam gemacht haben.
SOHN
Ich habe mich ein bißchen gefreut.
DAME
Das muß Blinde sehend machen!
SOHN
Sie sollen auch die Augen aufreißen. Aber beruhige Dich, Mama, der Preis ist derselbe wie am Morgen.
DAME
Wartet der Weinhändler?
SOHN
Den lassen wir warten.
DAME
Ich muß dir leider mitteilen —
SOHN
küßt sie.
Also Stille. Feierliche Stille. Du blickst erst hin, wenn ich dich dazu auffordere.
Er wirft Hut und Mantel ab, stellt das Bild auf einen Sessel und lüftet das Tuch.
DAME
Noch nicht?
SOHN
sehr leise.
Mama.
DAME
dreht sich im Stuhl um.
SOHN
kommt zu ihr, legt seinen Arm um ihre Schultern.
Nun?
DAME
Das ist allerdings nicht für eine Weinstube!
SOHN
Es hing auch gegen die Wand gedreht. Auf die Rückseite hatte der Mann seine Photographie gepappt.
DAME
Hast du die mitgekauft?
SOHN
lacht.
Wie findest du es?
DAME
Ich finde es — sehr naiv.
SOHN
Köstlich — nicht wahr? Für einen Cranach fabelhaft.
DAME
Willst du es als Bild so hochschätzen?
SOHN
Als Bild selbstverständlich! Aber daneben das Merkwürdige der Darstellung. Für Cranach — und für die Behandlung des Gegenstandes in der gesamten Kunst überhaupt. Wo findest du das? Pitti — Uffizien — die Vatikanischen? Der Louvre ist ja ganz schwach darin. Wir haben hier zweifellos die erste und einzige erotische Figuration des ersten Menschenpaares. Hier liegt noch der Apfel im Gras — aus dem unsäglichen Laubgrün lugt die Schlange — der Vorgang spielt sich also im Paradies selbst ab und nicht nach der Verstoßung.[S. 34] Das ist der wirkliche Sündenfall! — Ein Unikum. Cranach hat ja Dutzend Adam und Eva gemalt — steif — mit dem Zweige in der Mitte — und vor allem die zwei getrennt. Es heißt da: sie erkannten sich. Hier jubelt zum erstenmal die selige Menschheitsverkündung auf: sie liebten sich! Hier zeigt sich ein deutscher Meister als Erotiker von südlichster, allersüdlichster Emphatik!
Vor dem Bild.
Dabei diese Beherrschtheit noch in der Ekstase. Diese Linie des männlichen Armes, die die weibliche Hüfte überschneidet. Die Horizontale der unten gelagerten Schenkel und die Schräge des andern Schenkelpaares. Das ermüdet das Auge keinen Moment. Das erzeugt Liebe im Hinsehen — der Fleischton leistet natürlich die wertvollste Hilfe. Geht es dir nicht ebenso?
DAME
Du bist wie dein Bild naiv.
SOHN
Was meinst du damit?
DAME
Ich bitte dich, das Bild im Hotel in deinem Zimmer zu verbergen.
SOHN
Zu Hause wird es ja erst mächtig auf mich wirken. Florenz und dieser Cranach. Der Abschluß[S. 35] meines Buches wird natürlich weit hinausgeschoben. Das muß verarbeitet sein. Das muß aus eigenem Fleisch und Blut zurückströmen, sonst versündigt sich der Kunsthistoriker. Augenblicklich fühle ich mich ziemlich erschlagen. — Auf der ersten Station dieser Reise das Bild zu finden!
DAME
Du vermutetest es doch mit Sicherheit.
SOHN
Aber vor dem Ereignis steht man doch geblendet. Ist es nicht zum Verrücktwerden? Mama, ich bin ein Glücksmensch!
DAME
Du ziehst die Resultate aus deinen eingehenden Studien.
SOHN
Und ohne deine Hilfe? Ohne deine Güte?
DAME
Ich finde mein Glück mit dir darin.
SOHN
Du übst endlose Nachsicht mit mir. Ich reiße dich aus deinem schönen, ruhigen Leben in Fiesole. Du bist Italienerin, ich hetze dich durch Deutschland mitten im Winter. Du übernachtest im Schlafwagen — Hotels zweiter, dritter Güte — schlägst dich mit allerhand Leuten herum —
DAME
Das habe ich allerdings reichlich gekostet!
SOHN
Ich verspreche dir, mich zu beeilen. Ich bin ja selbst ungeduldig, den Schatz in Sicherheit zu bringen. Um drei reisen wir. Willst du mir die Dreitausend geben?
DAME
Ich habe sie nicht.
SOHN
Der Besitzer des Bildes ist im Hotel.
DAME
Die Bank konnte sie mir nicht auszahlen. Von Florenz muß sich die Benachrichtigung verzögert haben.
SOHN
Ich habe die Bezahlung zugesagt.
DAME
Dann mußt du ihm das Bild wieder ausliefern, bis die Bank Auftrag erhält.
SOHN
Läßt sich das nicht beschleunigen?
DAME
Ich habe hier ein Telegramm aufgesetzt, daß ich jetzt besorgen lasse. Wir sind ja schnell gereist —
KELLNER
klopft an.
DAME
Bitte.
KELLNER
Ein Herr von der Bank wünscht gnädige Frau zu sprechen.
DAME
zum Sohn.
Da wird mir das Geld schon ins Hotel geschickt.
Zum Kellner.
Ich bitte.
KELLNER
ab.
SOHN
Du rufst mich, wenn du mir das Geld geben kannst. Ich lasse den Mann nicht gern wieder aus dem Hotel gehen.
DAME
Ich telephoniere dir.
SOHN
Ich sitze unten.
Ab.
DAME
schließt die Schreibmappe.
Kellner und Kassierer erscheinen hinter der Glastür. Kassierer überholt den Kellner, öffnet; Kellner kehrt um, ab.
KASSIERER
noch Mantel überm Arm — tritt ein.
DAME
zeigt nach einem Sessel und setzt sich ins Sofa.
KASSIERER
den Mantel bei sich, auf dem Sessel.
DAME
Bei der Bank ist —
KASSIERER
sieht das Bild.
DAME
Dies Bild steht in enger Beziehung zu meinem Besuch auf der Bank.
KASSIERER
Sie?
DAME
Entdecken Sie Ähnlichkeiten?
KASSIERER
lächelnd.
Am Handgelenk!
DAME
Sind Sie Kenner?
KASSIERER
Ich wünsche — mehr kennenzulernen!
DAME
Interessieren Sie diese Bilder?
KASSIERER
Ich bin im Bilde!
DAME
Finden sich noch Stücke bei Besitzern in der Stadt? Sie würden mir einen Dienst erweisen. Das ist mir ja wichtiger — so wichtig wie das Geld!
KASSIERER
Geld habe ich.
DAME
Am Ende wird die Summe nicht genügen, über die ich meinen Brief ausstellen ließ.
KASSIERER
packt die Scheine und Rollen aus.
Das ist genug!
DAME
Ich kann nur zwölftausend erheben.
KASSIERER
Sechzigtausend!
DAME
Auf welche Weise?
KASSIERER
Meine Angelegenheit.
DAME
Wie soll ich —?
KASSIERER
Wir reisen.
DAME
Wohin?
KASSIERER
Über die Grenze. Packen Sie Ihren Koffer — wenn Sie einen haben. Sie reisen vom Bahnhof ab — ich laufe bis zur nächsten Station zu Fuß und steige zu. Wir logieren zum ersten Male — — Kursbuch?
Er findet es auf dem Tische.
DAME
Bringen Sie mir denn von der Bank über dreitausend?
KASSIERER
beschäftigt.
Ich habe sechzigtausend eingesteckt. Fünfzigtausend in Scheinen — zehntausend in Gold.
DAME
Davon gehören mir —?
KASSIERER
bricht eine Rolle auf und zählt fachmännisch die Stücke in eine Hand vor, dann auf den Tisch hin.
Nehmen Sie. Stecken Sie fort. Wir könnten belauscht sein. Die Tür hat Glasscheiben. Fünfhundert in Gold.
DAME
Fünfhundert?
KASSIERER
Später mehr. Wenn wir in Sicherheit sind. Hier dürfen wir nichts sehen lassen. Vorwärts. Ein[S. 41]kassiert. Für Zärtlichkeiten ist diese Stunde nicht geeignet, sie dreht rasend ihre Speichen, in denen jeder Arm zermalmt wird, der eingreift!
Er springt auf.
DAME
Ich brauche dreitausend.
KASSIERER
Wenn sie die Polizei in Ihrer Tasche findet, sind Sie hinter Schloß und Riegel gesetzt!
DAME
Was geht es die Polizei an?
KASSIERER
Sie erfüllten den Kassenraum. An Sie hakt sich der Verdacht, und unsere Verkettung liegt zutage.
DAME
Ich betrat den Kassenraum —
KASSIERER
Unverfroren.
DAME
Ich forderte —
KASSIERER
Sie versuchten.
DAME
Ich suchte —
KASSIERER
— die Bank zu prellen, als Sie Ihren gefälschten Brief präsentierten.
DAME
aus ihrer Handtasche den Brief nehmend.
Dieser Brief ist nicht echt?
KASSIERER
So unecht wie Ihre Brillanten.
DAME
Ich bot meine Wertsachen als Pfand an. Warum sind meine Pretiosen Imitationen?
KASSIERER
Damen Ihres Schlages blenden nur.
DAME
Von welchem Schlage bin ich denn? Schwarzhaarig — mein Teint ist dunkel. Ich bin südlicher Schlag. Toskana.
KASSIERER
Monte Carlo!
DAME
lächelt.
Nein, Florenz!
KASSIERER
sein Blick stürzt auf Hut und Mantel des Sohnes.
Komme ich zu spät?
DAME
Zu spät?
KASSIERER
Wo ist er? Ich werde mit ihm verhandeln. Er wird mit sich handeln lassen. Ich habe Mittel.[S. 43] Wieviel soll ich ihm bieten? Wie hoch veranschlagen Sie die Entschädigung? Wieviel stopfe ich ihm in die Tasche? Ich steigere bis zu fünfzehntausend! — Schläft er? Rekelt er sich im Bett? Wo ist Euer Zimmer? Zwanzigtausend — fünftausend mehr für unverzögerten Abstand!
Er rafft Hut und Mantel vom Sessel.
Ich bringe ihm seine Sachen.
DAME
verwundert.
Der Herr sitzt im Vestibül.
KASSIERER
Das ist zu gefährlich. Es ist belebt unten. Rufen Sie ihn herauf. Ich setze ihn hier matt. Klingeln Sie. Der Kellner soll fliegen. Zwanzigtausend — in Scheinen!
Er zählt auf.
DAME
Kann mein Sohn mich legitimieren?
KASSIERER
prallt zurück.
Ihr — — Sohn?!
DAME
Ich reise mit ihm. Ich begleite ihn auf einer Studienreise, die uns von Florenz nach Deutschland führt. Mein Sohn sucht Material für sein kunsthistorisches Werk.
KASSIERER
starrt sie an.
— — Sohn?!
DAME
Ist das so ungeheuerlich?
KASSIERER
wirr.
Dies — — Bild?!
DAME
Ist sein glücklicher Fund. Mit dreitausend bezahlt es mein Sohn. Das sind die von mir sehnlich gewünschten Dreitausend. Ein Weingroßhändler — den Sie ja kennen werden, wenn Sie seinen Namen hören — überläßt es ihm zu diesem Preis.
KASSIERER
— — Pelz — — Seide — — es schillerte und knisterte — — die Luft wogte von allen Parfümen!
DAME
Es ist Winter. Ich trage nach meinen Begriffen keine besondere Kleidung.
KASSIERER
Der falsche Brief?!
DAME
Ich bin im Begriff, an meine Bank zu depeschieren!
KASSIERER
Ihr Handgelenk nackt — — um das ich die Kette ranken sollte?!
DAME
Die linke Hand allein ist ungeschickt.
KASSIERER
dumpf.
Ich habe — — das Geld eingesteckt — — — —
DAME
belustigt.
Sind Sie und die Polizei nun zufrieden? Mein Sohn ist wissenschaftlich nicht unbekannt.
KASSIERER
Jetzt — — in diesem Moment werde ich vermißt. Ich hatte Wasser für mich bestellt, um den Gehilfen zu entfernen — zweimal Wasser, um die Tür vom Portier zu entblößen. Die Noten und Rollen sind verschwunden. Ich habe defraudiert! — — Ich darf mich nicht in den Straßen — auf dem Markt sehen lassen. Ich darf den Bahnhof nicht betreten. Die Polizei ist auf den Beinen. Sechzigtausend! — — Ich muß übers Feld — quer durch den Schnee, bevor die Gendarmen alarmiert sind!
DAME
entsetzt.
Schweigen Sie doch!
KASSIERER
Ich habe alles Geld eingesteckt — — Sie erfüllten den Kassenraum — — Sie schillerten und knisterten[S. 46] — — Sie senkten Ihre nackte Hand in meine — — Sie rochen heiß — — Ihr Mund roch — —
DAME
Ich bin eine Dame!
KASSIERER
stier.
Jetzt müssen Sie doch — —!!
DAME
sich bezwingend.
Sind Sie verheiratet?
Auf seine schwingende Geste.
Ich meine, das gilt sehr viel. Wenn ich es nicht überhaupt als einen Scherz auffassen soll. Sie haben sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen. Sie reparieren den Schaden. Sie kehren in Ihren Schalter zurück und schützen ein momentanes Unwohlsein vor. Sie haben den vollen Betrag noch bei sich?
KASSIERER
Ich habe mich an der Kasse vergriffen —
DAME
schroff.
Das interessiert mich dann nicht weiter.
KASSIERER
Ich habe die Bank geplündert —
DAME
Sie belästigen mich, mein Herr.
KASSIERER
Jetzt müssen Sie — —
DAME
Was ich müßte —
KASSIERER
Jetzt müssen Sie doch!!
DAME
Lächerlich.
KASSIERER
Ich habe geraubt, gestohlen. Ich habe mich ausgeliefert — ich habe meine Existenz vernichtet — alle Brücken sind gesprengt — ich bin ein Dieb — Räuber — —
Über den Tisch geworfen.
Jetzt müssen Sie doch — — jetzt müssen Sie doch!!!
DAME
Ich werde Ihnen meinen Sohn rufen, vielleicht — —
KASSIERER
verändert, agil.
Jemanden rufen? Allerweltsleute rufen? Alarm schlagen? Großartig! — Dumm. Plump. Mich fangen sie nicht ein. In die Falle trete ich nicht. Ich habe meinen Witz, meine Herrschaften. Euer Witz tappt hinterher — ich immer zehn Kilometer[S. 48] voraus. Rühren Sie sich nicht. Stillgesessen, bis ich —
Er steckt das Geld ein, drückt den Hut ins Gesicht, preßt den Mantel auf die Brust.
Bis ich —
Behende geräuschlos durch die Glastür ab.
DAME
steht verwirrt.
SOHN
kommt.
Der Herr von der Bank ging aus dem Hotel. Du bist erregt, Mama. Ist das Geld —
DAME
Die Unterhaltung hat mich angestrengt. Geldsachen, Jungchen. Du weißt, es reizt mich immer etwas.
SOHN
Sind Schwierigkeiten entstanden, die die Auszahlung wieder aufhalten?
DAME
Ich müßte es dir vielleicht doch sagen —
SOHN
Muß ich das Bild zurückgeben?
DAME
An das Bild denke ich nicht.
SOHN
Das geht uns doch am meisten an.
DAME
Ich glaube, ich muß sogleich eine Anzeige erstatten.
SOHN
Was für eine Anzeige?
DAME
Die Depesche besorge. Ich muß unter allen Umständen von meiner Bank eine Bestätigung in Händen haben.
SOHN
Genügt dein Bankbrief nicht?
DAME
Nein. Nicht ganz. Geh nach dem Telegraphenamt. Ich möchte den Portier nicht mit der offenen Depesche schicken.
SOHN
Und wann kommt nun das Geld?
Das Telephon schrillt.
DAME
Da werde ich schon angerufen.
Am Apparat.
Ist eingetroffen. Ich soll selbst abheben. Gern. Aber bitte, Herr Direktor. Ich bin gar nicht aufgebracht. Florenz ist weit. Ja, die Post in Italien. Wie? Warum? Wie? Ja, warum? Ach[S. 50] so — via Berlin, das ist allerdings ein großer Umweg. — Mit keinem Gedanken. Danke, Herr Direktor. In zehn Minuten. Adieu.
Zum Sohn.
Erledigt, Junge. Meine Depesche ist überflüssig geworden.
Sie zerreißt das Formular.
Du hast dein Bild. Dein Weinhändler begleitet uns. Er nimmt auf der Bank den Betrag in Empfang. Verpacke deinen Schatz. Von der Bank fahren wir zum Bahnhof.
Telephonierend, während Sohn das Bild verhüllt.
Ich bitte um die Rechnung. Zimmer vierzehn und sechzehn. Sehr eilig. Bitte.
Verschneites Feld mit Baum mit tiefreichender Astwirrnis. Blauschattende Sonne.
KASSIERER
kommt, rückwärts gehend. Er schaufelt mit den Händen seine Spur zu. Sich aufrichtend.
Solch ein Mensch ist doch ein Wunderwerk. Der Mechanismus klappt in Scharnieren — lautlos. Plötzlich sind Fähigkeiten ermittelt und mit Schwung tätig. Wie gebärden sich meine Hände? Wo haben sie Schnee geschippt? Jetzt wuchten sie die Massen, daß die Flocken stäuben. Überdies ist meine Spur über das Schneefeld wirkungsvoll verwischt. Erzielt ist ein undurchsichtiges Inkognito!
Er streift die erweichten Manschetten ab.
Nässe und Frost begünstigen scharfe Erkältungen. Unversehens bricht Fieber aus und beeinflußt die Entschlüsse. Man verliert die Kontrolle über seine Handlungen, und aufs Krankenbett geworfen, ist man geliefert!
Er knöpft die Knöpfe heraus und schleudert die Manschetten weg.
Ausgedient. Da liegt. Ihr werdet in der Wäsche fehlen. Das Lamento plärrt durch die Küche: ein Paar Manschetten fehlt. Katastrophe im Waschkessel. Weltuntergang!
Er sammelt die Manschetten wieder auf und stopft sie in die Manteltaschen.
Toll: da arbeitet mein Witz schon wieder. Mit unfehlbarer Sicherheit. Ich quäle mich mit dem zerstampften Schnee ab und verrate mich mit zwei leichtsinnig verschleuderten Wäschestücken. Meist ist es eine Kleinigkeit — ein Versehen — eine Flüchtigkeit, die den Täter feststellt. Hopla!
Er sucht sich einen bequemen Sitz in einer Astgabel.
Ich bin doch neugierig. Meine Spannung ist gewaltig geschwollen. Ich habe Grund, mich auf die wichtigsten Entdeckungen gefaßt zu machen. Im Fluge gewonnene Erfahrungen stehen mir zur Seite. Am Morgen noch erprobter Beamter. Man vertraut mir runde Vermögen an, der Bauverein deponiert Riesensummen. Mittags ein durchtriebener Halunke. Mit allen Wassern gewaschen. Die Technik der Flucht bis in die Details durchgebildet. Das Ding gedreht und hin. Fabelhafte Leistung. Und der Tag erst zur Hälfte bezwungen!
Er stützt das Kinn auf die Faustrücken.
Ich bin bereit, jedem Vorfall eine offene Brust zu bieten. Ich besitze untrügliche Zeichen, keinem Anspruch die Antwort schuldig zu bleiben. Ich bin auf dem Marsche — Umkehr findet nicht statt. Ich marschiere — also ohne viel Federlesen heraus mit den Trümpfen. Ich habe sechzigtausend auf die Karte gesetzt — und erwarte den Trumpf. Ich spiele zu hoch, um zu verlieren. Keine Flausen — aufgedeckt und heda! Verstanden?
Er lacht ein krächzendes Gelächter.
Jetzt müssen Sie, schöne Dame. Ihr Stichwort, seidene Dame. Bringen Sie es doch, schillernde Dame, Sie lassen ja die Szene unter den Tisch fallen. Dummes Luder. Und sowas spielt Komödie. Kommt euren natürlichen Verpflichtungen nach, zeugt Kinder — und belästigt nicht die Souffleuse! Verzeihung, Sie haben ja einen Sohn. Sie sind vollständig legitimiert. Ich liquidiere meine Verdächtigungen. Leben Sie wohl und grüßen Sie den Direktor. Seine Kalbsaugen werden Sie mit einem eklen Schleim bestreichen, aber machen Sie sich nichts draus. Der Mann ist um sechzigtausend geprellt, der Bauverein wird ihm das Dach neu beschindeln. Das klappert erbärmlich. Ich entbinde Sie aller Verpflichtungen gegen mich, Sie sind entlassen, Sie können gehen. — Halt! Nehmen Sie meinen Dank auf den Weg — in die Eisenbahn! — Was? Keine Ursache? — Ich denke, bedeutende! Nicht der Rede wert? — Sie scherzen, Ihr Schuldner! Wieso? — Ich verdanke Ihnen das Leben! — Um Himmels willen! — Ich übertreibe! Mich haben Sie, knisternd, aufgelockert. Ein Sprung hinter Sie drein stellt mich in den Brennpunkt unerhörter Geschehnisse. Und mit der Fracht in der Brusttasche zahle ich alle Begünstigungen bar!
Mit einer nachlässigen Geste.
Verduften Sie jetzt, Sie sind bereits überboten und können bei beschränkten Mitteln — ziehen[S. 54] Sie sich Ihren Sohn zu Gemüte — auf keinen Zuschlag hoffen!
Er holt das Banknotenbündel aus der Tasche und klatscht es auf die Hand.
Ich zahle bar! Der Betrag ist flüssig gemacht — Regulierung läuft dem Angebot voraus. Vorwärts, was bietet sich?
Er sieht in das Feld.
Schnee. Schnee. Sonne. Stille.
Er schüttelt den Kopf und steckt das Geld ein.
Es wäre eine schamlose Übervorteilung — mit dieser Summe blauen Schnee zu bezahlen. Ich mache das Geschäft nicht. Ich trete vor dem Abschluß zurück. Keine reelle Sache!
Die Arme aufwerfend.
Ich muß bezahlen!! — — Ich habe das Geld bar!! — — Wo ist Ware, die man mit dem vollen Einsatz kauft?! Mit sechzigtausend — und dem ganzen Käufer mit Haut und Knochen?! — —
Schreiend.
Ihr müßt mir doch liefern — — ihr müßt doch Wert und Gegenwert in Einklang bringen!!!!
Sonne von Wolken verfinstert. Er steigt aus der Gabel.
Die Erde kreißt — Frühlingsstürme. Es macht sich, es macht sich. Ich wußte, daß ich nicht umsonst gerufen habe. Die Aufforderung war dringend. Das Chaos ist beleidigt, es will sich nicht vor meiner eingreifenden Tat am Vormittag blamieren. Ich wußte es ja, man darf in solchen[S. 55] Fällen nicht locker lassen. Hart auf den Leib rücken — und das Mäntelchen vom Leib, dann zeigt sich was! — Vor wem lüfte ich denn so höflich meinen Hut?
Sein Hut ist ihm entrissen. Der Orkan hat den Schnee von den Zweigen gepeitscht: Reste in der Krone haften und bauen ein menschliches Gerippe mit grinsenden Kiefern auf. Eine Knochenhand hält den Hut.
Hast du die ganze Zeit hinter mir gesessen und mich belauscht? Bist du ein Abgesandter der Polizei? Nicht in diesem lächerlich beschränkten Sinne. Umfassend: Polizei des Daseins? — Bist du die erschöpfende Antwort auf meine nachdrückliche Befragung? Willst du mit deiner einigermaßen reichlich durchlöcherten Existenz andeuten: das abschließende Ergebnis — deine Abgebranntheit? — Das ist etwas dürftig. Sehr dürftig. Nämlich nichts! — Ich lehne die Auskunft als nicht lückenlos ab. Ich danke für die Bedienung. Schließen Sie Ihren Laden mit alten Knochen. Ich bin nicht der erste beste, der sich beschwatzen läßt! — Der Vorgang wäre ja ungeheuer einfach. Sie entheben der weiteren Verwickelungen. Aber ich schätze Komplikationen höher. Leben Sie wohl — wenn Sie das in Ihrer Verfassung können! — Ich habe noch einiges zu erledigen. Wenn man unterwegs ist, kann man nicht in jede Haustür eintreten. Auch auf die freundlichste Einladung nicht. Ich sehe bis zum Abend noch eine[S. 56] ganze Menge Verpflichtungen vor mir. Sie können unmöglich die erste sein. Vielleicht die letzte. Aber auch dann nur notgedrungen. Vergnügen macht es mir nicht. Aber, wie gesagt, notgedrungen — darüber läßt sich reden. Rufen Sie mich gegen Mitternacht nochmals an. Wechselnde Telephonnummer beim Amt zu erfragen! — Verzeihung, ich rede dich mit Sie an. Wir stehen doch wohl auf du und du. Die Verwandtschaft bezeugt sich innigst. Ich glaube sogar, du steckst in mir drin. Also winde dich aus dem Astwerk los, das dich von allen Seiten durchsticht, und rutsche in mich hinein. Ich hinterlasse in meiner zweideutigen Lage nicht gern Spuren. Vorher gib mir meinen Hut wieder!
Er nimmt den Hut vom Ast, den der Sturm ihm jetzt entgegenbiegt — verbeugt sich.
Ich sehe, wir haben bis zu einem annehmbaren Grade eine Verständigung erzielt. Das ist ein Anfang, der Vertrauen einflößt und im Wirbel kommender großartiger Ereignisse den nötigen Rückhalt schafft. Ich weiß das unbedingt zu würdigen. Mit vorzüglicher Hochachtung — —
Donner rollt. Ein letzter Windstoß fegt auch das Gebilde aus dem Baum. Sonne bricht durch. Es ist hell wie zu Anfang.
Ich sagte doch gleich, daß die Erscheinung nur vorübergehend war!
Er drückt den Hut in die Stirn, schlägt den Mantelkragen hoch und trabt durch den stäubenden Schnee weg.
Stube bei Kassierer. Fenster mit abgeblühten Geranien. Zwei Türen hinten, Tür rechts. Tisch und Stühle. Klavier.
Mutter sitzt am Fenster. Erste Tochter stickt am Tisch. Zweite Tochter übt die Tannhäuserouvertüre. Frau geht durch die Tür rechts hinten ein und aus.
MUTTER
Was spielst du jetzt?
ERSTE TOCHTER
Es ist doch die Tannhäuserouvertüre.
MUTTER
Die Weiße Dame ist auch sehr schön.
ERSTE TOCHTER
Die hat sie diese Woche nickt abonniert.
FRAU
kommt.
Es ist Zeit, daß ich die Koteletts brate.
ERSTE TOCHTER
Lange noch nicht, Mutter.
FRAU
Nein, es ist noch nicht Zeit, daß ich die Koteletts brate.
Ab.
MUTTER
Was stickst du jetzt?
ERSTE TOCHTER
Die Langetten.
FRAU
kommt zur Mutter.
Wir haben heute Koteletts.
MUTTER
Bratest du sie jetzt?
FRAU
Es hat noch Zeit. Es ist ja noch nicht Mittag.
ERSTE TOCHTER
Es ist ja noch lange nicht Mittag.
FRAU
Nein, es ist noch lange nicht Mittag.
MUTTER
Wenn er kommt, ist es Mittag.
FRAU
Er kommt noch nicht.
ERSTE TOCHTER
Wenn Vater kommt, ist es Mittag.
FRAU
Ja.
Ab.
ZWEITE TOCHTER
aufhörend, lauschend.
Vater?
ERSTE TOCHTER
ebenso.
Vater?
FRAU
kommt.
Mein Mann?
MUTTER
Mein Sohn?
ZWEITE TOCHTER
öffnet rechts.
Vater!
ERSTE TOCHTER
ist aufgestanden.
Vater!
FRAU
Der Mann!
MUTTER
Der Sohn!
KASSIERER
tritt rechts ein, hängt Hut und Mantel auf.
FRAU
Woher kommst du?
KASSIERER
Vom Friedhof.
MUTTER
Ist jemand plötzlich gestorben?
KASSIERER
klopft ihr auf den Rücken.
Man kann wohl plötzlich sterben, aber nicht plötzlich begraben werden.
FRAU
Woher kommst du?
KASSIERER
Aus dem Grabe. Ich habe meine Stirn durch Schollen gebohrt. Hier hängt noch Eis. Es hat besondere Anstrengungen gekostet, um durchzukommen. Ganz besondere Anstrengungen. Ich habe mir die Finger etwas beschmutzt. Man muß lange Finger machen, um hinauszugreifen. Man liegt tief gebettet. So ein Leben lang schaufelt mächtig. Berge sind auf einen getürmt. Schutt, Müll — es ist ein riesiger Abladeplatz. Die Gestorbenen liegen ihre drei Meter abgezählt unter der Oberfläche — die Lebenden verschüttet es immer tiefer.
FRAU
Du bist eingefroren — oben und unten.
KASSIERER
Aufgetaut! Von Stürmen — frühlinghaft — geschüttelt. Es rauschte und brauste — ich sage dir, es hieb mir das Fleisch herunter, und mein Gebein saß nackt. Knochen — gebleicht in Mi[S. 61]nuten. Schädelstätte! Zuletzt schmolz mich die Sonne wieder zusammen. Dermaßen von Grund auf geschah die Erneuerung. Da habt ihr mich.
MUTTER
Du bist im Freien gewesen?
KASSIERER
In scheußlichen Verliesen, Mutter! Unter abgrundsteilen Türmen bodenlos verhaftet. Klirrende Ketten betäubten das Gehör. Von Finsternis meine Augen ausgestochen!
FRAU
Die Bank ist geschlossen. Der Direktor hat mit euch getrunken. Es ist ein freudiges Ereignis in seiner Familie?
KASSIERER
Er hat eine neue Mätresse auf dem Korn. Italienerin — Pelz — Seide — wo die Orangen blühen. Handgelenke wie geschliffen. Schwarzhaarig — der Teint ist dunkel. Brillanten. Echt — alles echt. Tos — Tos — der Schluß klingt wie Kanaan. Hol' einen Atlas. Tos — Kanaan. Gibt es das? Ist es eine Insel? Ein Gebirge? Ein Sumpf? Die Geographie kann über alles Auskunft geben! Aber er wird sich schneiden. Glatt abfallen — abgebürstet werden wie ein Flocken. Da liegt er — zappelt auf dem Teppich — Beine[S. 62] kerzengerade in die Luft — das kugelfette Direktorchen!
FRAU
Die Bank hat nicht geschlossen?
KASSIERER
Niemals, Frau. Die Kerker schließen sich niemals. Der Zuzug hat kein Ende. Die ewige Wallfahrt ist unbegrenzt. Wie Hammelherden hopsen sie hinein — in die Fleischbank. Das Gewühl ist dicht. Kein Entrinnen — oder mit keckem Satz über den Rücken!
MUTTER
Dein Mantel ist auf dem Rücken zerrissen.
KASSIERER
Betrachtet meinen Hut. Ein Landstreicher!
ZWEITE TOCHTER
Das Futter ist zerfetzt.
KASSIERER
Greift in die Taschen — rechts — links!
ERSTE TOCHTER
zieht eine Manschette hervor.
ZWEITE TOCHTER
ebenso.
KASSIERER
Befund?
BEIDE TÖCHTER
Deine Manschetten.
KASSIERER
Ohne Knöpfe. Die Knöpfe habe ich hier. Triumph der Kaltblütigkeit! — — Paletot — Hut — ja, es geht ohne Fetzen nicht ab, wenn man über die Rücken setzt. Sie fassen nach einem — sie krallen Nägel ein! Hürden und Schranken — Ordnung muß herrschen. Gleichheit für alle. Aber ein tüchtiger Sprung — nicht gefackelt — und du bist aus dem Pferch — aus dem Göpelwerk. Ein Gewaltstreich, und hier stehe ich! Hinter mir nichts — und vor mir?
Er sieht sich im Zimmer um.
FRAU
starrt ihn an.
MUTTER
halblaut.
Er ist krank.
FRAU
mit raschem Entschluß zur Tür rechts.
KASSIERER
hält sie auf. Zu einer Tochter.
Hol' meine Jacke.
Tochter links hinten hinein, mit verschnürter Samtjacke zurück. Er zieht sie an.
Meine Pantoffeln.
Die andere Tochter bringt sie.
Mein Käppchen.
Tochter kommt mit gestickter Kappe.
Meine Pfeife.
MUTTER
Du sollst nicht rauchen, wenn du schon —
FRAU
beschwichtigt sie hastig.
— Soll ich dir anstecken?
KASSIERER
fertig häuslich gekleidet — nimmt am Tisch eine bequeme Haltung an.
Steck' an.
FRAU
immer sorgenvoll eifrig um ihn bemüht.
Zieht sie?
KASSIERER
mit der Pfeife beschäftigt.
Ich werde sie zur gründlichen Reinigung schicken müssen. Im Rohr sind wahrscheinlich Ansammlungen von unverbrauchten Tabakresten. Der Zug ist nicht frei von inneren Widerständen. Ich muß mehr, als eigentlich notwendig sein sollte, ziehen.
FRAU
Soll ich sie gleich forttragen?
KASSIERER
Nein, geblieben.
Mächtige Rauchwolken ausstoßend.
Annehmbar.
Zur zweiten Tochter.
Spiel'.
ZWEITE TOCHTER
auf das Zeichen der Frau setzt sich ans Klavier und spielt.
KASSIERER
Was ist das für ein Stück?
ZWEITE TOCHTER
atemlos.
Wagner.
KASSIERER
nickt zustimmend. Zur ersten Tochter.
Nähst — flickst — stopfst Du?
ERSTE TOCHTER
sich rasch hinsetzend.
Ich sticke Langetten.
KASSIERER
Praktisch. — Und Mutterchen, Du?
MUTTER
von der allgemeinen Angst angesteckt.
Ich nickte ein bißchen vor mich hin.
KASSIERER
Friedvoll.
MUTTER
Ja, mein Leben ist Frieden geworden.
KASSIERER
zur Frau.
Du?
FRAU
Ich will die Koteletts braten.
KASSIERER
nickt.
Die Küche.
FRAU
Ich brate dir deins jetzt.
KASSIERER
wie vorher.
Die Küche.
FRAU
ab.
KASSIERER
zur ersten Tochter.
Sperre die Türen auf.
ERSTE TOCHTER
stößt die Türen hinten zurück: rechts ist in der Küche die Frau am Herd beschäftigt, links die Schlafkammer mit den beiden Betten.
FRAU
in der Tür.
Ist dir sehr warm?
Wieder am Herd.
KASSIERER
herumblickend.
Alte Mutter am Fenster. Töchter am Tisch stickend[S. 67] — Wagner spielend. Frau die Küche besorgend. Von vier Wänden umbaut — Familienleben. Hübsche Gemütlichkeit des Zusammenseins. Mutter — Sohn — Kind versammelt sind. Vertraulicher Zauber. Er spinnt ein. Stube mit Tisch und Hängelampe. Klavier rechts. Kachelofen. Küche, tägliche Nahrung. Morgens Kaffee, mittags Koteletts. Schlafkammer — Betten, hinein — hinaus. Vertraulicher Zauber. Zuletzt — auf dem Rücken — steif und weiß. Der Tisch wird hier an die Wand gerückt — ein gelber Sarg streckt sich schräg, Beschläge abschraubbar — um die Lampe etwas Flor — ein Jahr wird nicht das Klavier gespielt — — —
ZWEITE TOCHTER
hört auf und läuft schluchzend in die Küche.
FRAU
auf der Schwelle, fliegend.
Sie übt noch an dem neuen Stück.
MUTTER
Warum abonniert sie nicht auf die Weiße Dame?
KASSIERER
verlöscht die Pfeife. Er beginnt sich wieder umzukleiden.
FRAU
Gehst du in die Bank? Du hattest einen Geschäftsweg?
KASSIERER
In die Bank — Geschäftsweg — nein.
FRAU
Wohin willst du jetzt?
KASSIERER
Schwerste Frage, Frau. Ich bin von wehenden Bäumen niedergeklettert, um eine Antwort aufzusuchen. Hier sprach ich zuerst vor. Es war doch selbstverständlich. Es ist ja alles wunderschön — unstreitbare Vorzüge verkleinere ich nicht, aber vor letzten Prüfungen besteht es nicht. Hier liegt es nicht — damit ist der Weg angezeigt. Ich erhalte ein klares Nein.
Er hat seinen früheren Anzug vollendet.
FRAU
zerrissen.
Mann, wie entstellt siehst du aus?
KASSIERER
Landstreicher. Ich sagte es ja. Scheltet nicht! Besser ein verwahrloster Wanderer auf der Straße — als Straßen leer von Wanderern!
FRAU
Wir essen jetzt zu Mittag.
KASSIERER
Koteletts, ich rieche sie.
MUTTER
Vor dem Mittagessen willst du —?
KASSIERER
Ein voller Magen macht schläfrig.
MUTTER
fuchtelt plötzlich mit den Armen durch die Luft, fällt zurück.
ERSTE TOCHTER
Die Großmutter —
ZWEITE TOCHTER
aus der Küche.
Großmutter —
Beide sinken an ihren Knien nieder.
FRAU
steht steif.
KASSIERER
tritt zum Sessel.
Daran stirbt sie, weil einer einmal vor dem Mittagessen weggeht.
Er betrachtet die Tote.
Schmerz? Trübsal? Tränengüsse, verschwemmend? Sind die Bande so eng geknüpft — daß, wenn sie zerrissen, im geballten Leid es sich erfüllt? Mutter — Sohn?
Er holt die Scheine aus der Tasche und wägt sie auf der Hand — schüttelt den Kopf und steckt sie wieder ein.
Keine vollständige Lähmung im Schmerz — kein Erfülltsein bis in die Augen. Augen trocken — Gedanken arbeiten weiter. Ich muß mich eilen, wenn ich zu gültigen Resultaten vorstoßen will!
Er legt sein abgegriffenes Portemonnaie auf den Tisch.
Sorgt. Es ist ehrlich erworbenes Gehalt. Die Erklärung kann von Wichtigkeit werden. Sorgt.
Er geht rechts hinaus.
FRAU
steht unbeweglich.
DIREKTOR
durch die offene Tür rechts.
Ist Ihr Mann zu Hause? — Ist Ihr Mann hierher gekommen? — Ich habe Ihnen leider die betrübende Mitteilung zu machen, daß er sich an der Kasse vergriffen hat. Wir haben seine Verfehlung schon seit einigen Stunden entdeckt. Es handelt sich um die Summe von sechzigtausend Mark, die der Bauverein deponierte. Die Anzeige habe ich in der Hoffnung noch zurückgehalten, daß er sich besinnen würde. — Dies ist mein letzter Versuch. Ich bin persönlich gekommen. — Ihr Mann ist nicht hier gewesen?
Er sieht sich um, gewahrt Jacke, Pfeife usw., alle offenen Türen.
Dem Anschein nach —
Seine Blicke haften auf der Gruppe am Fenster, nickt.
Ich sehe, die Dinge sind schon in ein vorgerücktes Stadium getreten. Dann allerdings —
Er zuckt die Achseln, setzt den Hut auf.
Es bleibt ein aufrichtiges, privates Bedauern, an dem es nicht fehlt — sonst die Konsequenzen.
Ab.
BEIDE TÖCHTER
nähern sich der Frau.
Mutter —
FRAU
ausbrechend.
Kreischt mir nicht in die Ohren. Glotzt mich nicht an. Was wollt ihr von mir? Wer seid ihr? Fratzen — Affengesichter — was geht ihr mich an?
Über den Tisch geworfen.
Mich hat mein Mann verlassen!!
BEIDE TÖCHTER
scheu — halten sich an den Händen.
Sportpalast. Sechstagerennen. Bogenlampenlicht.
Im Dunstraum rohgezimmerte freischwebende Holzbrücke. Die jüdischen Herren als Kampfrichter kommen und gehen. Alle sind ununterscheidbar: kleine bewegliche Gestalten, in Smoking, stumpfen Seidenhut im Nacken, am Riemen das Binokel.
Rollendes Getöse von Rädern über Bohlen.
Pfeifen, Heulen, Meckern geballter Zuschauermenge aus Höhe und Tiefe. Musikkapellen.
EIN HERR
kommend.
Ist alles vorbereitet?
EIN HERR
Sehen Sie doch.
EIN HERR
durchs Glas.
Die Blattpflanzen —
EIN HERR
Was ist mit den Blattpflanzen?
EIN HERR
Zweifellos.
EIN HERR
Was ist denn mit den Blattpflanzen?
EIN HERR
Wer hat denn das Arrangement gestellt?
EIN HERR
Sie haben recht.
EIN HERR
Das ist ja irrsinnig.
EIN HERR
Hat sich denn niemand um die Aufstellung gekümmert?
EIN HERR
Einfach lächerlich.
EIN HERR
Der Betreffende muß selbst blind sein.
EIN HERR
Oder schlafen.
EIN HERR
Das ist die einzig annehmbare Erklärung bei dieser Veranstaltung.
EIN HERR
Was reden Sie — schlafen? Wir fahren doch erst in der vierten Nacht.
EIN HERR
Die Kübel müssen mehr auf die Seite gerückt werden.
EIN HERR
Gehen Sie?
EIN HERR
Ganz an die Wände.
EIN HERR
Der Überblick muß frei auf die ganze Bahn sein.
EIN HERR
Die Loge muß offen liegen.
EIN HERR
Ich gehe mit.
Alle ab.
EIN HERR
kommt, feuert einen Pistolenschuß. Ab.
ZWEI HERREN
kommen mit einem rotlackierten Megaphon.
DER EINE HERR
Wie hoch ist die Prämie?
DER ANDERE HERR
Achtzig Mark. Dem ersten fünfzig. Dem zweiten dreißig.
DER EINE HERR
Drei Runden. Mehr nicht. Wir erschöpfen die Fahrer.
DER ANDERE HERR
spricht durch das Megaphon.
Eine Preisstiftung von achtzig Mark aus der Bar sofort auszufahren über drei Runden! dem ersten fünfzig Mark — dem zweiten dreißig Mark.
Händeklatschen.
MEHRERE HERREN
kommen, einer mit einer roten Fahne.
EIN HERR
Geben Sie den Start.
EIN HERR
Noch nicht, Nummer sieben wechselt die Mannschaft.
EIN HERR
Start.
EIN HERR
senkt die rote Fahne.
Anwachsender Lärm. Dann Händeklatschen und Pfeifen.
EIN HERR
Die Schwachen müssen auch mal gewinnen.
EIN HERR
Es ist gut, daß die Großen sich zurückhalten.
EIN HERR
Die Nacht wird ihnen noch zu schaffen machen.
EIN HERR
Die Aufregung unter den Fahrern ist ungeheuer.
EIN HERR
Es läßt sich denken.
EIN HERR
Passen Sie auf, diese Nacht fällt die Entscheidung.
EIN HERR
achselzuckend.
Die Amerikaner sind noch frisch.
EIN HERR
Unsere Deutschen werden ihnen schon auf den Zahn fühlen.
EIN HERR
Jedenfalls hätte sich dann der Besuch gelohnt.
EIN HERR
durchs Glas.
Jetzt ist die Loge klar.
Alle bis auf den Herrn mit dem Megaphon ab.
EIN HERR
mit einem Zettel.
Das Resultat.
DER HERR
durchs Megaphon.
Prämie aus der Bar: fünfzig Mark für Nummer elf, dreißig Mark für Nummer vier.
Musiktusch.
Pfeifen und Klatschen.
Die Brücke ist leer.
Ein Herr kommt mit Kassierer. Kassierer im Frack, Frackumhang, Zylinder, Glacés; Bart ist spitz zugestutzt; Haar tief gescheitelt.
KASSIERER
Erklären Sie mir den Sinn —
DER HERR
Ich stelle Sie vor.
KASSIERER
Mein Name tut nichts zur Sache.
DER HERR
Sie haben ein Recht, daß ich Sie mit dem Präsidium bekannt mache.
KASSIERER
Ich bleibe inkognito.
DER HERR
Sie sind ein Freund unsres Sports.
KASSIERER
Ich verstehe nicht das mindeste davon. Was machen die Kerle da unten? Ich sehe einen Kreis und die bunte Schlangenlinie. Manchmal mischt sich ein anderer ein und ein anderer hört auf. Warum?
DER HERR
Die Fahrer liegen paarweise im Rennen. Während ein Partner fährt —
KASSIERER
Schläft sich der andere Bengel aus?
DER HERR
Er wird massiert.
KASSIERER
Und das nennen Sie Sechstagerennen?
DER HERR
Wieso?
KASSIERER
Ebenso könnte es Sechstageschlafen heißen. Geschlafen wird ja fortwährend von einem Partner.
EIN HERR
kommt.
Die Brücke ist nur für die Leitung des Rennens erlaubt.
DER ERSTE HERR
Eine Stiftung von tausend Mark dieses Herrn.
DER ANDERE HERR
Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle.
KASSIERER
Keineswegs.
DER ERSTE HERR
Der Herr wünscht sein Inkognito zu wahren.
KASSIERER
Undurchsichtig.
DER ERSTE HERR
Ich habe Erklärungen gegeben.
KASSIERER
Ja, finden Sie es nicht komisch?
DER ZWEITE HERR
Inwiefern?
KASSIERER
Dies Sechstageschlafen.
DER ZWEITE HERR
Also tausend Mark über wieviel Runden?
KASSIERER
Nach Belieben.
DER ZWEITE HERR
Wieviel dem ersten?
KASSIERER
Nach Belieben.
DER ZWEITE HERR
Achthundert und zweihundert.
Durchs Megaphon.
Preisstiftung eines ungenannt bleiben wollenden Herrn über zehn Runden sofort auszufahren: dem ersten achthundert — dem zweiten zweihundert. Zusammen tausend Mark.
Gewaltiger Lärm.
DER ERSTE HERR
Dann sagen Sie mir, wenn die Veranstaltung für Sie nur Gegenstand der Ironie ist, weshalb machen Sie eine Preisstiftung in der Höhe von tausend Mark?
KASSIERER
Weil die Wirkung fabelhaft ist.
DER ERSTE HERR
Auf das Tempo der Fahrer?
KASSIERER
Unsinn.
EIN HERR
kommend.
Sind Sie der Herr, der tausend Mark stiftet?
KASSIERER
In Gold.
DER HERR
Das würde zu lange aufhalten.
KASSIERER
Das Aufzählen? Sehen Sie zu.
Er holt eine Rolle heraus, reißt sie auf, schüttet den Inhalt auf die Hand, prüft die leere Papierhülse, schleudert sie weg und zählt behende die klimpernden Goldstücke in seine Handhöhle.
Außerdem erleichtere ich meine Taschen.
DER HERR
Mein Herr, Sie sind ein Fachmann in dieser Angelegenheit.
KASSIERER
Ein Detail, mein Herr.
Er übergibt den Betrag.
Nehmen Sie an.
DER HERR
Dankend erhalten.
KASSIERER
Nur ordnungsmäßig.
EIN HERR
kommend.
Wo ist der Herr? Gestatten Sie —
KASSIERER
Nichts.
EIN HERR
mit der roten Fahne.
Den Start gebe ich.
EIN HERR
Jetzt werden die Großen ins Zeug gehen.
EIN HERR
Die Flieger liegen sämtlich im Rennen.
DER HERR
die Fahne schwingend.
Der Start.
Er senkt die Fahne.
Heulendes Getöse entsteht.
KASSIERER
zwei Herren im Nacken packend und ihre Köpfe nach hinten biegend.
Jetzt will ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage geben. Hinauf geschaut!
EIN HERR
Verfolgen Sie doch die wechselnden Phasen des Kampfes unten auf der Bahn.
KASSIERER
Kindisch. Einer muß der erste werden, weil die andern schlechter fahren. — Oben entblößt sich der Zauber. In dreifach übereinandergelegten Ringen — vollgepfropft mit Zuschauern — tobt Wirkung. Im ersten Rang — anscheinend das bessere Publikum tut sich noch Zwang an. Nur Blicke, aber weit — rund — stierend. Höher schon Leiber in Bewegung. Schon Ausrufe. Mittlerer Rang! — Ganz oben fallen die letzten Hüllen. Fanatisiertes Geschrei. Brüllende Nacktheit. Die Galerie der Leidenschaft! — Sehen Sie doch: die Gruppe. Fünffach verschränkt. Fünf Köpfe auf einer Schulter. Um eine heulende Brust gespreizt fünf Armpaare. Einer ist der Kern. Er[S. 82] wird erdrückt — hinausgeschoben — da purzelt sein steifer Hut — im Dunst träge sinkend — zum mittleren Rang nieder. Einer Dame auf den Busen. Sie kapiert es nicht. Da ruht er köstlich. Köstlich. Sie wird den Hut nie bemerken, sie geht mit ihm zu Bett, zeitlebenslang trägt sie den steifen Hut auf ihrem Busen!
DER HERR
Der Belgier setzt zum Spurt an.
KASSIERER
Der mittlere Rang kommt ins Heulen. Der Hut hat die Verbindung geschlossen. Die Dame hat ihn gegen die Brüstung zertrümmert. Ihr Busen entwickelt breite Schwielen. Schöne Dame, du mußt hier an die Brüstung und deine Büste brandmarken. Du mußt unweigerlich. Es ist sinnlos, sich zu sträuben. Mitten im Knäuel verkrallt wirst du an die Wand gepreßt und mußt hergeben, was du bist. Was du bist — ohne Winseln!
DER HERR
Kennen Sie die Dame?
KASSIERER
Sehen Sie jetzt: oben die fünf drängen ihren Kern über die Barriere — er schwebt frei — er stürzt — da — in den ersten Rang segelt er hinein. Wo ist er? Wo erstickt er? Ausgelöscht — spurlos vergraben. Interesselos. Ein Zuschauer[S. 83] — ein Zufallender — ein Zufall, nicht mehr unter Abertausenden!
EIN HERR
Der Deutsche rückt auf.
KASSIERER
Der erste Rang rast. Der Kerl hat den Kontakt geschaffen. Die Beherrschung ist zum Teufel. Die Fräcke beben. Die Hemden reißen. Knöpfe prasseln in alle Richtungen. Bärte verschoben von zersprengten Lippen, Gebisse klappern. Oben und mitten und unten vermischt. Ein Heulen aus allen Ringen — unterschiedlos. Unterschiedlos. Das ist erreicht!
DER HERR
sich umwendend.
Der Deutsche hat's. Was sagen Sie nun?
KASSIERER
Albernes Zeug.
Furchtbarer Lärm. Händeklatschen.
EIN HERR
Fabelhafter Spurt.
KASSIERER
Fabelhafter Blödsinn.
EIN HERR
Wir stellen das Resultat im Büro fest.
Alle ab.
KASSIERER
jenen Herrn festhaltend.
Haben Sie noch einen Zweifel?
DER HERR
Die Deutschen machen das Rennen.
KASSIERER
In zweiter Linie das, wenn Sie wollen.
Hinaufweisend.
Das ist es, das ist als Tatsache erdrückend. Das ist letzte Ballung des Tatsächlichen. Hier schwingt es sich zu seiner schwindelhaften Leistung auf. Vom ersten Rang bis in die Galerie Verschmelzung. Aus siedender Auflösung des einzelnen geballt der Kern: Leidenschaft! Beherrschungen — Unterschiede rinnen ab. Verkleidungen von Nacktheit gestreift: Leidenschaft! — Hier vorzustoßen ist Erlebnis. Türen — Tore verschweben zu Dunst. Posaunen schmettern und Mauern kieseln. Kein Widerstreben — keine Keuschheit — keine Mütterlichkeit — keine Kindschaft: Leidenschaft! Das ist es. Das ist es. Das lohnt. Das lohnt den Griff — das bringt auf breitem Präsentierbrett den Gewinn geschichtet!
EIN HERR
kommend.
Die Sanitätskolonne funktioniert tadellos.
KASSIERER
Ist der Kerl stürzend zermahlen?
EIN HERR
Zertreten.
KASSIERER
Es geht nicht ohne Tote ab, wo andere fiebernd leben.
EIN HERR
durchs Megaphon.
Resultat der Preisstiftung des ungenannt bleiben wollenden Herrn: achthundert Mark gewonnen von Nummer zwei — zweihundert Mark von Nummer eins.
Wahnsinniger Beifall. Tusch.
EIN HERR
Die Mannschaften sind erschöpft.
EIN HERR
Das Tempo fällt zusehend ab.
EIN HERR
Wir müssen die Manager für Ruhe im Felde sorgen lassen.
KASSIERER
Eine neue Stiftung!
EIN HERR
Später, mein Herr.
KASSIERER
Keine Unterbrechung in dieser Situation.
EIN HERR
Die Situation wird für die Fahrer gefährlich.
KASSIERER
Ärgern Sie mich nicht mit den Bengels. Das Publikum kocht in Erregungen. Das muß ausgenutzt werden. Der Brand soll eine nie erlebte Steigerung erfahren. Fünfzigtausend Mark.
EIN HERR
Wahrhaftig?
EIN HERR
Wieviel?
KASSIERER
Ich setze alles dran.
EIN HERR
Das ist eine unerhörte Preisstiftung.
KASSIERER
Unerhört soll die Wirkung sein. Alarmieren Sie die Sanitätskolonnen in allen Ringen.
EIN HERR
Wir akzeptieren die Stiftung. Wir werden sie bei besetzter Loge ausfahren lassen.
EIN HERR
Prachtvoll.
EIN HERR
Großartig.
EIN HERR
Durchaus lohnender Besuch.
KASSIERER
Was heißt das! bei besetzter Loge?
EIN HERR
Wir beraten die Bedingungen im Büro. Dreißigtausend dem ersten, fünfzehntausend dem zweiten — fünftausend dem dritten.
EIN HERR
Das Feld wird in dieser Nacht gesprengt.
EIN HERR
Damit ist das Rennen so gut wie aus.
EIN HERR
Jedenfalls: bei besetzter Loge.
Alle ab.
Mädchen der Heilsarmee kommt.
Gelächter der Zuschauer. Pfiffe. Rufe.
MÄDCHEN
anbietend.
Der Kriegsruf — zehn Pfennig, mein Herr.
KASSIERER
Andermal.
MÄDCHEN
Der Kriegsruf, mein Herr.
KASSIERER
Was verhökern Sie da für ein Kümmelblättchen?
MÄDCHEN
Der Kriegsruf, mein Herr.
KASSIERER
Sie treten verspätet auf. Hier ist die Schlacht in vollem Betrieb.
MÄDCHEN
mit der Blechbüchse.
Zehn Pfennig, mein Herr.
KASSIERER
Für zehn Pfennig wollen Sie Krieg entfachen?
MÄDCHEN
Zehn Pfennig, mein Herr.
KASSIERER
Ich bezahle hier Kriegskosten mit fünfzigtausend.
MÄDCHEN
Zehn Pfennig.
KASSIERER
Lumpiges Handgemenge. Ich subventioniere nur Höchstleistungen.
MÄDCHEN
Zehn Pfennig.
KASSIERER
Ich trage nur Gold bei mir.
MÄDCHEN
Zehn Pfennig.
KASSIERER
Gold —
MÄDCHEN
Zehn —
KASSIERER
brüllt sie durchs Megaphon an.
Gold — Gold — Gold!
MÄDCHEN
ab.
Wieherndes Gelächter der Zuschauer. Händeklatschen. Viele Herren kommen.
EIN HERR
Wollen Sie selbst Ihre Stiftung bekanntgeben?
KASSIERER
Ich bleibe im undeutlichen Hintergrund.
Er gibt ihm das Megaphon.
Jetzt sprechen Sie. Jetzt teilen Sie die letzte Erschütterung aus.
EIN HERR
durchs Megaphon.
Eine neue Preisstiftung desselben ungenannt bleiben wollenden Herrn.
Bravorufe.
Gesamtsumme fünfzigtausend Mark.
Betäubendes Schreien.
Fünftausend Mark dem dritten.
Schreien.
Fünfzehntausend Mark dem zweiten.
Gesteigertes Schreien.
Dem ersten dreißigtausend Mark.
Ekstase.
KASSIERER
beiseite stehend, kopfnickend.
Das wird es. Daher sträubt es sich empor. Das sind Erfüllungen. Heulendes Wehen vom Frühlingsorkan. Wogender Menschheitsstrom. Entkettet — frei. Vorhänge hoch — Vorwände nieder. Menschheit. Freie Menschheit. Hoch und tief — Mensch. Keine Ringe — keine Schichten — keine Klassen. Ins Unendliche schweifende Entlassenheit aus Fron und Lohn in Leidenschaft. Rein nicht — doch frei! — Das wird der Erlös für meine Keckheit.
Er zieht das Bündel Scheine hervor.
Gern gegeben — anstandslos beglichen!
Plötzlich lautlose Stille.
Nationalhymne.
Die Herren haben die Seidenhüte gezogen und stehen verneigt.
EIN HERR
tritt zum Kassierer.
Händigen Sie mir den Betrag ein, um die Stiftung jetzt sofort ausfahren zu lassen.
KASSIERER
Was bedeutet das?
DER HERR
Was, mein Herr?
KASSIERER
Dieses jähe, unvermittelte Schweigen oben und unten?
DER HERR
Durchaus nicht unvermittelt: Seine Hoheit sind in die Loge getreten.
KASSIERER
Seine Hoheit — in die Loge — —
DER HERR
Um so günstiger kommt uns Ihre bedeutende Stiftung.
KASSIERER
Ich denke nicht daran, mein Geld zu vergeuden!
DER HERR
Was heißt das?
KASSIERER
Daß es mir für die Fütterung von krummen Buckeln zu teuer ist!
DER HERR
Erklären Sie mir —
KASSIERER
Dieser eben noch lodernde Brand ausgetreten von einem Lackstiefel am Bein Seiner Hoheit. Sind Sie toll, mich für so verrückt zu halten, daß ich zehn Pfennig vor Hundeschnauzen werfe! Auch das wäre noch zu viel. Einen Fußtritt gegen den eingeklemmten Schweif, das ist die gebotene Stiftung!
DER HERR
Die Stiftung ist angekündigt. Seine Hoheit warten[S. 92] in der Loge. Das Publikum verharrt ehrfürchtig. Was soll das heißen?
KASSIERER
Wenn Sie es denn nicht aus meinen Worten begreifen — dann werden Sie die nötige Einsicht gewinnen, indem ich Ihnen mit einem Schlage ein einwandfreies Bekenntnis meinerseits beibringe!
Er treibt ihm den Seidenhut auf die Schultern.
Ab.
Noch Hymne. Schweigen. Verbeugtsein auf der Brücke.
Ballhaus. Sonderzimmer.
Noch dunkel.
Gedämpft: Orchester mit Tanzrhythmen.
KELLNER
öffnet die Tür, dreht rotes Licht an.
KASSIERER
Frack, Umhang, Schal, Bambusrohr mit Goldknopf.
KELLNER
Gefällig?
KASSIERER
Ganz.
KELLNER
nimmt Umhang in Empfang.
KASSIERER
vorm Spiegel.
KELLNER
Wieviel Gedecke belieben?
KASSIERER
Vierundzwanzig. Ich erwarte meine Großmama, meine Mama, meine Frau und weitere Tanten. Ich feiere die Konfirmation meiner Tochter.
KELLNER
staunend.
KASSIERER
zu ihm im Spiegel.
Esel. Zwei! Oder wozu polstern Sie diese diskret illuminierten Kojen?
KELLNER
Welche Marke bevorzugen der Herr?
KASSIERER
Gesalbter Kuppler. Das überlassen Sie mir, mein Bester, welche Blume ich mir auf dem Parkett pflücke, Knospe oder Rose — kurz oder schlank. Ich will Ihre unschätzbaren Dienste nicht übermäßig anspannen. Unschätzbar — oder führen Sie auch darüber feste Tarife?
KELLNER
Die Sektmarke des Herrn?
KASSIERER
räuspert.
Grand Marnier.
KELLNER
Das ist Kognak nach dem Sekt.
KASSIERER
Also — darin richte ich mich entgegenkommend nach Ihnen.
KELLNER
Zwei Flaschen Pommery. Dry?
KASSIERER
Zwei, wie Sie sagten.
KELLNER
Extra dry?
KASSIERER
Zwei decken den anfänglichen Bedarf. Oder für diskrete Bedienung drei Flaschen extra? Gewährt.
KELLNER
mit der Karte.
Das Souper?
KASSIERER
Spitzen, Spitzen.
KELLNER
Oeufs pochés Bergère? Poulet grillé? Steak de veau truffé? Parfait de foie gras en croûte? Salade coeur de laitue?
KASSIERER
Spitzen — von Anfang bis zu Ende nur Spitzen.
KELLNER
Pardon?
KASSIERER
ihm auf die Nase tippend.
Spitzen sind letzte Ballungen in allen Dingen. Also auch aus Ihren Kochtöpfen und Bratpfannen. Das Delikateste vom Delikaten. Das Menu der Menus. Zur Garnierung bedeutsamerer Vorgänge. Ihre Sache, mein Freund, ich bin nicht der Koch.
KELLNER
stellt eine größere Karte auf den Tisch.
In zwanzig Minuten zu servieren.
Er ordnet die Gläser usw.
Durch die Türspalte Köpfe mit seidenen Larven.
KASSIERER
in den Spiegel mit dem Finger drohend.
Wartet, Motten, ich werde euch gleich unter das Glühlicht halten. Wir werden uns über diesen Punkt auseinandersetzen, wenn wir beieinandersitzen.
Er nickt.
Die kichernden Masken ab.
KELLNER
hängt einen Karton: Reserviert! — an die Tür. Ab.
KASSIERER
schiebt den Zylinder zurück, entnimmt einem goldenen Etui Zigaretten, zündet an.
Auf in den Kampf, Torero — — Was einem nicht alles auf die Lippen kommt. Man ist ja geladen. Alles — einfach alles. Torero — Carmen. Caruso. Den Schwindel irgendwo mal gelesen — haften geblieben. Aufgestapelt. Ich könnte in diesem Augenblick Aufklärungen geben über die Verhandlungen mit der Bagdadbahn. Der Kronprinz von Rumänien heiratet die zweite Zarentochter. Tatjana. Also los. Sie soll sich verheiraten. Vergnügtes Himmelbett. Das Volk braucht Fürsten. Tat — Tat — jana.
Den Bambus wippend, ab.
KELLNER
mit Flaschen und Kühler; entkorkt und gießt ein. Ab.
KASSIERER
eine weibliche Maske — Harlekin in gelbrotkariertem, von Fuß zu offener Brust knabenhaft anliegendem Anzug — vor sich scheuchend herein.
Motte!
MASKE
um den Tisch laufend.
Sekt!
Sie gießt sich beide Gläser Sekt in den Mund, fällt ins Sofa.
Sekt!
KASSIERER
neu vollgießend.
Flüssiges Pulver. Lade deinen scheckigen Leib.
MASKE
trinkt
Sekt!
KASSIERER
Batterien aufgefahren und Entladungen vorbereitet.
MASKE
Sekt!
KASSIERER
die Flaschen wegstellend.
Leer.
Er kommt in die Polster zur Maske.
Fertig zur Explosion.
MASKE
lehnt betrunken hinüber.
KASSIERER
rüttelt ihre schlaffen Arme.
Munter, Motte.
MASKE
faul.
KASSIERER
Aufgerappelt, bunter Falter. Du hast den prickelnden gelben Honig geleckt. Entfalte Falterflügel. Überfalle mich mit dir. Vergrabe mich, decke mich zu. Ich habe mich in einigen Beziehungen mit den gesicherten Zuständen überworfen — überwirf mich mit dir.
MASKE
lallt.
Sekt.
KASSIERER
Nein, mein Paradiesvogel. Du hast deine hinreichende Ladung. Du bist voll.
MASKE
Sekt.
KASSIERER
Keinen Spritzer. Du wirst sonst unklar. Du bringst mich um schöne Möglichkeiten.
MASKE
Sekt.
KASSIERER
Oder hast du keine? Also — auf den Grund gelotet; was hast du?
MASKE
Sekt.
KASSIERER
Den hast du allerdings. Das heißt: von mir. Was habe ich von dir?
MASKE
schläft ein.
KASSIERER
Willst du dich hier ausschlafen? Kleiner Schäker. Zu dermaßen ausgedehnten Scherzen fehlt mir diesmal die Zeit.
Er steht auf, füllt ein Glas und schüttet es ihr ins Gesicht.
Frühmorgens, wenn die Hähne krähn.
MASKE
springt auf.
Schwein!
KASSIERER
Aparter Name. Leider bin ich nicht in der Lage, deine Vorstellung zu erwidern. Also, Maske der weitverzweigten Rüsselfamilie, räume die Polster.
MASKE
Das werde ich Sie eintränken.
KASSIERER
Mehr als billig, nachdem ich dir hinreichend eingetränkt.
MASKE
ab.
KASSIERER
trinkt Sekt; ab.
KELLNER
kommt, bringt Kaviar; nimmt leere Flaschen mit.
KASSIERER
kommt mit zwei schwarzen Masken.
ERSTE MASKE
die Tür zuwerfend.
Reserviert.
ZWEITE MASKE
am Tisch.
Kaviar.
ERSTE MASKE
hinlaufend.
Kaviar.
KASSIERER
Schwarz wie ihr. Eßt ihn auf. Stopft ihn euch in den Hals.
Er sitzt zwischen beiden im Polster.
Sagt Kaviar. Flötet Sekt. Auf euren eigenen Witz verzichte ich.
Er gießt ein, füllt die Teller.
Ihr sollt nicht zu Worte kommen. Mit keiner Silbe, mit keinem Juchzer. Stumm wie die Fische, die diesen schwarzen Kaviar über das Schwarze Meer laichten. Kichert, meckert, aber redet nicht. Es kommt nichts dabei aus euch heraus. Höchstens ihr aus euren Polstern. Ich habe schon einmal ausgeräumt.
MASKEN
sehen sich kichernd an.
KASSIERER
die erste packend.
Was hast du für Augen? Grüne — gelbe?
Zur andern.
Deine blau — rot? Reizendes Kugelspiel in den Schlitzen. Das verheißt. Das muß heraus. Ich setze einen Preis für die schönste!
MASKEN
lachen.
KASSIERER
zur ersten.
Du bist die schönere. Du wehrst dich mächtig. Warte, ich reiße dir den Vorhang herunter und schaue das Ereignis an!
MASKE
entzieht sich ihm.
KASSIERER
zur andern.
Du hast dich zu verbergen? Du bist aus Scham überwältigend. Du hast dich in diesen Ballsaal verirrt. Du streifst auf Abenteuer. Du hast deinen Abenteurer gefunden, den du suchst. Von deinem Milch und Blut die Larve herunter!
MASKE
rückt von ihm weg.
KASSIERER
Ich bin am Ziel. Ich sitze zitternd — mein Blut[S. 102] ist erwühlt. Das wird es! — Und nun bezahlt.
Er holt den Pack Scheine heraus und teilt ihn.
Schöne Maske, weil du schön bist. Schöne Maske, weil du schön bist.
Er hält die Hände vor das Gesicht.
Eins — zwei — drei!
MASKEN
lüften ihre Larven.
KASSIERER
blickt hin — lacht.
Deckt zu — deckt zu — deckt zu!
Er läuft um den Tisch.
Scheusal — Scheusal — Scheusal! Wollt ihr gleich — aber sofort — oder —
Er schwingt seinen Bambus.
ERSTE MASKE
Wollen Sie uns —
ZWEITE MASKE
Sie wollen uns —
KASSIERER
Euch will ich!
MASKEN
ab.
KASSIERER
schüttelt sich, trinkt Sekt.
Kontrakte Vetteln!
Ab.
KELLNER
mit neuen Flaschen. Ab.
KASSIERER
stößt die Tür auf: im Tanz mit einer Pierrette, der der Rock bis auf die Schuhe reicht, herein. Er läßt sie in der Mitte stehen und wirft sich in die Polster.
Tanze!
MASKE
steht still.
KASSIERER
Tanze. Drehe deinen Wirbel. Tanze, tanze. Witz gilt nicht. Hübschheit gilt nicht. Tanz ist es, drehend — wirbelnd. Tanz. Tanz. Tanz!
MASKE
kommt an den Tisch.
KASSIERER
abwehrend.
Keine Pause. Keine Unterbrechung. Tanze.
MASKE
steht still.
KASSIERER
Warum springst du nicht? Weißt du, was Derwische sind? Tanzmenschen. Menschen im Tanz — ohne Tanz Leichen. Tod und Tanz — an den Ecken des Lebens aufgerichtet. Dazwischen —
Das Mädchen der Heilsarmee tritt ein.
KASSIERER
Halleluja.
MÄDCHEN
Der Kriegsruf.
KASSIERER
Zehn Pfennig.
MÄDCHEN
hält die Büchse hin.
KASSIERER
Wann denkst du, daß ich in deine Büchse springe?
MÄDCHEN
Der Kriegsruf.
KASSIERER
Du erwartest es doch mit Bestimmtheit von mir?
MÄDCHEN
Zehn Pfennig.
KASSIERER
Also wann?
MÄDCHEN
Zehn Pfennig.
KASSIERER
Du hängst mir doch an den Frackschößen?
MÄDCHEN
schüttelt die Büchse.
KASSIERER
Und ich schüttle dich wieder ab!
MÄDCHEN
schüttelt.
KASSIERER
Also —
Zur Maske.
Tanze!
MÄDCHEN
ab.
MASKE
kommt in die Polster.
KASSIERER
Warum sitzt du in den Ecken des Saals und tanzt nicht in der Mitte? Du hast mich aufmerksam auf dich gemacht. Alle springen, und du bleibst ruhig dabei. Warum trägst du Röcke, während alle andern wie schlanke Knaben entkleidet sind?
MASKE
Ich tanze nicht.
KASSIERER
Du tanzt nicht wie die andern?
MASKE
Ich kann nicht tanzen.
KASSIERER
Nicht nach der Musik — taktmäßig. Das ist auch albern. Du weißt andere Tänze. Du verhüllst etwas unter deinen Kleidern — deine besonderen Sprünge, nicht in die Klammern von Takten und Schritten zu pressen. Eiligere Schwenkungen, die sind deine Spezialität.
Alles vom Tisch auf den Teppich schiebend.
Hier ist dein Tanzbrett. Spring auf. Im engen Bezirk dieser Tafel grenzenloser Tumult. Spring auf. Vom Teppich hüpf' auf. Mühelos. Von Spiralen gehoben, die in deinen Knöcheln federn. Spring. Stachle deine Fersen. Wölbe die Schenkel. Wehe deine Röcke auf über deinem Tanzbein.
MASKE
schmiegt sich im Polster an ihn.
Ich kann nicht tanzen.
KASSIERER
Du peitschst meine Spannung. Du weißt nicht, um was es geht. Du sollst es wissen.
Er zeigt ihr die Scheine.
Um alles!
MASKE
führt seine Hand an ihrem Bein herab.
Ich kann nicht.
KASSIERER
springt auf.
Ein Holzbein!!
Er faßt den Sektkühler und stülpt ihn ihr über.
Es soll Knospen treiben, ich begieße es!
MASKE
Jetzt sollen Sie was erleben!
KASSIERER
Ich will ja was erleben!
MASKE
Warten Sie hier!
Ab.
KASSIERER
legt einen Schein auf den Tisch, nimmt Umhang und Stock, beeilt ab.
Herren im Frack kommen.
EIN HERR
Wo ist der Kerl?
EIN HERR
Den Kumpan wollen wir uns näher ansehen.
EIN HERR
Uns erst die Mädchen ausspannen —
EIN HERR
Mit Sekt und Kaviar auftrumpfen —
EIN HERR
Hinterher beschimpfen —
EIN HERR
Das Bürschchen werden wir uns kaufen —
EIN HERR
Wo steckt er?
EIN HERR
Abgeräumt!
EIN HERR
Ausgebrannt!
EIN HERR
Der Kavalier hat Lunte gerochen.
EIN HERR
den Schein entdeckend.
Ein Tausender.
EIN HERR
Donnerkeil.
EIN HERR
Draht muß er haben.
EIN HERR
Ist das die Zeche?
EIN HERR
Ach was, durchgegangen ist er. Den Bräunling machen wir unsichtbar.
Er steckt ihn ein.
EIN HERR
Das ist die Entschädigung.
EIN HERR
Die Mädchen hat er uns ausgespannt.
EIN HERR
Laßt doch die Weiber sitzen.
EIN HERR
Die sind ja doch besoffen.
EIN HERR
Die bedrecken uns bloß unsere Fräcke.
EIN HERR
Wir ziehen in ein Bordell und pachten den Bums drei Tage.
MEHRERE HERREN
Bravo. Los. Verduften wir. Achtung, der Kellner kommt.
KELLNER
mit vollbesetztem Servierbrett; vorm Tisch bestürzt.
EIN HERR
Suchen Sie jemanden?
EIN HERR
Servieren Sie ihm doch unter dem Tisch weiter.
Gelächter.
KELLNER
ausbrechend.
Der Sekt — das Souper — das reservierte Zimmer — nichts ist bezahlt. Vier Flaschen Pommery — zwei Portionen Kaviar — zwei Extramenus — ich muß für alles aufkommen. Ich habe Frau und Kinder. Ich bin seit vier Monaten ohne Stellung gewesen. Ich hatte mir eine schwache Lunge zugezogen. Sie können mich doch nicht unglücklich machen, meine Herren?
EIN HERR
Was geht uns denn Ihre Lunge an? Frau und Kinder haben wir alle. Was wollen Sie denn von uns? Sind wir Ihnen denn etwa durch die Lappen gebrannt? Was denn?
EIN HERR
Was ist denn das überhaupt für ein Lokal? Wo[S. 110] sind wir denn hier? Das ist ja eine hundsgemeine Zechprellerbude. In solche Gesellschaft locken Sie Gäste? Wir sind anständige Gäste, die bezahlen, was sie saufen. Wie? Oder wie?
EIN HERR
der den Schlüssel in der Tür umgesteckt hatte.
Sehen Sie doch mal hinter sich. Da haben Sie unsere Zeche auch!
Er versetzt dem Kellner, der sich umgewandt hatte, einen Stoß in den Rücken.
KELLNER
taumelt vornüber, fällt auf den Teppich.
HERREN
ab.
KELLNER
richtet sich auf, läuft zur Tür, findet sie verschlossen. Mit den Fäusten auf das Holz schlagend.
Laßt mich heraus — Ihr sollt nicht bezahlen — ich springe ins Wasser!
Lokal der Heilsarmee — zur Tiefe gestreckt, abgefangen von gelbem Vorhang mit aufgenähtem schwarzen Kreuz, groß, um einen Menschen aufzunehmen. Auf dem Podium rechts Bußbank — links die Posaunen und Kesselpauken.
Dicht besetzte Bankreihen.
Über allem Kronleuchter mit Gewirr von Drähten für elektrische Lampen.
Vorn Saaltür.
Musik der Posaunen und Kesselpauken.
Aus einer Ecke Händeklatschen und Gelächter.
SOLDAT
Mädchen — geht dahin und setzt sich zu dem Lärmmacher — einem Kommis — nimmt seine Hände und flüstert auf ihn ein.
JEMAND
aus der andern Ecke.
Immer dicht an.
SOLDAT
Mädchen — geht zu diesem, einem jugendlichen Arbeiter.
ARBEITER
Was wollen Sie denn?
SOLDAT
sieht ihn kopfschüttelnd ernst an.
Gelächter.
OFFIZIER
Frau — oben auftretend.
Ich habe euch eine Frage vorzulegen.
Einige zischen zur Ruhe.
ANDERE
belustigt.
Lauter reden. Nicht reden. Musik. Pauke. Posaunenengel.
EINER
Anfangen.
ANDERER
Aufhören.
OFFIZIER
Warum sitzt ihr auf den Bänken unten?
EINER
Warum nicht?
OFFIZIER
Ihr füllt sie bis auf den letzten Platz. Einer stößt gegen den andern. Trotzdem ist eine Bank leer.
EINER
Nichts zu machen.
OFFIZIER
Warum bleibt ihr unten, wo ihr euch drängen und drücken müßt? Ist es nicht widerwärtig, so im Gedränge zu sitzen? Wer kennt seinen Nachbar? Ihr reibt die Knie an ihm — und vielleicht ist jener krank. Ihr seht in sein Gesicht — und vielleicht wohnen hinter seiner Stirn mörderische Gedanken. Ich weiß es, es sind viele Kranke und Verbrecher in diesem Saal. Kranke und Verbrecher kommen herein und sitzen neben allen. Darum warne ich euch! Hütet euch vor eurem Nachbar[S. 113] in den Bänken. Die Bänke da unten tragen Kranke und Verbrecher!
EINER
Meinen Sie mir oder mich?
OFFIZIER
Ich weiß es und rate euch: trennt euch von eurem Nachbar, so lautet die Mahnung. Krankheit und Verbrechen sind allgemein in dieser asphaltenen Stadt. Wer von euch ist ohne Aussatz? Eure Haut kann weiß und glatt sein, aber eure Blicke verkünden euch. Ihr habt die Augen nicht, um zu sehen — eure Augen sind offen, euch zu verraten. Ihr verratet euch selbst. Ihr seid schon nicht mehr frei von der großen Seuche. Die Ansteckung ist stark. Ihr habt zu lange in schlimmer Nachbarschaft gesessen. Darum, wenn ihr nicht sein wollt wie euer Nachbar in dieser asphaltenen Stadt, tretet aus den Bänken. Es ist die letzte Mahnung. Tut Buße. Tut Buße. Kommt herauf, kommt auf die Bußbank. Kommt auf die Bußbank. Kommt auf die Bußbank!
Die Posaunen und Kesselpauken setzen ein.
MÄDCHEN
führt Kassierer herein.
KASSIERER
im Ballanzug erregt einige Aufmerksamkeit.
MÄDCHEN
weist Kassierer Platz an, setzt sich zu ihm und gibt ihm Erklärungen.
KASSIERER
sieht sich amüsiert um.
Musik hört auf.
Spöttisches lautes Bravoklatschen.
OFFIZIER
wieder oben auftretend.
Laßt euch von unserm Kameraden erzählen, wie er den Weg zur Bußbank fand.
SOLDAT
jüngerer Mann — tritt auf.
EINER
So siehst du aus.
Gelächter.
SOLDAT
Ich will euch berichten von meiner Sünde. Ich führte ein Leben, ohne an meine Seele zu denken. Ich dachte nur an den Leib. Ich stellte ihn gleichsam vor die Seele auf und machte den Leib immer stärker und breiter davor. Die Seele war ganz verdeckt dahinter. Ich suchte mit meinem Leib den Ruhm und wußte nicht, daß ich nur den Schatten höher reckte, in dem die Seele verdorrte. Meine Sünde war der Sport. Ich übte ihn ohne eine Stunde der Besinnung. Ich war[S. 115] eitel auf die Schnelligkeit meiner Füße in den Pedalen, auf die Kraft meiner Arme an der Lenkstange. Ich vergaß alles, wenn die Zuschauer um mich jubelten. Ich verdoppelte meine Anstrengung und wurde in allen Kämpfen, die mit dem Leib geführt werden, erster Sieger. Mein Name prangte an allen Plakaten, auf Bretterzäunen, auf Millionen bunter Zettel. Ich wurde Weltchampion. Endlich mahnte mich meine Seele. Sie verlor die Geduld. Bei einem Wettkampf stürzte ich. Ich verletzte mich nur leicht. Die Seele wollte mir Zeit zur Umkehr lassen. Die Seele ließ mir noch Kraft zu einem Ausweg. Ich ging von den Bänken im Saal herauf zur Bußbank. Da hatte meine Seele Ruhe, zu mir zu sprechen. Und was sie mir erzählt, das kann ich hier nicht berichten. Es ist zu wunderschön und meine Worte sind zu schwach, das zu schildern. Ihr müßt selbst heraufkommen und es in euch hören.
Er tritt beiseite.
EINER
lacht unflätig.
MEHRERE
zischen zur Ruhe.
MÄDCHEN
leise zum Kassierer.
Hörst du ihn?
KASSIERER
Stören Sie mich nicht.
OFFIZIER
Ihr habt die Erzählung unseres Kameraden gehört. Klingt sie nicht verlockend! Kann man etwas Schöneres gewinnen als seine Seele? Und es geht ganz leicht, denn sie ist ja in euch. Ihr müßt ihr nur einmal Ruhe gönnen. Sie will einmal still bei euch sitzen. Auf dieser Bank sitzt sie am liebsten. Es ist gewiß einer unter euch, der sündigte, wie unser Kamerad getan. Dem will unser Kamerad helfen. Dem hat er den Weg eröffnet. Nun komm. Komm zur Bußbank. Komm zur Bußbank. Komm zur Bußbank!
Es herrscht Stille.
EINER
kräftiger, junger Mann, einen Arm im Verband, steht in einer Saalecke auf, durchquert verlegen lächelnd den Saal und ersteigt das Podium.
EINER
unflätige Zote.
ANDERE
entrüstet.
Wer ist der Flegel?
DER RUFER
steht auf, strebt beschämt zur Tür.
EINER
Das ist der Lümmel.
SOLDAT
Mädchen — eilt zu ihm und führt ihn auf seinen Platz zurück.
EINER
Nicht so zart anfassen.
MEHRERE
Bravo!
JENER
auf dem Podium, anfangs unbeholfen.
Die asphaltene Stadt hat eine Halle errichtet. In der Sporthalle bin ich gefahren. Ich bin Radfahrer. Ich fahre das Sechstagerennen mit. In der zweiten Nacht bin ich von einem andern Fahrer angefahren. Ich brach den Arm. Ich mußte ausscheiden. Das Rennen rast weiter — ich habe Ruhe. Ich kann mich auf alles in Ruhe besinnen. Ich habe mein Leben lang ohne Besinnen gefahren. Ich will mich auf alles besinnen — auf alles.
Stark.
Auf meine Sünden will ich mich auf der Bußbank besinnen!
Vom Soldat hingeführt, sinkt er auf die Bank. Soldat bleibt eng neben ihm.
OFFIZIER
Eine Seele ist gewonnen!
Posaunen und Pauken schallen.
Auch die im Saale verteilten Soldaten haben sich erhoben und jubeln, die Arme ausbreitend.
Musik hört auf.
MÄDCHEN
zum Kassierer.
Siehst du ihn?
KASSIERER
Das Sechstagerennen.
MÄDCHEN
Was flüsterst du?
KASSIERER
Meine Sache. Meine Sache.
MÄDCHEN
Bist du bereit?
KASSIERER
Schweigen Sie doch.
OFFIZIER
auftretend.
Jetzt will euch dieser Kamerad berichten.
EINER
zischt.
VIELE
Ruhe!
SOLDAT
Mädchen — auftretend.
Wessen Sünde ist meine Sünde? Ich will euch von mir ohne Scham erzählen. Ich hatte ein Elternhaus, in dem es wüst und gemein zuging.[S. 119] Der Mann — er war mein Vater nicht — trank. Meine Mutter gab sich feinen Herren hin. Ich erhielt von meiner Mutter Geld, soviel ich haben wollte. Von dem Manne Schläge, soviel ich nicht haben wollte.
Gelächter.
Niemand paßte mir auf und ich mir am wenigsten. So wurde ich eine Verlorene. Denn ich wußte damals nicht, daß die wüsten Zustände zu Hause nur dazu bestimmt waren, daß ich besser auf meine Seele achten sollte und mich ganz ihr widmen. Ich erfuhr es in einer Nacht. Ich hatte einen Herrn bei mir und er verlangte, daß wir mein Zimmer dunkel machten. Ich drehte das Licht aus, obwohl ich es nicht so gewöhnt war. Später, als wir zusammen waren, verstand ich seine Forderung. Denn ich fühlte nur den Rumpf eines Mannes bei mir, an dem die Beine abgeschnitten waren. Das sollte ich vorher nicht sehen. Er hatte Holzbeine, die er sich heimlich abgeschnallt hatte. Da faßte mich das Entsetzen und ließ mich nicht wieder los. Meinen Leib haßte ich — nur meine Seele konnte ich noch lieben. Nun liebe ich nur noch meine Seele. Sie ist so vollkommen, daß sie das Schönste ist, was ich weiß. Ich weiß zuviel von ihr, daß ich es nicht alles sagen kann. Wenn ihr eure Seele fragt, da wird sie euch alles — alles sagen.
Sie tritt beiseite. — Stille im Saal.
OFFIZIER
auftretend.
Ihr habt die Erzählung dieses Kameraden gehört. Seine Seele bot sich ihm an. Er wies sie nicht ab. Nun erzählt er von ihr mit frohem Munde. Bietet sich nicht einem zwischen euch jetzt seine Seele? Laß sie doch zu dir. Laß sie reden und erzählen, auf dieser Bank ist sie ungestört. Komm zur Bußbank. Komm zur Bußbank!
In den Bänken Bewegung, man sieht sich um.
KOKOTTE
ältlich, ganz vorne, beginnt noch unten in den Saal zu reden.
Was denken Sie von mir, meine Herren und Damen? Ich bin hier nur untergetreten, weil ich mich auf der Straße müde gelaufen hatte. Ich geniere mich gar nicht. Ich kenne dies Lokal gar nicht. Ich bin das erstemal hier. Ich bin rein per Zufall anwesend.
Nun oben.
Aber Sie irren sich darin, meine Herren und Damen, wenn Sie glauben sollten, daß ich mir das ein zweites Mal hätte sagen lassen sollen. Ich danke für diese Zumutung. Wenn Sie mich hier sehen — bitte — Sie können mich von oben bis unten betrachten, wie es Ihnen beliebt — mustern Sie mich bitte mit Ihren Blicken eingehend, ich vergebe mir damit nicht das geringste. Ich geniere mich gar nicht. Sie werden diesen Anblick nicht[S. 121] das zweitemal in dieser Weise genießen können. Sie werden sich bitter täuschen, wenn Sie glauben, mir auch meine Seele abkaufen zu können. Die habe ich noch niemals verkauft. Man hätte mir viel bieten können, aber meine Seele war mir denn doch nicht feil. Ich danke Ihnen, meine verehrten Herrschaften, für alle Komplimente. Sie werden mich auf der Straße nicht mehr treffen. Ich habe nicht eine Minute frei für Sie, meine Seele läßt mir keine Ruhe mehr. Ich danke bestens, meine Herrschaften, ich geniere mich gar nicht, aber nein.
Sie hat den Hut heruntergenommen. Jener Soldat geleitet sie zur Bußbank.
OFFIZIER
Eine Seele ist gewonnen!
Pauken und Posaunen. Jubel der Soldaten.
MÄDCHEN
zum Kassierer.
Hörst du alles?
KASSIERER
Meine Sache. Meine Sache.
MÄDCHEN
Was summst du vor dich hin?
KASSIERER
Das Holzbein.
MÄDCHEN
Bist du bereit?
KASSIERER
Noch nicht. Noch nicht.
EINER
in Saalmitte stehend.
Was ist meine Sünde? Ich will meine Sünde hören.
OFFIZIER
auftretend.
Unser Kamerad will euch erzählen.
EINIGE
erregt.
Hinsetzen. Stille. Erzählen.
SOLDAT
älterer Mann.
Laßt euch von mir berichten. Es ist eine alltägliche Geschichte, weiter nichts. Darum wurde sie meine Sünde. Ich hatte eine gemütliche Wohnung, eine zutrauliche Familie, eine bequeme Beschäftigung — es ging immer alltäglich bei mir zu. Wenn ich abends zwischen den Meinen am Tisch unter der Lampe saß und meine Pfeife schmauchte, dann war ich zufrieden. Ich wünschte niemals eine Veränderung in meinem Leben. Dennoch kam sie. Den Anstoß dazu weiß ich nicht mehr — oder ich wußte ihn nie. Die Seele tut sich auch ohne besondere Erschütterung kund. Sie kennt ihre Stunde und benutzt sie. Ich konnte jedenfalls nicht ihre Mahnung überhören. Meine[S. 123] Trägheit wehrte sich im Anbeginn wohl gegen sie, aber sie war mächtiger. Das fühlte ich mehr und mehr. Die Seele allein konnte mir dauernde Zufriedenheit schaffen. Und auf Zufriedenheit war ich ja mein Lebtag bedacht. Jetzt finde ich sie nicht mehr am Tisch mit der Lampe und mit der langen Pfeife im Munde, sondern allein auf der Bußbank. Das ist meine ganz alltägliche Geschichte.
Er tritt beiseite.
OFFIZIER
auftretend.
Unser Kamerad hat euch — —
EINER
schon kommend.
Meine Sünde!
Oben.
Ich bin Familienvater. Ich habe zwei Töchter. Ich habe meine Frau. Ich habe meine Mutter noch. Wir wohnen alle in drei Stuben. Es ist ganz gemütlich bei uns. Meine Töchter — eine spielt Klavier — eine stickt. Meine Frau kocht. Meine Mutter begießt die Blumentöpfe hinterm Fenster. Es ist urgemütlich bei uns. Es ist die Gemütlichkeit selbst. Es ist herrlich bei uns — großartig — vorbildlich — praktisch — musterhaft — —
Verändert.
Es ist ekelhaft — entsetzlich — es stinkt da es ist armselig — vollkommen durch und durch[S. 124] armselig mit dem Klavierspielen — mit dem Sticken — mit dem Kochen — mit dem Blumenbegießen —
ausbrechend.
Ich habe eine Seele! Ich habe eine Seele! Ich habe eine Seele. Ich habe eine Seele!
Er taumelt zur Bußbank.
OFFIZIER
Eine Seele ist gewonnen!
Posaunen und Pauken.
Hoher Tumult im Saal.
VIELE
nach den Posaunen und Pauken aufrecht, auch auf den Bänken aufrecht.
Was ist meine Sünde? Was ist meine Sünde? Ich will meine Sünde wissen! Ich will meine Sünde wissen!
OFFIZIER
auftretend.
Unser Kamerad will euch erzählen.
Tiefe Stille.
MÄDCHEN
Siehst du ihn?
KASSIERER
Meine Töchter. Meine Frau. Meine Mutter.
MÄDCHEN
Was murmelst und flüsterst du immer?
KASSIERER
Meine Sache. Meine Sache. Meine Sache.
MÄDCHEN
Bist du bereit?
KASSIERER
Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht.
SOLDAT
in mittleren Jahren, auftretend.
Meiner Seele war es nicht leicht gemacht, zu triumphieren. Sie mußte mich hart anfassen und rütteln. Schließlich gebrauchte sie das schwerste Mittel. Sie schickte mich ins Gefängnis. Ich hatte in die Kasse, die mir anvertraut war, gegriffen und einen großen Betrag defraudiert. Ich wurde abgefaßt und verurteilt. Da hatte ich in der Zelle Rast. Das hatte die Seele abgewartet. Und nun konnte sie endlich frei zu mir sprechen. Ich mußte ihr zuhören. Es wurde die schönste Zeit meines Lebens in der einsamen Zelle. Und als ich herauskam, wollte ich nur noch mit meiner Seele verkehren. Ich suchte nach einem stillen Platz für sie. Ich fand ihn auf der Bußbank und finde ihn täglich, wenn ich eine schöne Stunde genießen will!
Er tritt beiseite.
OFFIZIER
auftretend.
Unser Kamerad hat euch von seinen schönen Stunden auf der Bußbank erzählt. Wer ist zwischen euch, der sich aus dieser Sünde heraussehnt? Wes[S. 126]sen Sünde ist diese, von der er sich in Fröhlichkeit hier ausruht? Hier ist Ruhe für ihn. Komm zur Bußbank!
ALLE
im Saal schreiend und winkend.
Das ist niemandes Sünde hier! Das ist niemandes Sünde hier! Ich will meine Sünde hören!! Meine Sünde!! Meine Sünde!! Meine Sünde!!
MÄDCHEN
durchdringend.
Was rufst du?
KASSIERER
Die Kasse.
MÄDCHEN
ganz drängend.
Bist du bereit?
KASSIERER
Jetzt bin ich bereit!
MÄDCHEN
sich an ihn hängend.
Ich führe dich hin. Ich stehe dir bei. Ich stehe immer bei dir.
Ekstatisch in den Saal.
Eine Seele will laut werden. Ich habe diese Seele gesucht. Ich habe diese Seele gesucht.
Lärm ebbt. Ruhe surrt.
KASSIERER
oben, Mädchen an ihm.
Ich bin seit diesem Vormittag auf der Suche. Ich[S. 127] hatte Anstoß bekommen, auf die Suche zu gehen. Es war ein allgemeiner Aufbruch ohne mögliche Rückkehr — Abbruch aller Brücken. So war ich auf dem Marsche seit dem Vormittag. Ich will euch mit den Stationen nicht aufhalten, an denen ich mich nicht aufhielt. Sie lohnten alle meinen entscheidenden Aufbruch nicht. Ich marschierte rüstig weiter — prüfenden Blicks, tastender Finger, wählenden Kopfs. Ich ging an allem vorüber. Station hinter Station versank hinter meinem wandernden Rücken. Dies war es nicht, das war es nicht, das nächste nicht, das vierte — fünfte nicht! Was ist es? Was ist es nun, das diesen vollen Einsatz lohnt? — — Dieser Saal! Von Klängen durchbraust — von Bänken bestellt. Dieser Saal! Von diesen Bänken steigt es auf — dröhnt Erfüllung. Von Schlacken befreit lobt sie sich hoch hinauf — ausgeschmolzen aus diesen glühenden zwei Tiegeln: Bekenntnis und Buße! Da steht es wie ein glänzender Turm — fest und hell: Bekenntnis und Buße! Ihr schreit sie, euch will ich meine Geschichte erzählen.
MÄDCHEN
Sprich. Ich stehe bei dir. Ich stehe immer bei dir!
KASSIERER
Ich bin seit diesem Morgen unterwegs. Ich bekenne: ich habe mich an der Kasse vergriffen, die mir anvertraut war. Ich bin Bankkassierer. Eine[S. 128] große runde Summe: sechzigtausend! Ich flüchtete damit in die asphaltene Stadt. Jetzt werde ich jedenfalls verfolgt — eine Belohnung ist wohl auf meine Festnahme gesetzt. Ich verberge mich nicht mehr, ich bekenne. Mit keinem Geld aus allen Bankkassen der Welt kann man sich irgendwas von Wert kaufen. Man kauft immer weniger, als man bezahlt. Und je mehr man bezahlt, um so geringer wird die Ware. Das Geld verschlechtert den Wert. Das Geld verhüllt das Echte — das Geld ist der armseligste Schwindel unter allem Betrug!
Er holt es aus den Fracktaschen.
Dieser Saal ist der brennende Ofen, den eure Verachtung für alles Armselige heizt. Euch werfe ich es hin, ihr zerstampft es im Augenblick unter euren Sohlen. Da ist etwas von dem Schwindel aus der Welt geschafft. Ich gehe durch eure Bänke und stelle mich dem nächsten Schutzmann: ich suche nach dem Bekenntnis die Buße! So wird es vollkommen!
Er schleudert aus Glacéhänden Scheine und Geldstücke in den Saal.
Die Scheine flattern noch auf die Verdutzten im Saal nieder, die Stücke rollen unter sie. Dann ist heißer Kampf um das Geld entbrannt. In ein kämpfendes Knäuel ist die Versammlung verstrickt. Vom Podium stürzen die Soldaten von ihren Musikinstrumenten in den Saal, die Bänke werden umgestoßen, heisere Rufe schwirren, Fäuste klatschen auf Leiber. Schließlich wälzt sich der verkrampfte Haufe zur Tür und rollt hinaus.
MÄDCHEN
das am Kampfe nicht mit teilgenommen hatte, steht allein inmitten der umgeworfenen Bänke.
KASSIERER
sieht lächelnd das Mädchen an.
Du stehst bei mir — du stehst immer bei mir!
Er bemerkt die verlassenen Pauken, nimmt zwei Schlägel.
Weiter.
Kurzer Wirbel.
Von Station zu Station.
Einzelne Paukenschläge nach Satzgruppen.
Menschenscharen dahinten. Gewimmel verronnen. Ausgebreitete Leere. Raum geschaffen. Raum. Raum!
Wirbel.
Ein Mädchen steht da. Aus verlaufenen Fluten — aufrecht — verharrend!
Wirbel.
Mädchen und Mann. Uralte Gärten aufgeschlossen. Entwölkter Himmel. Stimme aus Baumwipfelstille. Wohlgefallen.
Wirbel.
Mädchen und Mann — ewige Beständigkeit. Mädchen und Mann — Fülle im Leeren. Mädchen und Mann — vollendeter Anfang. Mädchen und Mann — Keim und Krone. Mädchen und Mann — Sinn und Ziel und Zweck.
Paukenschlag nach Paukenschlag, nun beschließt ein endloser Wirbel.
MÄDCHEN
zieht sich nach der Tür zurück, verschwindet.
KASSIERER
verklingender Wirbel.
MÄDCHEN
reißt die Tür auf. Zum Schutzmann, nach Kassierer weisend.
Da ist er. Ich habe ihn Ihnen gezeigt. Ich habe die Belohnung verdient!
KASSIERER
aus erhobenen Händen die Schlägel fallen lassend.
Hier stehe ich. Oben stehe ich. Zwei sind zuviel. Der Raum faßt nur einen. Einsamkeit ist Raum. Raum ist Einsamkeit. Kälte ist Sonne. Sonne ist Kälte. Fiebernd blutet der Leib. Fiebernd friert der Leib. Felder öde. Eis im Wachsen. Wer entrinnt? Wo ist der Ausgang?
SCHUTZMANN
Hat der Saal andere Türen?
MÄDCHEN
Nein.
KASSIERER
wühlt in seiner Tasche.
SCHUTZMANN
Er faßt in die Tasche. Drehen Sie das Licht aus. Wir bieten ihm ein Ziel.
MÄDCHEN
tut es.
Bis auf eine Lampe verlöscht der Kronleuchter. Die Lampe beleuchtet nun die hellen Drähte der Krone derart, daß sie ein menschliches Gerippe zu bilden scheinen.
KASSIERER
linke Hand in der Brusttasche vergrabend, mit der rechten eine Posaune ergreifend und gegen den Kronleuchter blasend.
Entdeckt!
Posaunenstoß.
In schneelastenden Zweigen verlacht — jetzt im Drahtgewirr des Kronleuchters bewillkommt!
Posaunenstöße.
Ich melde dir meine Ankunft!
Posaunenstoß.
Ich habe den Weg hinter mir. In steilen Kurven steigend keuche ich herauf. Ich habe meine Kräfte gebraucht. Ich habe mich nicht geschont!
Posaunenstoß.
Ich habe es mir schwer gemacht und hätte es so leicht haben können — oben im Schneebaum, als wir auf einem Ast saßen. Du hättest mir ein wenig dringlicher zureden sollen. Ein Fünkchen Erleuchtung hätte mir geholfen und mir die Strapazen erspart. Es gehört ja so lächerlich wenig Verstand dazu!
Posaunenstoß.
Warum stieg ich nieder? Warum lief ich den Weg? Wohin laufe ich noch?
Posaunenstöße.
Zuerst sitzt er da — knochennackt! Zuletzt sitzt er da — knochennackt! Von morgens bis mitternachts rase ich im Kreise — nun zeigt sein fingerhergewinktes Zeichen den Ausweg — — wohin?!!
Er zerschießt die Antwort in seine Hemdbrust. Die Posaune stirbt mit dünner werdendem Ton an seinem Mund hin.
SCHUTZMANN
Drehen Sie das Licht wieder an.
MÄDCHEN
tut es.
Im selben Augenblick explodieren knallend alle Lampen.
KASSIERER
ist mit ausgebreiteten Armen gegen das aufgenähte Kreuz des Vorhangs gesunken. Sein Ächzen hüstelt wie ein Ecce — sein Hauchen surrt wie ein Homo.
SCHUTZMANN
Es ist ein Kurzschluß in der Leitung.
Es ist ganz dunkel.
End of Project Gutenberg's Von morgens bis mitternachts, by Georg Kaiser *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK VON MORGENS BIS MITTERNACHTS *** ***** This file should be named 60952-h.htm or 60952-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/0/9/5/60952/ Produced by Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. 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