Irene Forbes-Mosse / Laubstreu
Irene Forbes-Mosse
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
Berlin und Leipzig
1923
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Alle Rechte vorbehalten
Druck der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart
Der Pelikan | 7 |
Mitleid | 21 |
Wie es die Kinder erlebten | 45 |
Etüde | 87 |
Die Waldschenke | 127 |
Die Verirrten | 145 |
Glückliche Zeiten | 159 |
Zoologie | 175 |
Laubstreu | 189 |
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Der Strauch erzittert, | |
Wenn ein Vöglein drüber flog, | |
Mein Herz erzittert, | |
Weil Erinn'rung es durchzog. | |
Petöfi |
Zwei Menschen wanderten im toskanischen Lande. Sie hielten sich fern von den großen Städten. Nicht aus Menschenscheu; denn große Liebe ist wie der Panzer des Ritters ohne Furcht und ohne Tadel. Aber es war in der Frühlingsvollendung ein Ermatten über sie gekommen, und in den kleinen, grauen Nestern, wo das Land mit tausend blühenden Obstbäumen, die Hügel hinan, gegen die alten Mauern zu Felde zog, ließen sich die letzten Tropfen mit trägeren, tieferen Zügen trinken. Hier waren nur einfache Menschen, die die Erde umgruben oder vor den Häusern saßen mit ihren Handwebstühlen und Korbflechtereien: irgendein graues Steinwappen über der Tür deutete wohl zurück in alte, streitsüchtige Zeiten, aber in diesem gleichmütigen Sonnenschein dachte man nicht an sie, streichelte ein Kätzchen, lächelte einem braunen Mädchen zu, das mit schönen überfließenden Kupfergefäßen vom Brunnen kam; da war kein Peitschenknallen, kein Menschengedräng, keine großen, weltberühmten Bauten, die beiden aus ihrem Behagen aufzuschrecken, wenn sie durch das silberne Land schlafwandelten, das sie anzublinzeln schien wie eine heimlich Verbündete. Ohne Plan gingen sie, hügelan und hügelab, zwischen Mauern auf engen gepflasterten Wegen, über die der Schattentanz der Olbäume zitterte, oder die Mauern hörten auf, und man sah weit aus ins Grau, ins Silber, von Mandel und Pfirsich und Kirsche weiß und rosig getupft; feine Kirchtürme ragten, zart und erlesen, und immer neue Hügel taten sich auf, breitschultrig und grau und gütig.
So kamen sie einmal zu einer kleinen Kirche, bei der ein paar verwitterte Denksteine standen und lagen, von wildem Salbei umwuchert; seitwärts eine niedere Mauer, das Gärtchen umschließend, wo eben der Pfarrer, mit geschürztem Kleide, die Gießkanne in der Hand, zwischen Artischocken und Brokkoli und süßduftendem Goldlack umherging. Als er die Fremden erblickte, kam er herbei, trocknete sich die Hände und stellte seine Führerdienste freundlich und selbstverständlich zur Verfügung. Denn in dem Kirchlein war ein schönes Grabmal von berühmter Hand, das weiß und unverletzt in der Verlassenheit ruhte, wie in Italien nicht selten, wo in weltvergessenen Winkeln die zartesten Wunder leben, als sei die Schönheit mit zerrissener Perlenschnur durchs Land gegangen, achtlos, wohin die schimmernden Tropfen rollten.
Sie traten in die Dämmerung der Kirche. Überall schälte sich der Bewurf von den Mauern, daß der zartrosa Ziegel und Überreste früher Fresken sichtbar wurden: hier eine flehende Hand, ein Stück blauen Gewands, dort ein runder Baumwipfel, mit Früchten und Vögeln beladen. Aber der Altar glänzte in neuer Ölfarbe und vergoldetem Zierat, und an den Wänden hingen die Stationen des Leidenswegs in grellbunten Bildern. Da – in einer Seitenkapelle – blieb alles zurück, das Grabmal lag so rührend in seiner wehrlosen Schönheit und hatte doch – wie einst eine reine Jungfrau ihre Heimatstadt vor der Pest bewahrte – die verwitterte Kapelle vor Kelle und Kalktopf und schlimmerer Unbill bewahrt.
Eine Schwester hatte es ihrem Bruder errichtet in jener Zeit, da man durch Werke selig und unselig wurde und es dafür wohl weniger Gedankensünden gegeben hat. Die Furchen des hagern, nachdenklichen Gesichts waren leicht bestaubt; in jeder Mantelfalte, zwischen den ums Schwert gefalteten Fingern hatte sich Staub angesammelt; so war der Ausdruck, trotz des dämmerigen Lichts, deutlich, gleichsam unterstrichen. Es lag freigebige, menschliche Güte auf diesen Lippen, ja ein wenig gutmütiger Spott zuckte in der Wange, schien hinüberzuwinken in eine spätere Zeit; aber die Stirn war entschlossen und sorgenvoll, und die Hände, zum Halten wie zum Geben tauglich, würden nicht lange die betende Stellung bewahrt haben, hätten sie gefühlt, wie jemand den schönziselierten Schwertknauf berührte.
An der Mauer gegenüber war die Grabstelle der Schwester, eine lateinische Inschrift an der Wand, und auf der Erde, da, wo ihr Sarg versenkt war, eine Marmorplatte mit eingemeißeltem Wappen und Federgekräusel. Sie hatte nur wenig Jahre nach dem Bruder gelebt, seinen Namen geehrt, sein Gut verwaltet und hier, bei seiner Ruhestätte, in der spitzfindigen Demut jener Zeit als Franziskanerin gekleidet, die ewige Ruhe gefunden, nachdem sie ihr Eigentum verteilt und im Hofe ihres Landhauses täglich alle die Elenden, die Bettler und Kranken und Krüppel gestärkt und verbunden hatte. Aus den alten Scheiben fiel Regenbogenlicht wie ein Schmetterlingsschwarm über die Ranken und Zacken des Wappenschilds. Ach, war es nicht schön und stolz, nach stillen, nützlichen Jahren hier zu ruhen, dem einen nahe, dem ihr ganzes Leben, wie selbstgesponnene und -gewobene Leinwand unter die Füße gebreitet war? Was auch sonst ihre kleinen, verbrauchten Jungfrauenhände geschafft und gewirkt, wieviel Wunden sie gewaschen, wieviel Brot sie verteilt hatten, diese Liebe war der Wein ihres Lebens gewesen ...
Die Frau trat zum Grabmal des Bruders zurück und legte ihre Hand in die sanfte Mulde zwischen Schulter und Brustwölbung, erschaffen, um ein schlafendes Haupt zu stützen, und bei Frauen eben groß genug, um ein Kinderköpfchen aufzunehmen.
Und es ging ihr ein schmerzliches Entzücken durchs Herz, wie eine Seligkeit, die man nicht nennen, nicht festhalten kann, kurz vor dem Erwachen in der Frühe, wenn der Traumfaden immer feiner wird und abreißt ohne Schluß.
Als sie nun wieder aus der Kirche herauskamen, sah die Frau, sich wendend, um Abschied zu nehmen, zu einem kindlich in Stein geschnittenen Neste über dem Türbogen empor, darin sich ein Pelikan für seine Jungen die Brust zerfleischte.
»Das ist,« sprach der Pfarrer, ihrem Blicke folgend, »unsere Heilige-Mutter-Kirche, die sich den Sündern und Verirrten hingibt und die Traurigen und Mühseligen an ihr Herz nimmt wie der Pelikan seine Kinder ...«
Wie katholisch, dachte die Frau. Dieser freundliche Mann will jedem, der mit den Wellen kämpft, ein Ruder hinhalten, ihn daran zurückziehen in die große Familienarche. Seine Religion hat so viel Winkel und Schnörkel und Ruhepunkte wie die alten gotischen Dome, in deren Zacken und Simsen Tauben nisten.
Dann schnitt der Pfarrer Goldlack für sie ab, und wie sie so dastand, halb noch zurückgewendet, hätte sie in der Demut ihres Herzens am liebsten still ein Kreuz geschlagen; auch tat es ihr leid, daß er gemerkt hatte, daß sie nicht zu seiner Kirche gehörten, und so gütig und ausführlich hatte er ihnen doch alles erklärt. Darum hätte sie das symbolische Zeichen, das niemand schaden kann und dem alten Manne heilig war, gern angebracht; aber sie war nicht allein und verpaßte den Augenblick, und wenn man in Gefühlssachen nachdenkt, so unterläßt man Dinge, die eigentlich so einfach sind.
Nach Jahren kam sie allein zurück. Sie bewohnte ein kleines Fremdenheim am äußersten Gürtel der Stadt, wo sie in kurzer Zeit ins freie Land gelangen konnte. Es war Sommer, und den ganzen Tag ging die Feile der Zikaden von den Platanen der Ringstraße. Feigen gab es in Überfluß, an jeder hing die reife Süßigkeit wie ein klarer Bernsteintropfen; aber Rosen gab es nicht mehr. Die Erde war wie gebacken, die Hecken an den Wegen staubgepudert und leblos; auf der Windseite hatten die Zypressen einen grauen Überzug, und die Luft schmeckte nach Staub; es würde noch Wochen dauern, bis Regen kam. Wenn sie dann am Abend ihr Fenster auftat und die noch glühende Luft hereindrang, dachte sie manchesmal an jungen Buchenwald in ihrer Heimat, wenn sich die Kronen nach einem Regenschauer dehnen, oder an die Wiesen daheim, noch ungemäht, wo zwischen Erlen und Haseln der Bach schlüpft, übervoll, durchsichtig braun mit goldenem Sonnengekringel; aber doch sehnte sie sich nicht fort. Ihre Bekannten hatten längst die Stadt verlassen, aber das Losreißen wurde ihr schwerer denn je, ach, überall hatten sich Wurzeln ihres Herzens festgesaugt. Nun war die Zeit, da die fliegenden Buden der Limonadenverkäufer aus der Erde schossen, mit unzähligen, vielfarbigen Flaschen, mit Papiergirlanden und baumelnden Zitronen geschmückt; arme Kinder gingen und kauften sich Eis, löffelweis, für zwei Centesimi, und das winzige Schwesterchen, dem ein kleiner Papierfächer am Ärmchen hing, leckte zuerst, und der große Bruder leckte auch, aber eigentlich tat er nur so, damit das Schwesterchen alles bekäme. Die Militärmusik spielte auf den Plätzen, und schöne sonnenbraune Ammen, die mit ihren bunten, getollten Haarbändern wie eine Versammlung königlicher Georginen breitschultrig auf allen Bänken saßen, die Bambini mit den Samtaugen streichelnd und ihre braunen Brüste darreichend, schwatzten mit heiseren toskanischen Kehllauten und wiesen beim Lachen ihre kleinen, gesunden, feuchtglitzernden Zähne. Aber auch drinnen in der Stadt verlegte sich das Leben mehr und mehr auf die Straße. Aus all den Rembrandthöhlen der Schuster und Schreiner tauchten alte und junge Gestalten und schafften vor offenen Türen; und bei offenen Türen auch übte der Barbier seine Kunst aus, in seiner weißen Jacke geschmeidig wie ein Hermelin. Als wäre man mitten in eine Komödie von Goldoni geraten, oder als sollte im nächsten Augenblick die Musik zum »Liebestrank« einsetzen und Doktor Dulcamaras Wunderkarren auf den Platz rollen. Nun war die Zeit, daß die Statuen und Gemälde in den verlassenen Galerien ihr zu winken schienen: »Wie, du willst gehen? Bleibe, wir sind allein, wir wachen und reden, Heidengötter und Christengötter, alle hat uns die Schönheit angehaucht mit ihrem unvergänglichen Kuß.« Und um sie alle wob die Einsamkeit immer wieder jene feine, befremdende Luftschicht, die erlesene Kunstwerke umgibt, anlockend und abwehrend und niemals ganz bezwungen.
Aber das liebste von allem waren ihr die stillen Höfe der Kirchen, die früher Klöster gewesen sind. Mit ihren großen, schläfrigen Katzen, dem heißen sonnigen Fleck in der Mitte und darüber ein Stückchen tiefblauen Himmels; plötzlich ein leuchtender Taubenflug, wie rauschte das durchs Herz! In den Klosterhöfen schimmerten die fedrigen Sterne an den Myrtenbüschen, bitter würzig; aber die Oleanderblüten lagen gebräunt und verwundet auf den Steinplatten der Kreuzgänge; unaufhaltsam destillierte die Sonne das flüchtige Öl aus Kräutern und Blättern. Und stundenlang konnte sie da sitzen, auf einem Mäuerchen, einem Säulentrümmer ... bis schließlich der freundliche Kustode kam und sagte, es würde geschlossen ...
Es war gegen Abend, als der kleine Einspänner sie nach jenem Kirchlein fuhr, das sie seit damals nie wiedergesehen hatte. Die grausamen, quälenden Jahre waren nun vorbei, als sie Augen und Ohren zuhielt, nur um nicht erinnert zu werden, als sie Ruhe nur fand an Stätten, wo sie früher nie gewesen. Jetzt hatte sich etwas geändert. Denn es war so vieles seither über sie hereingebraust, Dinge, von denen man weiß, daß sie immer in der Welt waren, daß sie niemals unmöglich sind; aber am eigenen Weg hatte man sie nie erwartet, und auf einmal sind sie da und legen einem die Hand auf die Schulter – wie wenn einer verhaftet wird, der sich sicher fühlte im Menschengewühl. Ach, diese harten, einfachen, trostlosen Dinge, die da gestanden hatten und gewartet ... Und jetzt, auf einmal, hatte sie Heimweh nach jenem ersten brennenden Leid, heute schien es ihr kostbar, denn es war ja so traumhaft verwoben mit Lebensdrang und Ungeduld und Entzücken, und nun suchte sie in der Erinnerung, und siehe, der Schmerz war dumpfer geworden, aber das Freundliche, das Entzückende jener Tage lebte auf, und Stunden gingen an ihr vorüber und lächelten ihr zu, den Finger an den Lippen.
Ach damals, wie alles zu versinken schien, jung war damals ihr Herz; jeder Nerv hatte sich kläglich gewunden und um Gnade gefleht, wie ein verbranntes Kind das Händchen hinhält und nicht glauben will, daß das je vorübergehen kann. Aber es hatte sich doch gewandelt; denn die großen, harten Dinge waren gekommen und die Zeit war gegangen, grau und unbekümmert, und nun war sie wieder hier und witterte und horchte und suchte ihr erstes Leid in zitterndem Heimweh. Und fand es wieder an abgeschrägten Straßenwinkeln, wo man zwischen Mauern hinuntersieht, und ganz in der Ferne sind die unvergessenen Hügel, zart und karg und traurig im Abendrot, die Straße führt hin, führt ins Paradies ... fand es wieder, wenn sie ein Lorbeerblatt zwischen den Fingern rieb oder wenn am Abend der Geruch von schwelendem Rebenholz durch die Luft zog ... fand es wieder, wenn sie nachts, halb schon im Schlaf, die ächzenden Karren hörte, den heiseren Gesang der Männer, die, einen Grashalm im Mund, auf ihren Lasten ausgestreckt, die Pferde im Sternenlicht lenken.
Der Wagen hielt; an dieser Stelle ging das letzte Stückchen Wegs steil aufwärts. Die Frau stieg aus; auch damals waren sie hier ausgestiegen, um das kleine eifrige Pferd zu schonen. Der Himmel öffnete seine Perlmutterschalen über der matt atmenden Welt. Der kleine Garten war leer, der Pfarrer nicht zu sehen, aber drinnen in der Kirche putzte eine alte Frau den Altar mit Papierlilien. Sie schritt nach der Seitenkapelle. Dort war es beinah Nacht, das bunte Fensterglas schwarz, nun die Sonne es nicht mehr durchglühte. Aber der stille Mann schimmerte treugeduldig in seiner Einsamkeit, und auf seinem Antlitz fand sie das feine, sorgenvolle Lächeln wieder, als warte er auf einen Ruf, auf eine Antwort und sähe ein, daß er sich für heute bescheiden müsse; ja, noch lebendiger schien ihr der Mund, schienen ihr die kraftvollen Hände, als ob das Herz noch immer, stillgeschäftig, seine Eimer vollschöpfte und wieder ausgöße in das Geäder des ruhenden Leibes. Ja, da war auch die Mulde zwischen Schulter und Brust, groß genug, daß man den Kopf hineindrücken konnte, dort Stein zu werden in tiefem, wunschlosen Schlaf. Sie fühlte Tränen in der Kehle und biß sich auf die Lippen, denn Weinen war ihr keine Erlösung. Schritte hallten durch die Kirche, es war die Frau, die zuschließen wollte für die Nacht. Da wandte sie sich ab und ging, und hinter ihr blieb der Schlummernde allein. Nun stand sie draußen, und die Luft war um sie wie linder Atemzug. Über ihr leuchtete das Nest des Pelikans im letzten Licht. Da schien ihr, als sei's das Sinnbild der Frauenliebe, die gern das Letzte hingibt und ihr Glück bezahlen muß mit Geduld und mit Gefahr.
Ob es uns gutgeschrieben wird, daß wir Menschen alles so teuer erkaufen, dachte sie. Wie heißt's doch immer, wenn die Richter mitleidig sind und ein Einsehen haben: die Untersuchungshaft soll angerechnet werden ... Bei uns daheim hing ein Knüttel am Stadttor, darunter stand: Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet später selber Not, den schlag man mit der Keule tot. Das war sehr alte, und doch ganz moderne Weisheit, viel moderner als deine, alte Pelikanmutter! ... Bin ich meiner Mutter dankbar, daß sie mich in dies Leben brachte? dachte sie wieder. Maskenfeste in Labyrinthen, hier und da ein Umschlingen, bleibe, ach rede zu mir, dieselbe Sprache reden wir ja. Oh, nur bis der Weg sich teilt, dann wieder allein, fremde Zungen ... Und wenn man dann nicht mehr zu jemand sagen kann: es war alles gut, Nacht und Licht, Süßigkeit und Bitterkeit, nur Dank fühle ich, Dank sei dir heute und immer – oder wenn man im Morgengrauen erwacht und an die Augen von Schwerkranken denkt, wie auch sie den Tag erwarteten, der keine Hoffnung brachte, und die Fensterscheiben fingen an hell zu werden ... o das! Schöne, schöne Erde, warum wird es uns so schwer gemacht!
Der Tag war ganz geschwunden, das steinerne Nest über ihr sah grau und geisterhaft in die Luft, wo die Fledermäuse anfingen hin und her zu zucken. Unter ihr, im Dunst, erwachten viele Lichter; dort war Leben und Lärm, hier oben war es totenstill. Sie dachte an den alten freundlichen Pfarrer. Unsere Mutter Kirche, hatte er gesagt. Ob sie wirklich die Menschen trösten konnte, wenn sie sich so hineinwühlten, wie Kinder in das Kleid der Mutter? Versprach sie ihnen doch so vieles, hatte so schöne, schauernde Worte der Verheißung; man mußte ihnen glauben, so schön waren sie. Und das eben war es wohl, was die Kirchen immer wieder stützte und aufrecht hielt: die Sehnsucht nach den Toten.
Sie ging langsam den steinigen Weg zum Wagen hinunter, zwischen Mauern, über denen dunkle Köpfe sichtbar wurden. Ein kleiner Spitz lief oben entlang und gab ihr kläffend das Geleit. Das heiße Feilen der Zikaden hatte längst aufgehört, aber aus allen Gräben und Mauerritzen zirpten nun die Grillen, kühl und zart. Das war wie daheim auf den großen Waldwiesen, wo jetzt die Glockenblumen standen und das Zittergras. Sie horchte auf und schlug die Hände ineinander. Nun wollte sie heimreisen; sie hatte gefunden, was sie suchte. Nur noch vereinzelt klang der Grillenton, wurde immer weniger, je mehr sie sich der Stadt näherte. Es war ganz dunkel geworden, hier dauerte die Dämmerung nur kurze Zeit. Sie saß sehr aufrecht, mit weit offenen Augen. So fuhr sie zurück durch die laue, windstille Nacht.
La peine qu'on a n'est rien, mais celle qu'on a faite aux autres empêche de manger son pain. |
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P. Claudel |
Sophie Barnekow hatte geklopft, ohne Antwort zu erhalten; nun öffnete sie leise die Tür, um sie aber sofort wieder zu schließen, behutsam, wie man's in der Krankenpflege erlernt.
Dort im halbdunkeln Raum, wo die Sonne durch die schräggestellten Läden glitt und goldene Leitern auf die Dielen malte, wo der Geruch von Reseda und nassem Kies und das leise Klirren von Gießkannen durch die offenen Fenster eindrang, saß Meisi, ihre junge Herrin und Schutzbefohlene, nicht allein. Neben ihr, die Hände um eine Stuhllehne geschlungen, stand Rütten. Ohne die Frau zu berühren. Und doch, hätten sich beide in den Armen gelegen, festgeklammert, Blick in Blick getaucht, nicht deutlicher hätte es von letztem, bitterstem Abschied reden können.
Von Meisi war nichts zu sehen gewesen als der braune Hinterkopf und das feine Genick, da, wo der Haaransatz in warmen goldenen Flaum überging; tief auf den Tisch gebeugt. Wie oft befestigte Sophie das kinderweiche und doch eigensinnige Haar, mit ganz wenig Nadeln, weil alles gleich Kopfweh machte; immer wieder glitten die Zöpfe hinunter, dann mußte Sophie leise erinnern: »Liebste, Ihre Haare.« Und auch eben hatte das Ende einer Flechte über die Schulter gehangen. Kleine physische Eigentümlichkeiten geliebter Menschen können einem ans Herz wachsen und es seltsam wehrlos machen, mehr als die Tugenden, die sie besitzen oder die wir ihnen andichten. So fuhr's ihr auch jetzt durchs Herz, und was erst Erschrecken gewesen, empfand sie nun als tiefe, schmerzende Zärtlichkeit. Sie seufzte auf und schlüpfte in ihr Zimmer gegenüber zurück.
Starke Leidenschaften, die ihr Ziel in offenem Aufruhr oder auch durch List und Heimlichkeit und manche schmerzliche Selbsterniedrigung zu erreichen wissen, waren Sophie fremd geblieben. Sie wußte, es gab dergleichen. Aber doch nur so, wie man von Mormonen liest oder von den Bacchanalien entarteter Cäsaren. In ihrem klaren, hilfreichen Wesen, ihrem Abscheu vor jeder Unsauberkeit und Unordnung war kein Raum für Ungeregeltes; eine verbotene Liebe lag ihr im Grunde ebenso fern wie Taschendiebstahl. Dabei – oder vielleicht gerade deshalb – konnte sie von verblüffender Parteilichkeit sein, wenn sich's um Menschen handelte, die sie liebte. Sie war aus dem Holze geschnitzt, das gute Royalisten abgibt. Wen sie einmal liebte, zu dem hielt sie auch, er mochte tun und lassen, was er wollte; das war doch sehr einfach. Und dann – bei näherem Zusehen müßten gewiß Gründe genug zu finden sein, die alles erklären würden; wenn sie selbst auch gar nicht danach suchte.
Auf ihrem Bett lag die eben abgelieferte Wäsche. Ihr Blick glitt an einem grauen Leinwandkittel entlang, der in seiner knabenhaften Spärlichkeit etwas von Meisis Umriß bewahrte. »O du Armes,« sagte sie vor sich hin, und ihre Augen fingen an zu brennen. Dann begann sie mit ihren feinen, verbrauchten Händen die Sachen zum Ausbessern zurechtzulegen.
Drüben in dem dämmrigen Zimmer war es sehr still. Die leise Stimme des Mannes redete in abgebrochenen Sätzen, so von fernher, wie Selbstgespräch. Die Frau hörte und hörte auch nicht. Denn ihr war, als hätte sie's längst gewußt, daß er einmal so reden und handeln würde. Es hing ja alles in ihm – wie man es sonst nur bei Pflanzen findet – ganz selbstverständlich zusammen; so wie die äußersten Zweiglein einer Eiche immer noch die Gewaltsamkeit der Äste, den Eigenwillen der Wurzeln ausdrücken. Es waren in diesem Manne wenig Widersprüche, er mußte handeln, wie er empfand, mußte dies lieben, weil ihm jenes widerstrebte, selbstverständlich und unerbittlich in seinen Neigungen und Abneigungen wie ein Tier, wie ein Künstler, wie ein kleines Kind.
Meisi drückte noch immer die Stirn auf den Arm, der sich um die Tischkante krampfte; denn sie empfand es dumpf: solange sie nicht aufblickte, würde er nicht fortgehen, erst mußte er ihr Einverstehen in ihren Augen erzwingen, eher konnte er sie nicht allein lassen, nicht aufhören zu reden, zu überzeugen. Und ob ihr auch das Blut in den Ohren rauschte und sie kaum verstand, was er sprach: ach, er war doch immer noch da, sie atmete den leisen Duft seiner Kleider; eins nur sollte er nicht, nicht aus dem Zimmer gehen. Oh, solche Tür, die zufällt, nein, nur das nicht. Dableiben, im Zimmer bleiben, er sollte sich auch gar nicht um sie kümmern. Am allerseligsten war es doch immer gewesen, wenn sie still im Zimmer saß und nur auf die kleinen Geräusche horchte, wenn er den Bleistift hinlegte oder wieder ein paar Seiten aufschnitt in dem dicken, verzweiflungsvollen Buch, das er las. Über Heimindustrien war's gewesen. O Gott, die unglücklichen Menschen, von denen da erzählt wurde; welch entsetzliche Winkel gab es in der Welt, warum durfte das sein! Wenn sie ein König gewesen wäre, all die stillen, leeren Königsschlösser hätte sie den Armen aufgetan, herrlich erwärmt im Winter und im Sommer kühl und hallend inmitten heißer brütender Wiesen, mit grünen Schattengängen und Nachtigallenschlag. Man dachte nicht genug an andere, wenn man selber glücklich war, ach glücklich zum Sterben, als versänke und ertränke man in einem riesenhaften Maiblumenstrauß und würde ohnmächtig vor lauter Wonne. Ob so arme schmutzige Menschen jemals so etwas hatten? Immer nur Ruß und Lärm oder zu Haus zusammengepfercht mit verklebten Fenstern. Und alles so häßlich, auch die Kinder, und nichts, auf das sie sich freuen konnten morgens beim Erwachen. Aber Gerhard würde etwas ersinnen, um ihnen zu helfen, er schien Hilfe auszuströmen wie kluge Ärzte. Natürlich, es brauchte alles Zeit, und einstweilen war es doch kein Unrecht, wenn Glückliche ihr Glück genossen. Sie wollte niemand etwas wegnehmen, das brachte sie gar nicht fertig, es hätte ihr alles vergällt, aber ihn – ihn konnte sie nicht hergeben. Sie war abergläubisch geworden. Wenn sie etwas Hübsches besaß und jemand bewunderte es, gleich hatte sie's hergeschenkt. Hatte vielleicht Gott bestechen wollen mit Opfergaben, damit er ihr das Eine, Einzige nicht wegnehme ... ja und nun nahm er es doch.
Immer fester drückte sie die Stirn auf den untergelegten Arm. Wie gern hätte sie nach seiner Hand gegriffen, da, ganz nah; aber sie wußte, dann würde er sie streicheln und emporziehen und sie mußte noch einmal sagen: Nein, nein, ich kann nicht – ja, und dann würde er gehen.
»Meisi,« sagte die Stimme über ihr, »was hilft das Hinausschieben, es geht doch so nicht weiter. Du willst nicht mit mir gehen, und so wie du nun einmal bist und wie die Dinge liegen, verstehe ich ja, daß du, der es so hart ankommt, Schmerzen zu bereiten ... Und es ist auch begreiflich, daß dir mein Schmerz erträglicher scheint, eben weil du ihn teilst, während du dort einen tiefen Schnitt tun mußt und deiner Wege gehen. Ja, und auch darin hast du recht, wenn du auch sehr zornig warst, als du es sagtest, ich sei nicht so schlimm dran wie du, ich hätte meine Freiheit und meine Arbeit und mein Bergsteigen. Nun, das Bergsteigen wollen wir fürs erste nicht zählen (er lächelte, o so traurig) – diese Freuden, siehst du, waren so eins mit dir, daß das alles zu – anders wäre. Aber meine Arbeit, ja, die wird mir helfen, darauf zähle ich auch. Zuerst wohl nur als Betäubung ... aber man muß eben graben und graben, und wenn man nach Jahren der Wahrheit um einen Kinderschritt näher gekommen ist, so ist das ja wohl auch Glück. Und alles das sag' ich dir, Meisi, damit du ganz ruhig seist, was mich angeht.«
Meisi hob ein wenig den Kopf. Sie hatte einen roten Fleck an der Stirn, vom Tischrand; es sauste und sang in ihren Ohren. Ach Gott, es war zu Ende, ganz und gar, er ging fort. Sein Gepäck, das sie so gut kannte, sie hatte ihm ja manchesmal geholfen es auszupacken, die große Ledertasche, die so gut roch, und der rauhe Mantel aus ungebleichter Wolle, alles würde aufgeladen werden, und er würde dem Maulesel voran den Paß hinunterlaufen, als ging es zu einer Bergpartie. Aber den nächsten Tag käme er nicht zurück, braungebrannt und freundlich und still, den Bergfrieden auf der Stirn und wie das Rieseln der kleinen Bergbäche in der Stimme. Sie würde auf der Terrasse hinter dem Gasthaus auf und ab gehen, wo der Pfarrer und der Wirt und der kleine italienische Schuster Boccia spielten am Abend und auf dem Mäuerchen Kürbisse lagen zum Dörren. Die lustigen bayerischen Malerinnen würden herauskommen, Schnaderhupfl und Kugelhupfl, wie Gerhard sie nannte, und das junge englische Ehepaar mit dem Kätzchen, und sie würden fragen: »Kommt Ihr Freund heut abend zurück?« Nein, nicht heut, nicht morgen, nie wieder.
Sie hatte eine besondere, qualvolle Fähigkeit, kommende Trostlosigkeit zu wittern, zu schmecken, ihre Kälte im voraus zwischen den Schulterblättern zu fühlen. So konnte sie sich sein Zimmer, ach das liebe, liebe Zimmer, vorstellen, wenn alles verpackt war und alles wieder fremd geworden, schon abgewandt, Menschen und Dinge treulos geworden einander. Ja, dies Zusammenschnüren in der Herzgrube, das den Zurückbleibenden schärfer anfällt als den, der geht, sie spürte es schon jetzt. Wenn die Dinge nachher eintrafen, war's wie ein Erkennen, als hätte man schon die Generalprobe dazu erlebt. Dank dieser Fähigkeit konnte sie dann gefaßter und umsichtiger sein, als man es ihrem raschen, wechselnden Temperament zugetraut hätte.
»Meisi, mein Liebes,« sagte die Stimme, und sie verbarg die Augen wieder auf dem Arm – er sollte nicht darin lesen, nicht ihre Ergebung, ach, sie war nicht ergeben, aber auch nicht ihre Hoffnungslosigkeit, die auf dasselbe herauskam – »ich will dich nicht betrüben und unruhig machen; wie du geschaffen bist, muß dein Gefühl allein entscheiden. Zerbrechen kann ich, will ich dich nicht. Aber denke an eins: es ist ein Ding, für einen anderen sterben, rasch, mit geschlossenen Augen ins Feuer hinein; aber etwas anderes ist's, für einen anderen verdursten, verkümmern, langsam an jedem Nerv den Tod erleiden, Tag für Tag. Da kann Opferfreude zu Haß werden, und wo man reichlich geben wollte, gibt man schlechtes Maß. Und dann ist nur Bitterkeit und Reue um jeden Sonnenstrahl, um den man sich gebracht hat. Darum, wenn du doch den einen, tiefen Schritt tun könntest, so sei nur immer gewiß, ich bin da. Aber warte nicht, denn es wird immer schwerer und weniger reinlich. Du hast es manchmal hart empfunden, daß ich so finster war, und hattest mir doch alles zu Liebe getan. Und mußt den Grund doch geahnt haben; brauchst mich ja nur anzusehen, so weißt du, was ich denke. Weil du's so gut verstanden hast, alles aus dem Weg zu räumen, was dir hier ja nicht schwer wurde, denn wer betet dich nicht an, ob es nun Sophie ist oder der alte Pfarrer oder die anderen Gäste und der kleine Schuster, der dir Nägel in die Schuhsohlen klopft ... Aber auch mit allem, was sich in uns selber gegen uns erhob, wußtest du so gut fertig zu werden, immer hattest du ein gutes Wort bereit. Wenn ich dich so herumtrippeln sah wie ein Bachstelzchen, besorgt und doch triumphierend und immer ganz sicher durch tausend Windungen und Verdrehungen deinen Weg findend, und mußte mir sagen, das ist nun die Spur von meiner Hand in deinem Leben ... Meisi, laß es klar um uns werden! Ja, ja, ich weiß, du hast ein Leben von Szenen und Aufregung gehabt und das ewige Ausweichen ist dir Gewohnheit, ach und dein Verlangen nach Ruhe und Harmonie wollte sich's auch einmal wohl sein lassen. Da bautest du ein Labyrinth, in dem du jeden Ausweg kanntest, und hast unsere Liebe gehütet und versteckt und getröstet mit deinen lieben schönen Händen. Aber nun geht das nicht mehr, es kommt ein häßlicher Tropfen in unser Bestes. Meisi, wie gestern Sophie den Brief hinlegte, ohne dich anzusehen, und du stecktest ihn in die Tasche, ohne ein Wort ... ach, mich schüttelte der Ekel. Was sag' ich dir da für harte Worte. Und du bist so weich und so traurig. Aber ich muß es doch aussprechen, denn du allein mußt ja entscheiden. Was brauch' ich dir zu sagen, was du mir bist! Wenn du ins Zimmer kommst, ist alles gleich anders; immer ist Festtag um dich her. Wie oft hab' ich wachgelegen, ganz früh, wenn du noch schliefst, und die reine Morgenluft kam herein und schien eins zu sein mit dir – und da habe ich das Leben gesegnet, das mir so viel geschenkt. Und wenn ich las und schrieb – trockenes Zeug – ach, wie ein süßer Unterton warst du doch immer dabei; bei allem, was ich tat. Oft hab' ich über dich gelacht, wenn du bei jeder Frage, jedem Fortschritt sagtest: ›Wem wird das nützen?‹ Aber es war mir doch lieb an dir, wie deine Tränen der Empörung und deine Art, Krankes und Kleines anzufassen und einfache Leute zutraulich zu machen. Wenn du sie auch oft recht süß zu beschwindeln wußtest ... nun ja, aber du hast sie glücklich gemacht. Und all das Liebe, das du anderen antatest, das tatest du mir an, denn auch das machte dich mein, machte mich so gänzlich dein, auch wenn ich in einer Gedankenwelt, die dir fremd blieb, einherging und meine Erkenntnis ausprobte, einriß und wieder zu neuer Überzeugung aufbaute, ohne zu wissen für wen, nur weil's mich trieb. Aber du standest und hattest arme Kinder an der Hand und sagtest immer: ›Du mußt helfen, du mußt helfen‹ ... Ach, wenn ich doch uns selber helfen könnte!«
Seine Stimme wurde noch leiser, es war nur ein Flüstern über ihr, das sie mehr fühlte als verstand; an ihrer Schläfe die weiche Haarwelle, alles zitterte mit.
»Ich habe dich bewundert, Meisi, denn du bist sehr süß und kostbar, und bist auch viel gescheiter, als du dich ausmachst, du Siebenschläfer. Und hast mich auch namenlos erbarmt, weil du scheu und verlassen warst, wie irgendein Waldtierchen, das eingefangen wurde und nur fortmöchte ins Dunkel. Ach, du liebst nicht über dich zu reden, und wenn ich dich frug, und war's auch noch so behutsam, da hast du nur gelächelt, wie gequält. Aber ich habe dich besser verstanden, als du weißt, und du hast niemand so angehört, wie du mein eigen warst. Und darum weiß ich, daß du eine Eigenschaft hast, gegen die ich machtlos bin; es ist eine seltsame Trägheit, wenn sich's um dein eigenes Glück handelt, und daß du nicht kämpfen magst um irgend etwas. Lächelst hinauf und denkst: Ja, der schöne Apfel, wenn er doch herunterfiele ... aber es wird ja doch nicht geschehen! Nicht weh tun, warten, gegen alle freundlich sein – ja, Meisi, du brächtest es fertig, gegen den Henker freundlich zu sein. Und unterdessen rinnt das Leben vorbei. Wenn ich wüßte, daß du irgend etwas hättest, eine Arbeit, ein Ziel, etwas, das dich frei und mutig macht, und müßt' ich dich dadurch erst recht verlieren, dennoch Meisi, dennoch ... Aber ich weiß, daß dir nichts bleibt als Kälte und Leere, und wenn du dich hineinfindest, das ist erst recht traurig. Aber eins hast du, haben wir, unseren Schmerz, niemand darf die Hand dran legen, heut ist er noch unser, gehört uns ganz allein, und darum müssen wir voneinander gehen, wo alles noch ganz kostbar ist und es uns so furchtbar wehtut.«
Ein stärkerer Hauch trieb den Resedaduft ins Zimmer, man hörte fernes Räderknirschen, ein Hund bellte irgendwo ... es war so still, wie verzaubert. Der Mann fuhr sich über die Stirn und wandte sich zum Fenster; denn es schluchzte etwas in ihm auf, und er mußte das erst zur Ruhe bringen. Meisi kroch noch mehr zusammen, machte sich ganz klein wie ein krankes Kätzchen. O wie grauenhaft alles doch war! Sie hatte nicht alles verstanden, aber etwas Kaltes saß ihr in der Brust und dehnte sich, wurde immer größer, und die Füße waren ihr wie zerschlagen. Wenn er sie doch chloroformieren möchte und in einen Wagen packen, nichts fragen, nichts sagen, und am nächsten Morgen würde sie an seinem Herzen aufwachen, irgendwo über der italienischen Grenze, wo es ganz heiß war und die weißen Häuser schliefen und die Zikaden in den Bäumen sägten! Wo man den Tag verschlief. Wenn er sie doch ganz rasch nehmen wollte oder ihr einen Schlag vor die Stirn geben, daß sie die Besinnung verlöre und gar nicht sagen könnte: »Ich will«, oder »Ich will nicht«; wie man Tiere betäubt vor dem Töten. Aber er war seit acht Tagen so anders, nachdenklich und freudlos, seit sie ihm gesagt, Emmo käme her; es würde wohl alles recht schwierig sein; besser, er machte zunächst eine Bergtour, aber sie würde schon alles einrichten, auf keinen Fall dürfe er ganz weg, das hielte sie nicht aus. Wie er sie da angesehen hatte – ganz fremd war sein Gesicht geworden. Und seitdem hatte er ein-, zweimal von Entscheidung gesprochen, von Wahrheit, von einem tiefen Schnitt; und den sollte sie tun. Und das konnte sie doch nicht. Lieber tausend Lügen als eine solche Grausamkeit. Begriff er's denn nicht, wie nötig sie daheim war? Ob er erwartete, daß sie ihm das erklären sollte? Sie konnte doch von »dort« mit ihm nicht reden. Ach, warum verstand er sie nicht! War denn in der Liebe immer ein Teil Tortur? Konnte man sich nie dehnen und alles vergessen? Manche Namen, wie sollte sie die vor ihm aussprechen! Vergaß sie doch am liebsten, daß es für sie ein Zuhause gab, jetzt, wo dies kleine, hellgetünchte Zimmer ihr Heimat geworden. Aber nun sah sie alles deutlich: den armen, jähzornigen Menschen, der es so gar nicht verstand, mit anderen auf die Länge auszukommen, die Schwägerinnen, zarte, verblühte Mädchen, die auf so viel verzichtet hatten ihm zuliebe und auch ihr; und dann war da ihr eigenes Vermögen, es war im Gut verbuttert worden während der letzten, schlechten Jahre; Emmo würde es herauszahlen, »ihr vor die Füße werfen«, ja, so würde er sagen, und dann brach alles zusammen. Das alte, einstöckige Haus, jetzt im Spätsommer sah's so wohlwollend aus, wie eine alte Frau, die in der Sonne sitzt und in allen Runzelchen lächelt. In den Lindengängen war es so still, und im Blumenrondell duftete das Heliotrop einsam in der Sonne. Die Blumen kamen dankbar in dem leichten, sandigen Boden; die Zimtnelken in den Rabatten, in allen Farben, und Skabiosen, wie große Brombeeren; kleine, stahlblaue Schmetterlinge flogen drüber hin in der klaren Septemberluft. Am Haus die großen Fuchsienbüsche in den grünen Holzkübeln, sie waren der Stolz der alten Frau gewesen. Ach Gott, ja, die Gräber im Park, in den Birken ... der Wald fing gleich dahinter an mit seinen riesigen Föhren und Ameishaufen. Manchmal saßen Eichkatzen auf den Grabsteinen. Ja, das war Emmos Heimat, und auch Freda und Mariagnes waren dort aufgewachsen. Das mußten sie doch behalten, den großen Saal oben, wo es so hallte, wo noch die Efeulauben standen, in denen die Schwägerinnen ihre Puppenkaffees gegeben hatten; Freda von kleinauf kränklich, und Mariagnes? So eine arme, verbitterte Hofdamenexistenz, Gradnitz bedeutete ihre ganze Jugend, ihr letzter Ehrgeiz, das Spalier, an das sich ihr blasses Wesen anklammerte. Nein, nein, es war alles Unsinn; fast wallte Zorn in ihr auf, daß Gerhart von dem tiefen Schnitt gesprochen, als sei es denkbar. Nur nicht grausam sein, nur das nicht. Nachher kam das Mitleid, diese bohrende Qual, und machte alles zunichte.
Aber er – still und ernsthaft dort am Fenster; und »nicht lügen« las sie auf seinem Gesicht. Ja, das war so seine Art. Er vertrug nichts Schiefes in sich, ebensowenig wie ein schiefhängendes Bild an der Wand. Die Tischdecke mit dem häßlichen Muster hatte er gleich hinausgeworfen, als sei's ein Feind. So wollte er auch nichts, das ihm ihrer Seele Bild verdarb. Ach, was ging sie ihre Seele an! Da war ja so ein Spruch, von der Seele, an der man Schaden nimmt, und wenn man auch die Welt gewönne. Sie wollte die Welt gewiß nicht gewinnen, aber um ihre Seele sorgte sie sich nicht. Vielleicht hatte sie gar keine. Nur ein Herz, und das tat ihr weh. Wie doch die Menschen verschieden liebten. Nicht besser, nicht schlechter, nur verschieden. Ihr war alles so einerlei. In einem Keller, mitten zwischen Kohlen und alten Fässern und Kisten würde sie ihn getroffen haben und geküßt und gemeint, es sei das Paradies um sie her! Und ebenso würde sie das andere ertragen haben und, wenn's nicht anders ging, auch Lug und Trug. Aber er litt darunter, er wollte nichts Blindes, Unreines; so oder so, da war kein Mittelweg. Und deshalb mußte er nun fort, mußte ihr das antun, daß ihr ganzes Leben auf einmal schwer und grau wurde, viel grauer als früher, ehe sie ihn gekannt. Ach, es konnte ihm nicht so weh tun wie ihr, sonst blieb er eben, oder er kam bald wieder, oder irgendwas – aber so – auf Niewiedersehen? Nicht so weh? Nein, im selben Augenblick bat sie ihm den Gedanken ab: der Ausdruck in seinen Augen ...
Morgen ganz früh ging er wohl, oder schon heute abend. Besser heute abend. Wie wär' es auch zu ertragen, noch einmal, zum letztenmal, im Speisezimmer zu sitzen, die Kehle voll Tränen, und sich Brot anbieten und die Speisekarte weitergeben; das Bild von Wilhelm Tell im Kreise der Seinen, über das sie so oft gelacht, an der Wand gegenüber, und das offene Fenster mit der Aussicht auf die verglühenden Berge ... wie gräßlich alles – oh, zum Sterben ...
Wie sehr hatte sie dieses Land geliebt, ach, alles darin, an seiner Hand. Gleich anfangs, als es noch neu und überraschend war, die Wege wie Rätsel, so verlockend; immer höher hätte sie steigen mögen, an schwierigen Stellen half er ihr und lachte, und sie wünschte sich heimlich viel schwierige Stellen, weil er ihr dann die Hand gab, seine starke, warme Hand. Wie wonnig war's, wenn dann nach dem Steigen der Pfad am Berggrat eben entlang ging. Man schritt aus, so rasch und gesund, jede Sehne spannte sich, jedes Gelenk freute sich, bei jeder Biegung des Wegs war es, als trete man auf eine Brüstung mit neuem, verändertem Ausblick. Wie sich die Wolken im Tal verfingen, wehende Reitermäntel! Die Herdenglocken läuteten durch den Nebel. Durch verwitterte Dörfer kamen sie, so totenstill; die Leute alle fort beim Heuen, nur einsame Katzen vor verschlossenen Türen. Aber wo immer ein kleiner Platz war, da schattete ein Nußbaum, und darunter war der Brunnen – fließendes Bergwasser, stählern, eiskalt, unerschöpflich. Wie frisch und wasserklar war auch ihre Liebe auf diesen Wanderungen. Etwas Brüderliches war im Zusammenschreiten, Brudergefühl mitten in all der heftigsten Zärtlichkeit; ein Verstehen, als hätte man sich von Kind auf gekannt. Ja, sie brauchten einander nichts zu nennen, ein Blick, ein Aufleuchten, und die Schönheit dieses geliebten Landes schien sich zu weiten, sie zu umfangen und näher zusammen zu drängen mit froher, zwingender Gewalt. Oh, du tiefe, himmlische Gesundheit erwiederter Liebe!
Aber einmal hatten sie sich doch gezankt. Damals, beim Photographieren. Da war eine Bauernfrau, sie wollte ihre Kinder so schrecklich gern photographiert haben, und Meisi stellte sie zusammen, auf den Stufen vor der Haustür. Die Mutter band ihnen saubere Schürzen um und flocht dem kleinen Mädchen die Zöpfe. Und sie freuten sich so und waren ganz verschämt vor Stolz, und Meisi mußte ihnen versprechen, ein Bild zu schicken, natürlich nur, wenn sie nicht gewackelt hätten – und die Frau diktierte umständlich Namen und Adresse. Dann aber, als sie weitergegangen waren, hatte sie ihm eingestanden, der Film sei ja schon zu Ende gewesen, aber sie hätte der Frau doch die Bitte nicht abschlagen können, und die Freude hätte sie nun doch gehabt. Da lachte er, aber es hatte ihn verdrossen, und er sagte etwas, das sie furchtbar ärgerte.
Doch solcher Streit war bald verflogen. Dazu war alles viel zu schön; das Bergwasser, die prickelnde Luft und der Atem der Wiesen, tanzendes Licht und tanzende Schatten! Und sie zwei, sie zwei, ganz allein mitten drin!
Blauer Enzian! Hochstengelig, am Waldrand gewachsen! Wenn man hineinsah in die Kelche – wurde man selbst zur Biene, zur wohlig saugenden. Ach, und später dann, ein Stübchen, ein weißgetünchtes, dorthin gingen die Gedanken, atemlos, und standen still ... da war ein tannener Tisch und der Krug mit den scharf gezackten Blüten darauf; wie sie erst ertranken in der Dämmerung und später dann, als das Licht brannte, ihr Schatten erwachte auf der kahlen, reinen Wand!
An jenem Abend waren sie, nach stundenlanger Wanderung, in dem kleinen Gasthaus eingekehrt, das sich mit seiner Front über dem Berghang erhob, an dem das verwitterte Dorf hinunter kroch im Zickzack, an steiler, gepflasterter Straße entlang: Häuser mit uralten Schindeldächern, kleinen Terrassen und blumenbunten Altanen, Brunnen, wo Frauen Salat wuschen und Kühe tranken, stöhnend vor Behagen. Am einzigen, ebenen Platz lag die Posthalterei und, etwas erhöht, die kleine Kirche mit ihrem Gräbergarten, wo die Toten in einer Wildnis von Rosenbüschen und Butterblumen, zitterndem Hafer und flatterndem Mohn, beim Klang der Posthörner eine frohmütige Ruhestatt hatten.
Aber Meisis Zimmer sah nicht auf das Dorf hinab, ihre Fenster waren auf der Rückseite des Hauses. Dort lag eine weite Wiese, die sanft abwärts glitt in ein anderes, unsichtbares Tal. Da war alles weiß von wildem Kümmel, und wie dann der Mond hinter dem Lärchenwald aufging, glitzerten die flachen Dolden wie Rauhreif; man hätte sich gescheut hinauszutreten, diesen Zauber, diese Heiligkeit zu durchkreuzen.
Meisi hatte auf der Fensterbrüstung gesessen, er hinter ihr. Daran will ich denken, wenn ich nicht aus und ein weiß, wenn mich der Kopf brennt, dachte sie, und dann hatte sie sich zurückgelehnt und ihren Kopf in die kleine Mulde gelegt, zwischen seiner Schulter und Brust; da lag sich's still und sicher, und sein Herzschlag ging stark und ruhig. »Nun bin ich ein kleines braunes Haus,« hatte sie gesagt, »und deine Schulter ist die Bergwand, und deine Stirn ist der Gipfel, und nun sollst du sagen: Frieden über dem kleinen Haus!« Wann war das gewesen? Vier Wochen, nicht mehr? Wann hatte sie ihn denn nicht gekannt? War's möglich, als sie ganz klein war, mit einem Korallenkettchen und einer seidenen Masche im Haar, da ging er schon irgendwo in die Schule, und später dann war er Student, und eine Zeitlang lebten sie gar nicht weit voneinander und hatten doch nichts voneinander gewußt. Und nun wußte sie nur noch von ihm und er war die süße unbegreifliche Gegenwart; das Frühere ... ach, alles vergessen, so ewig lang war das her!
Aber nun sollte es aus sein. Nie wollte sie die Berge wiedersehen. Ach, wie furchtbar ist das in der Welt; mit dem Alter, muß man da immer mehr Umwege machen, immer mehr Stätten meiden? Nein, wie ein Messer ins Herz würde alles hier sein, wenn sie's je wieder sähe ... Auch Blumen gab es hier, kleine braune Orchideen, die wie schwedische Handschuhe rochen und jetzt eben, das Reseda, nach dem Gießen, und das Geräusch des eisernen Rechens im Kies ... das war nun alles schon verloren, sie mußte es von sich tun, sich nicht festklammern, nein, hergeben, hingeben, rasch, rasch. Sie wollte nach Hause reisen gleich, morgen schon, irgendein Vorwand würde sich schon finden. Denn Emmo durfte hier nicht her, nicht eine einzige Stunde. Wenn sie es nun alles hergeben mußte, die Wege hier, die wollte sie allein mit ihm gegangen sein, kein fremder Fuß, kein fremder Fuß ... Was hatte er doch gesagt: »Unser Schmerz ist kostbar, niemand soll die Hand dran legen.«
Ja, zu Haus würde es noch am besten sein. Pflichten sind ja auch ein Schlafmittel. So eine Art Stundenplan wollte sie sich machen, Sophie sollte ihr alles einteilen helfen. Morgens der Tee – schrecklich – aber es war wohl am besten gleich von früh an; dann Emmo bei den Büchern helfen, es war alles in Konfusion, und er dachte immer gleich, er würde betrogen. Dann war Interview mit dem Vatikan (Herr und Frau Inspektor trugen diesen Kollektivnamen), und da war auch zu begütigen, denn der Inspektor war brummig und unfehlbar, aber er hatte schließlich doch immer recht, und deshalb gerade konnte Emmo ihn nicht leiden. Dann ging sie wohl auch zur Gemeindeschwester, die Kinder sangen so blöde Liedchen; es waren ein paar dabei, die waren schön, mit langen Augenwimpern, aber sie durfte sich ihre Vorliebe für sie nicht merken lassen, denn es waren die Kinder vom polnischen Knecht, der immer betrunken war, und die Frau stahl wie eine Elster ... Dann nachsehen, ob Freda alles hatte, was sie brauchte, Mariagnes war versorgt, sie malte vormittags im Freien; ganz modern, lila Ackergäule auf gelben Feldern, eigentlich paßte das gar nicht zu ihr ... warum malte sie nicht all die süßen, stillen Blumen – ganz genau, wie sie waren – meinte Meisi – etwas Schöneres konnte man doch nicht erfinden ... Mittagessen! O Gott, die Unterhaltung! Wie so ein ausgeleiertes Dorfkarussell, man sieht denselben schäbigen Schimmel immer schon von weitem kommen. Hinterher mußte Freda in der Veranda etabliert werden, mit Memoirenliteratur, sie hatte eine Passion für Marie Antoinette. Sophie machte den Kaffee mit ihren lieben, dünngearbeiteten Händen. Später ausgehen mit Emmo oder fahren mit Mariagnes und Emmo, er war bei allem dabei, was war zu machen; wie eine Stubenfliege, die sich einem immer wieder auf die Nase setzt – der arme Kerl. Zum Tee kamen Pastors, und der Pastor redete über die Begehrlichkeit der unteren Klassen, war dabei aber gutmütig und half ihr mit den Landstreichern, die Emmo immer gleich dem Gendarmen ausliefern wollte. Die Pastorin war fein und leise, sie sagte immer: »Mein lieber Mann«, aber sie hatte ein Grübchen, wenn sie lächelte, wie herübergerettet aus ihrer Jungmädchenzeit. Ihr kleines Töchterchen hatte sich so furchtbar verbrüht und war gestorben unter entsetzlichen Qualen. Aber Sonntags saß sie in der vordersten Bank und sah zur Kanzel auf und hörte all die Worte mit blassem, geduldigem Gesicht ... Ob das wirklich ein Trost war? Manchmal ging Emmo zum Förster, da brauchte sie nicht mit. Aber allein mochte sie nicht sitzen. Sophie sollte kommen, ihr die Haare kämmen, das machte schön schläfrig, oder sie wollten kramen, die Sachen der Schwiegermutter waren noch immer nicht verteilt. Die Mahagonischränke seufzten beim Öffnen, als sei's die alte Frau selbst ... Später am Abend saß man unten im Gartensaal ... Nachtmotten schwirrten um die hohe Lampe, und Mariagnes öffnete den alten Flügel und spielte das Frühlingslied von Grieg und blieb im Mittelsatz stecken. Sie wollte lesen, sich Bücher kommen lassen, über Chemie und Volksernährung, was hatte er doch gesagt: »Meine Gedankenwelt, die dir fremd ist« – Ja und dann, nachher ... Sophie sollte bei ihr sitzen und von ihrer Kinderzeit erzählen, von der kleinen Stadt in Friesland, bis sie einschlief ...
Sie stand auf, sah sich um, fröstelte; und weil ihr die Glieder wie tot waren, griff sie nach seinem Arm, um aufzustehen. Der stützte sie, selbstverständlich wie immer. Nun standen sie beim Fenster, und die Abendsonne kam nur noch leise durch den Laden. Da fühlte sie ein Zittern, ein Werben in seinem Arm, und schon küßten sie einander, angstvoll und rasch, ohne Ruhe, ohne Lust, wie sich Menschen küssen, wenn das Schiff im Sinken ist. Aber in ihr wartete etwas und spannte sich, bis in die Fingerspitzen, und wollte gezwungen sein, nicht weil sie ihm recht gab, sondern weil sie ihn liebte. Aber da löste er leise die Arme, und sie fühlte ihre Lippen grau werden: Er hat mich geküßt, wie man seinen Koffer zuschließt.
Da trat sie noch näher ans Fenster und stieß rasch den Laden auf, und der letzte Abendglanz strömte herein und mit ihm der Duft und der Dunst der Wiesen. Wie im Traum, wie jenseits einer Brücke sah sie zurück auf ihn, sah die kleine zuckende Falte am Augenlid, die den Augen so große Freundlichkeit verlieh; die sie so sehr geliebt.
Heute nacht würde sie die Herdenglocken noch hören, fein und deutlich, am Berghang herauf. Aber er nicht mehr; denn er würde im Nachtzug sitzen und in der Frühe schon im heißen, schläfrigen Süden sein. Und was war's, das schon jetzt in ihrem Herzen zu nagen begann, leise, unerbittlich? War's der Groll, daß er sie nicht zu zwingen vermocht, alles zu lassen, um mit ihm zu gehen, das ganze Leben?
Es hatte damit angefangen, daß Tischler Dominik, der im übrigen auch Nachtwächter war und den inneren Menschen der Turmuhr in Ordnung zu halten hatte, schließlich doch geholt werden mußte; denn es war unausstehlich mit der untersten Schieblade der alten Schreibkommode, immer stellte sie sich schief; »wie ein eigensinniger Bock,« sagte die Kleudchen, und erst durch angestrengtes Rütteln konnte sie in eine normale Lage zurückgebracht werden.
»Und da wir schon einmal dabei sind,« sagte der Meister und starrte tiefsinnig über seine Stahlbrille ins Weite, »so woll'n wer auch gleich das übrije nachsehn, denn so was is eftersmalen en Familjenfehler.«
Ali und Adallah, die meist für Zwillinge gehalten wurden (es war aber ein Jahr Altersunterschied), fanden das ja nun äußerst interessant; denn wenn dabei auch nur Frau Kleudchens puritanische Nachtjacken, der »Pharus am Meere des Lebens« in verschossenem, violettem Einband, ein kleines Paket zusammengeschnürter Briefe und eine Feige aus Marmor – von Papa vor Jahren aus Italien heimgebracht – zum Vorschein kamen: Sachen von Erwachsenen, die so kühl feierlich daliegen, wie in Königsgräbern, haben immer etwas Apartes an sich, wenn sie plötzlich hervorkommen an die Tageshelle.
Aber nun hatte Dominik nach vielem Suchen in seinem Bund klirrender Haken, der ihm etwas angenehm Einbrecherhaftes verlieh, auch noch die schräge Klappe geöffnet, auf deren braunpolierten Fläche eine Wildschweinsjagd in gelbem Holz zwischen vier Tannenbäumen in grünem Holz dargestellt war. Dahinter wurden zwei kleine Fächer sichtbar. Das linke enthielt rostige Angelhaken, mehrere längliche Garnröllchen und ein dünnes rotes Buch, »Des Anglers Vademekum«. Dominik sah zu der Kleudchen hinüber, sie wollte etwas sagen, schloß aber wieder den kleinen, vergrämten Mund. Dann zog er auch das andere Schiebfach auf; es hatte sich ein Heft darin festgeklemmt. Er reichte es der Kleudchen; sie tat einen Blick hinein: »Die Wappensammlung vom jungen Herrn,« sagte sie und drückte das Heft wie schützend gegen ihr gestricktes Umschlagetuch. Aber unter dem Hefte hatte noch etwas gelegen, eine Photographie, vergilbt und verblaßt.
»Das ist die Frau, die bei Papa im Ankleidezimmer hängt,« sagte Ali. Seine Augen sahen alles. Ja, es war das nämliche, weichgerundete Gesicht, mit leicht zusammengeknifften Lidern, großem, lächelndem Mund, reichem, unglaublich reichem Haar, altmodisch kunstvoll aufgesteckt. Aber hier hatte sie ein komisches großkariertes Kleid an und einen kleinen Jungen in russischem Kittel auf dem Schoß.
»Dah,« sagte Adallah, der oben in der Nase etwas hatte, das demnächst operiert werden sollte, »das is Vate's este Fau, abe weh is de Junge?«
»Ihr müßt Mama fragen,« sagte die Kleudchen. Es war dieselbe Abwehr, die sie gebrauchte, wenn Adallah allzu genaue Auskunft über gewisse naturgeschichtliche Vorgänge von ihr verlangte.
Die Kleudchen hatte jetzt einen roten Fleck auf der Wange und telegraphierte mit den Augen. Tischler Dominik gab Ali das Handwerkszeug zu tragen und hielt Adallah seine kurze, breite Hand mit dem gespaltenen Daumennagel hin: »Nu kommt, Junkerkens,« sagte er einladend, »nu woll'n wer'n Leimtopf heißmachen;« und die Aussicht auf eine gemütliche, übelriechende Mantscherei ließ für diesmal alle anderen Spekulationen erblassen. Und Mama fragen? Ach, das war ja nicht möglich. Fragen konnte man Kleudchen oder den Kuhknecht oder Fritz Dralle (Dralle sen. war schon weniger ratsam), und allenfalls Papa, wenn er sehr guter Laune war; aber Mama? Nein, Mama antwortete man, aber fragen, das ging nicht.
Doch es kamen Wiederholungen, allerhand kleine Begebenheiten, die auf denselben Punkt zu deuten schienen und sich allmählich zu etwas Nebelhaftem verdichteten, von dem die Kinder nicht recht wußten, war es Erinnerung an Dinge, die sie schon erlebt hatten, oder Ahnung von etwas, das erst kommen sollte: Papa und Mama redeten zusammen, leise und erregt, Mamas große Augen wurden dunkel, so als sagten sie »Mut« oder »Rechtschaffenheit«; aber sie brach ab, wenn die Kinder ins Zimmer traten, und der Blick wurde wieder durchsichtig wie ein geschlossenes Fenster. Oder Papa trat plötzlich aus dem unbewohnten Zimmer auf halber Treppe, stand, als sähe er nichts, in der schrägen Nachmittagssonne, wo es nach Holz roch und nach Kleudchens Vesperkaffee; er, den man sonst nur in einer ganz besonderen Luft von Zigaretten und Juchten kannte, im Dämmerlicht auf dem Ledersofa ausgestreckt, wo über ihm die Rennpreise, die Pokale und silbernen Reitpeitschen aufblitzten, wenn ein Sonnenstrahl durch die Läden drang. Papa hatte rote Augen gehabt und zuerst gar nichts verstanden, als Ali, die Gelegenheit wahrnehmend, ihn anpiepste: »Ach, Papa, Dralle will das Gefleckte versäufen, weil es ein Weibchen ist, und es ist doch so wunderschön« – und Adallah eine Terz höher einstimmte: »Ach, nur nicht das Gefleckte, Väterchen, abe das Baune auch nicht!«
Wenn Tante Brunislawa und die Kleudchen beisammen saßen, war ein Gewisper und Geseufz; beinahe wie schuldbewußt sahen sie sich um, oder als stünde eine Tür ins Dunkle hinter ihnen offen. Tante Brunislawa schien noch öfters als sonst mit ihrem Orenburger Schal an allen Türklinken hängen zu bleiben, um dann, wenn man sie losgeheddert hatte, ganz verschüchtert weiterzuflattern wie eine wunde Schwalbe. War das auch immer so gewesen, dies Nach-der-Uhr-sehen, wenn die Postzeit nahte, dieser rasche Blick ins Vorzimmer, wo doch nur Papas Zeitungen lagen, oder Rechnungen in blauen und grauen Umschlägen, selten nur ein Brief? Und die Stühle und Sessel im Wohnzimmer, wenn die Großen weggegangen waren und man kam auf Fußspitzen zurück, um den kleinen Zinnjäger zu suchen, der unters Sofa gefallen war: standen die sonst auch so kurios zusammen, wie Verschwörer, die unterbrochen wurden in heimlichen Gesprächen?
Dazwischen schwand den Kindern wohl tage- und wochenlang dies ungewohnte Gefühl, als ob »etwas vorginge«; Papa hatte wirklich das Gefleckte begnadigt, und es war, nebst seinem Brüderchen, dem Braunen, zur Sonne geworden, um die sich der Knaben Leben drehte, das ja trotz Vater und Mutter, trotz der freundlich flatternden Tante Brunislawa und der treuen Kleudchen ein seltsam verschwiegenes, heimliches Leben war.
Mama! Ja – das war viel eiskaltes Wasser in der Frühe und harte Bettchen zur Nacht, und beileibe kein Nachtlicht und absolutes, strengstes Verbot, das Gefleckte nach oben zu nehmen. Mama war Morgenandacht mit einem Hintergrund von Kaffeegeruch und weißen, raschelnden Schürzen, aber nicht Abendgebet; letzteres gehörte zu Kleudchens Departement, die sich wie die Fledermäuse, denen sie ähnlich sah, mehr in den Dämmerstunden bemerkbar machte. Mama bedeutete ferner für Ali Kerbelsuppe und für Adallah Apfelreis, beides so über alle Maßen gräßlich, und da war kein Entrinnen. Aber Mama bedeutete auch Dinge, die fein waren, wo man sich selber fein werden fühlte, wie die dünne, schwingende Gerte in der Hand, wenn man aufs Pferd geklettert war und sich zuerst nur festklammerte, so gut es ging, denn das einzige, was man absolut nicht durfte, war herunterfallen, und dann allmählich, beim Traben, seine Muskeln und Gedanken zusammenfand, sich aufreckte und ins Lot kam. Mama sagte: »So ist's besser,« wenn man an ihr vorüberkam, dann mußte Dralle die Longe weglassen und später noch ritt man mit Mama querfeldein, und das war ehrenvoll, aber beileibe nichts zum Lachen. Nur dies Gefühl, als würde man feiner und biegsamer und härter dabei, das wuchs und war sonderbar ausfüllend und aufregend; man konnte an nichts anderes denken. Überall ging's so her, wo Mama dabei war, so mit angespannten Sehnen bis aufs letzte Haarbreit; aber doch immer, als dürfe man dabei nicht verweilen, als käme viel anderes nach, das noch zu bewältigen sei. Auch wenn Mama einen küßte, war das so, hoch oben auf die Stirn, in die Haarwurzeln hinein, ganz rasch, wie ein Stoß, und dann weg und was anderes. Neulich hatte Ali gezuckt, als der kleine Fuchs beim Striegeln auskeilte. »Ich glaube gar, der Junge hat Angst,« sagte Mama, und in ihre Augen kam der blaue Funken, der zurücksprang zu den alten, vertriebenen Sachsengöttern, die an Pferdeopfern Freude hatten ...
In solch straff gehaltenen Kinderexistenzen entwickelt sich Geschwisterliebe nachdrücklicher, wie das Zusammenhalten junger Pflanzungen an exponierten Stellen. Ali und Adallah brachten es fertig, in ihrem fest eingeteilten Dasein Augenblicke berauschender Opposition zu erhaschen, und das ganz absichtslos, denn sie waren gutartige Kinder und, ihrem Vater ähnlicher als ihrer Mutter, nervös und rasch aufflammend, aber ohne die nötige Ausdauer für ein richtiges Verschwörertum. Mama war ungemütlich, wenn auch durchaus nicht unheimlich, denn es gab bei ihr keine Überraschungen; hingegen mußte man Papa nur aus dem Wege gehen, wenn er gerade seinen Nervenschmerz hatte, sonst aber nahm er für die Unterdrückten Partei, konnte einen allerdings im kritischen Augenblick unerwartet im Stich lassen. So schlossen sie sich ohne Verabredung eng aneinander; sie waren zu klein und zu unklar, um sich über das, was sie peinigte, miteinander auszusprechen. Winzige Igel im Nest, alles noch weich und verwundbar; ein Rascheln, ein Lufthauch, der Witterung bringt fremder, feindlicher Dinge, und sie liegen da, zusammengerollt, mit allen zarten Stacheln in der Abwehr, und fühlen, es gibt etwas Schmerzliches, Grausames irgendwo, das auch sie in ihrem Schlupfwinkel eines Tages aufspüren wird.
Wie gräßlich zum Beispiel waren doch die Schlachttage! Die kaltblütigen Vorbereitungen am Abend vorher, die armen Verurteilten, die ahnungslos – wer weiß? – ihre Henkersmahlzeit verzehrten, die Gänse und Enten, die Schweine und, was am schauderhaftesten war, das Kalb! Dieses wurde zwar nicht auf dem Gutshof gemördert, aber in aller Frühe, wie aus blutigem Nebelgrau hervor, kam ein gräßlicher Mann mit rotem Gesicht, mit rotbesudelter Schürze; das Kälbchen mußte heraus, ganz dumm und warm und verschlafen, in die kalte, beißende Luft, es stemmte sich, es wollte nicht, seine Augen waren voll Entsetzen, es hörte seiner Mutter ängstliches Muh. Aber es wurde am Strick fortgezerrt, über die hölzerne Brücke, wo seine armen, unbeholfenen Füße polterten. Hatte es nicht etwas Revoltierendes, wenn bald darauf die Frühstücksglocke die Hausbewohner versammelte und Mama die Morgenandacht hielt? »Also hat Gott die Welt geliebt,« las sie. Und derweil wurde das Kälbchen auf der Landstraße fortgezerrt, der böse Mann fluchte, es bekam einen Tritt, wenn es stehen blieb. Mama dankte für Gottes Hut in der vergangenen Nacht ... Ach, die arme Kuh in dem dunkeln, feuchtwarmen Stall; das Kälbchen war ihre einzige Freude gewesen; wenn sie es leckte bekamen ihre großen düsteren Augen blaue Lichter, ihre Weichen schauderten glückselig, wenn das Junge nach dem Euter suchte, es hochstieß beim Saugen. Nun brüllte sie, gedehnt, in regelmäßigen Absätzen, man konnte zählen dazwischen. Und das würde noch tagelang dauern, sagte der Knecht.
Aber Mama war doch sehr gut dabei. Zu allen Kranken wurde sie geholt, wenn es was Ernstes war; sie wußte, was nötig war, und tat alles, ruhig und tröstend. Manchmal wachte sie viele Nächte durch bei den Kranken. Und wie Fritz Dralle in die Häckselmaschine geraten war, hielt sie seinen Arm, während er so entsetzlich stöhnte und Doktor Moldenhauer nähte. Sie selbst aber war nie krank. Qualvolles Kopfweh, ja, dann zuckte es im Augenlid und in der Schläfe ging's wie ein Hammer, da, wo die blauen Adern sind; aber sie gab nicht nach, immer zur Stelle, sommers um sechs und winters um sieben. Tante Brunislawa, welche die Cousine der ersten Frau war, fuhr schuldbewußt zusammen, wenn Mama sie bei ihren ewigen Patiencen ertappte. Und doch sagte Mama nie ein Wort und half Kleudchen mit ihrer endlosen Flickarbeit. In Tante Brunislawas Zimmer waren Heiligenbilder, goldene mit Schlitzaugen, und weiße mit blauen Mänteln, auf kleinen Postamenten; Tante kniete davor und sah zu ihnen auf, mit braunen, kurzsichtigen Augen wie Samtpensées. Wo es doch heißt: Du sollst dir kein Bildnis machen und keinerlei Gleichnis, dachte Ali. Aber nie sagte Mama etwas, eher noch Papa, der Witze machte über Beichtväter und dergleichen. Mama kämpfte sogar für Tante um die Kutschpferde, wenn Tante zum Ablaß fahren wollte, gar jetzt, wo man sie doch so nötig brauchte, um Wasser zu fahren ...
Ali und Adallah mußten sich in Selbstkasteiung üben. Ihre Anzüge und Schuhwerk wurden von Dorfkünstlern angefertigt; die Hemden aus grobem Leinen scheuerten fürchterlich, solange sie neu waren, auch war ihnen nahegelegt worden, den Zucker im Milchkaffee zu sparen zugunsten der Stadtmission oder als Beitrag zur Weihnachtsbescherung im Armenhaus. Seitdem tranken sie ihren Kaffee ohne Zucker, hatten sich seiner so entwöhnt, daß es sie keine Überwindung kostete, aber sie spürten auch weiter keine Freude an ihrem Opfer; vielleicht waren ja auch Opfer nicht dazu da.
Alle Donnerstag kam Herr Doktor Löschwitz zum Kaffee. Dies war die schlimmste Prüfung; denn weil sie nur einmal wöchentlich stattfand, konnte man sich nicht dagegen abstumpfen. Herr Doktor Löschwitz war ein gestrandeter, nicht mehr junger Philologe, der vor Jahren Papa durchs Abitur gelotst hatte; nun bekam er Kost und Wohnung, zwei Stübchen im Seitengebäude, mit dem Blick auf den Hühnerhof. Herr Doktor Löschwitz trug eine Art Respirator aus schwarzem Taft über der Nase befestigt, fast wie eine kleine Maske; darunter war etwas Schreckliches, das für Herrn Doktor Löschwitz den Tod bedeutete; man konnte es ahnen, denn die Entzündung hatte schon Wangen und Oberlippe ergriffen. Ali gewann es über sich, hinzusehen, er konnte ganz steinern werden, wenn er sich so Gewalt antat; aber Adallah wurde rot und blaß und senkte die Augen, sobald nur Doktor Löschwitzens Schritt im Flur ertönte. »Albrecht und Adelbert, gebt Herrn Doktor Löschwitz die Hand,« sagte Mama, die es gewiß fertig gebracht hätte, den armen Lazarus aus dem Gleichnis zu küssen. In aller Stille dachte Adallah, das Schicksal zu beschwören. Am Mittwoch schon überkam ihn das Grauen; er stand nachts auf, fröstelnd in seinem kurzen Hemd stand er auf der Diele und horchte auf die Turmuhr. Wenn er eine ganze Stunde reglos ausharrte und immer an das nämliche dachte, würde Doktor Löschwitz irgendeine kleine unschädliche Krankheit bekommen, so daß er morgen absagen mußte. Aber das Zaubermittel versagte, während es doch damals bei dem Kalbe so wunderbar geholfen hatte, und da hatte er doch um etwas viel Durchgreifenderes gebetet. Das Kalb hatte etwas mit dem Bein. Es lag stöhnend im Stroh, und Adallah hörte den Inspektor zum Knecht sagen, es solle den nächsten Morgen geschlachtet werden. Da hatte er denn die halbe Nacht auf der kalten Diele gekniet; und wirklich, es half, das Kalb war in der Nacht von selbst gestorben, ganz still. O lieber, lieber Gott, nein, aber du bist doch wirklich gut, dachte Adallah, als er's erfuhr; als müsse er Gott Abbitte leisten für voreilige, abfällige Urteile.
Es war ein glühender, regenloser Sommer, wie es hier die Regel war, aber so wie dieses Jahr doch seit langer Zeit nicht. Schon im Mai hatte die Dürre eingesetzt, und jetzt war alles verbrannt. Das Akazienlaub hing gelb und tot von den Stengeln, die Linden waren auf der Windseite wie versengt. Alles schlich matt einher, der Inspektor wie ein schwarzes Gewölk. Papa, der, schon ganz elend von all den Hiobsposten, richtig auch seinen Nervenschmerz bekommen hatte, ging mit Kölnischwasser und einem Zerstäuber durch die Stuben und spritzte die Gardinen an. Tante Brunislawa sagte: »Gott, bester Thilo, wenn du doch Patience lernen würdest, das beruhigt und die Zeit geht so schön vorbei.« – »Ja, und die Gehirnerweichung tritt ein,« knurrte Papa. Mama schwieg mit hochgezogenen Brauen, aber in der Schläfe ging der kleine Hammer.
Pastor Gordon hatte am Vormittag Unterricht gegeben: Kopfrechnen und Geographie und natürlich auch Religion; an Alis Horizont machte sich außerdem das Lateinische unangenehm bemerkbar.
Mama saß im Vorplatz, der mit Strohmatten, Korbmöbeln und undeutlichen Aquarellen an den Wänden als Gartensaal gedacht war; winters über standen hier auch die Oleander und Geranien in ihren grünen Kübeln. Sie half der Kleudchen beim Erbsenauspahlen; es war die höchste Zeit mit dem Einmachen, sie fingen schon an runzlig zu werden. Adallah hätte gern geholfen, er liebte derartige Beschäftigungen über die Maßen, der Küchenjunge im Märchen erregte stets seinen unverfälschten Neid; aber nun sollte er schon wieder hinaus, und nicht etwa in den Stall zum Gefleckten, das seit einigen Tagen wässerige Äugelchen geöffnet hatte und bedeutend klüger zu werden versprach als das Braune, sondern ans andere Ende vom Dorf, mit einem Paket für die alte Schröder, die doch bloß ächzte und krächzte und keine Ruhe ließ, bis man eins von ihren unappetitlichen Malzbonbons nahm. So trollte er mißvergnügt von dannen.
Die Erbsen fielen hart wie kleine Kugeln in die Schüssel. Mama blickte auf zum Gatten, der in einem Korbsessel lag und sich mit der schmalen, sensitiven van-Dyk-Hand ab und zu nervös durchs Haar fuhr, dies allzu krause Haar, das die Gerüchte, die über den Stammbaum seiner Großmutter umliefen, zu rechtfertigen schien.
»Gordon ist mit den Fortschritten der Kinder nicht recht zufrieden,« sagte sie.
»Gott, die armen Bengels« – der Gatte zuckte übers ganze Gesicht, die Fliegen waren heute geradezu ekelhaft – »bei dieser Hitze auch noch lernen! Und dann so langweilig, immer nur zu zweien, so 'ne Intensivkultur. In der Schule kann man sich doch mal durchschwindeln, und schließlich, wenn man kein absolutes Kamel ist, lernt man ja doch das Nötige. Eine Schule wäre viel besser für die Jungens.«
»Aber das läßt sich jetzt doch nicht einrichten, Thilo, wo's mit den Pferden so knapp ist – allenfalls hinradeln könnten sie, aber zweimal des Tags all die Kilometer – dazu sind sie doch noch sehr klein ...«
»Ach, so meine ich's nicht, das weißt du ganz gut; Kadettenhaus oder Ritterakademie, das ist das einzig wahre für ein paar ordentliche Jungens.«
»Die Erfahrungen, die du damit gemacht hast, dürften doch wohl genügen.«
Der Gatte murmelte etwas, das wie »Duckmäuserei« klang, und die Kleudchen, die, obwohl ganz zur Familie gerechnet, genau wußte, wann sie lieber nicht gegenwärtig war, wollte taktvoll mit ihrer Erbsenschüssel verschwinden. Er flog ihr nach und öffnete mit gewohnter Ritterlichkeit die Türe für sie. Mit seinem etwas zu tief ausgehöhltem Kreuz und der geschmeidigen Gebärde erinnerte er an jene tadellos ajustierten Bereiter, die im Zirkus zu beiden Seiten des Eingangs stehen und der lächelnden Dame im Flitterröckchen mit federnder Eleganz aufs Pferd helfen, die Reitgerte überreichen ...
Seine Frau blinzelte an ihm vorbei, auf die hellgetünchte Wand gegenüber: »Ich glaube nicht, daß Kinder, deren Selbstbeherrschung täglich geübt wird, zu Duckmäusern werden,« sagte sie. »Mein Blut neigt überhaupt nicht dazu.« Ihre Stimme bebte, aber sie sammelte ruhig die leeren Schoten in ihrem Schoß zusammen und legte sie in den Korb. Dann band sie ihre große Hausschürze ab und begann sie zu falten: »Ich habe von Anfang an auf Abhärtung, auch in Gefühlssachen, geachtet. Du hast dich nie gefragt, ob mich das nicht selber hart ankam. Aber es erschien mir das wichtigste, viel wichtiger als alles, was man aus Büchern lernt. Überhaupt meine ich, wie einer lernt, ist mehr wert, als was einer lernt. Jedenfalls bild' ich's mir ein, und darum muß ich danach handeln. Sonst verlange ich nichts für die Kinder. Es sind gute Jungens, nicht unbegabt, aber nichts Außergewöhnliches. Vielleicht wären sie besser dran, wenn sie Holzpantinen trügen, und so mancher Firlefanz, der ihnen einmal noch das Herz schwer machen wird, träte gar nicht erst an sie heran.«
Sie war aufgestanden und hatte vor sich niedergesehen, mechanisch die Schürze immer schmaler zusammenlegend; nun blickte sie auf; ihre Augen waren warmdunkel geworden und der Klang der Stimme paßte zu den Augen: »Eins aber,« sagte sie, »sollen die Kinder haben, ihr Leben soll auf klarer Bahn beginnen, sie sollen mit harten Sehnen losgehen und an Wahrheit gewöhnt sein; damit, wenn je die Stunde für sie käme, wo es schwer ist, sich zur Wahrheit zu bekennen, sie auch dann ... nicht anders könnten. Was sie an Hindernissen auf ihrem Weg finden werden, das verfügt unser Herr und Gott, was von außen kommt, liegt nicht in unserer Macht. Wir können nur den Willen bereiten. Das müssen wir. Denn ich meine, das ganz Furchtbare, das, was nicht heil zu machen geht, ist, wenn der Hahn kräht und einer einsieht, daß er seinen Mann nicht gestanden hat. Erkennen, was die Hauptsache ist und was die Nebendinge sind, ja, wer das hat, was kann ihm schaden, wer kann ihn besiegen? ...«
Dem Gatten waren solche Aussprachen – die meistens als Monologe verliefen –, wenn seine Frau ihr Veledagesicht aufsetzte und das Gesetz verkündete, geradezu fürchterlich. Es fiel ihm ja gar nicht ein, gegen ihren Wunsch Entscheidungen zu treffen; man konnte aber doch wohl seine Ansicht sagen. Zum Glück kamen derartige Explosionen selten vor; für gewöhnlich war Gerta sehr zurückhaltend. Aber er fühlte immer etwas durch: Mißtrauen von vornherein und einen kindischen Eigensinn in Dingen, über die er kein Wort verlor. Gouvernantenhaft, das drückte es am besten aus. Seit der albernen Freundschaft mit den überspannten Livländerinnen wurde es immer ärger. Er war gewiß für Religion; mein Gott, wohin geriet man auch sonst, schon allein der unteren Klassen halber war sie ganz unentbehrlich. Und eine Frau ohne Religion war ja ganz wider die Natur. Aber diese Hyperfrommen hatten etwas direkt Aufwieglerisches an sich – sie konnten reden wie die rötesten Sozialdemokraten, geradezu bedenklich; und taktlos waren sie auch alle, weil in ihren Augen der höhere Zweck die ärgsten moralischen Anrempeleien rechtfertigte – ja, sogar wenn sie schwiegen, brachten sie's fertig, rechthaberisch zu sein.
Er stand auf und sagte: »Wir wollen uns doch nicht über Grundsätze und dergleichen ereifern; dazu ist es heute viel zu warm. Jedenfalls, ich bin wie eine tote Fliege und gänzlich kampfunfähig. Meine Ansicht in der Sache, die uns vor allen andern beschäftigt, kennst du. Möglichste Schonung nach allen Seiten. Auch gegen uns selbst. Auch gegen die konventionellen Hühneraugen unserer Nachbarn und Standesgenossen. Man lebt eben nicht auf einer Robinsoninsel, nur mit einem Lama und einem Papagei. Aber die Zeit ist der beste Alliierte, und die Menschen vergessen nur zu gern, wenn sie dadurch einer Unbehaglichkeit aus dem Wege gehen können. In einigen Jahren kann man das Gras mähen, das darüber gewachsen ist.«
»Ja, in Dingen der Weltklugheit rede ich nicht mit, das liegt mir nicht. Hier im Haus aber, wozu das Versteckspiel? Ich will Freud und Leid tragen, ohne Scham, wo ich doch keine empfinde. Warum auch, es liegt ja alles so einfach. Man macht so oft die Dinge kompliziert, bloß aus Furcht. Und ich hasse die Furcht. Es ist etwas Fremdes, es soll nicht an uns heran. O Thilo, du mußt mir ja recht geben. Sollen wir denn erröten, wenn das Evangelium vom verlorenen Sohn gelesen wird? Was ist uns das Geschwätz von Nachbarn und Standesgenossen? Nicht mehr als der Rauch deiner Zigarette. Denk an die großen Jagdrennen, früher, oh, wie stolz war ich auf dich, Thilo. Immer der erste, kein Gedanken an Gefahr. Willst du dich vor dem Gerede mehr fürchten als vor dem irischen Wall in Iffezheim?«
In ihre Augen war feuchter Glanz gekommen, ihre Farbe kam und ging. Ganz jung sah sie wieder aus, wie damals ... Schumanns »Widmung« fiel ihm plötzlich ein, die sein Vetter Landrat – Theo mit den Lakritzenaugen – am Polterabend hinter der kleinen Bühne gesungen hatte; er hörte noch die gaumige Baritonstimme, die ihn damals tief gerührt hatte: »Mein guter Geist, mein beßres Ich!« Und an den Tag in Iffezheim hatten ihre Worte gemahnt. Eine rasche, heiße Welle des Erinnerns ging ihm durchs Blut. Wie sie dort auf einem schmalen Brett gestanden hatte, hochgereckt, in dem weißen Sommerkleid, das der Wind fest zurückblies um ihre feinen, mädchenhaften Glieder, den Hut etwas nach hinten geschoben, das Haar verwirrt um die leuchtende Stirn, und ihre großen reinen Augen so strahlend und voll Vertrauen auf seinen Sieg, sie, die in ihrer Unschuld doch schließlich auf das Körperliche hereingefallen war und dem stählernen, furchtlosen Reiter auch Seelenstärke und Unabhängigkeit des Denkens angedichtet hatte; warum eigentlich? Weil er einen geraden, guttrainierten Körper besaß und eine gewisse Art physischer Furcht nicht kannte? Jugend, Jugend! Von ihrem Glauben getragen war er sich schließlich selbst wie ein famoser Kerl vorgekommen, auserwählt, dieses scheue und doch unendlich aufrichtige Geschöpf an sich zu fesseln ... Er seufzte auf und küßte, sich plötzlich vorbeugend, ihre herabhängende Hand. Der Schmerz zog wieder so elend in seinem Genickwirbel. Da stand er auf und ging in sein halbdunkles Zimmer zurück, wo auf dem Schreibtisch so viel angesammelte, aufgeschobene Arbeit wartete.
Das war am Dienstag gewesen, Mittwoch kam, nicht heißer, das war nicht möglich, aber noch bleierner, schon seit dem frühen Morgen. Die Pferde fuhren mit großen Tonnen zum See hinunter, es sollte heute wieder im Gemüsegarten gegossen werden; Park und Blumen mußte man ihrem Schicksal überlassen, da war für diesmal nichts mehr zu machen, die Fliederbüsche standen grau und matt und an den Wegrändern häuften sich ihre zusammengerollten Blätter, die braunen Grasflächen dehnten sich wie schäbige Löwenfelle, und auch die Linden auf der Terrasse ließen runzlige Blätter niedersinken; wär' es nicht so furchtbar heiß gewesen, es hätte Oktober sein können.
Papa saß unter den Platanen, gerade oberhalb der Wiesen, die sich bis zum See erstreckten. Er wurde stets sentimental, wenn er von diesem etwas erhöhten Platz die Landschaft überblickte.
»Hier will ich einmal ruhen, unter einem schlichten Stein,« sagte er, und seine Stimme bebte ein wenig bei dieser Vorstellung; er legte wie segnend die Hand auf Alis kleinen, frischgeschorenen Kopf (Ali wünschte sich in solchen pathetischen Momenten klaftertief unter die Erde, das Erhabene lag ihm nicht), »das ist das rechte Grab für einen ehrlichen Reitersmann.« Papas Augen blickten verschwommen. Nachdem die Post am Vormittag gekommen war, war's mit den Nerven ganz bös geworden, da hatte wieder das winzige Spritzchen helfen müssen. Ali war gerade dazugekommen. »Sage nichts an Mama,« flüsterte Papa und sah sich etwas schuldbewußt um, »du weißt ja, wie gut sie ist; sie macht sich dann immer gleich Sorgen. Aber bei dem verdammten Bohren ist es nun mal das einzige ...«
Der Himmel über dem See war blauschwarz; er schien sich immer tiefer zu senken, der große Roggenschlag jenseits leuchtete fahl, unheimlich deutlich unter dem finsteren Gewölk. Papas Hand lag noch immer schwer auf Alis braunem Maulwurfsfell. Nun kam der Knecht mit den letzten Tonnen. »Heut nacht wird's losgehen, Herr Rittmeister,« sagte er und legte militärisch grüßend die Finger an die alte, verfärbte Soldatenmütze. Die Räder ächzten, aber das hartgebrannte Wiesenland gab kaum nach unter der Last ...
Auf der Terrasse vor der Haustür stand Mama in ihrem leinenen Reitkleid; sie hatte eben noch mal nach dem Vorwerk reiten wollen, um die neue Mamsell zu beraten: da war eben das Telegramm gekommen. Mit ihrem glatt zurückgestrichenen Haar unter der Mütze glich sie einem lang aufgeschossenen Jungen, wie sie da an der Rampe lehnte, die Hände in den Jackentaschen, der Fuß ungeduldig tappend. Sie händigte ihrem Mann das Telegramm ein.
»Der Bote wartet.«
»Mein Gott, warum hast du nicht aufgemacht?«
»Bitte, es ist an dich adressiert,« sagte Mama, die in solchen Dingen äußerst empfindlich war; Tante Brunislawas naiv gründliche Art, Ansichtspostkarten zu studieren, die nicht an sie gerichtet waren, konnte ihr Gänsehaut verursachen.
»Heute, acht Uhr zwanzig,« las Papa leise. Das Blut war ihm zu Kopf geschossen. »Laß Dralle rufen, bitte,« sagte er, schon an seiner Tür im Erdgeschoß.
»Ich gehe selbst.«
Mama ging hinaus in die bleierne Glut.
Dralle saß in Hemdärmeln und gestreifter Weste auf der Bank vor der Sattelkammer und vesperte. »Dralle,« sagte die gnädige Frau, »Sie möchten zum Herrn kommen, er braucht Sie heut abend zur Bahn.« Die Hände am Gürtel stand sie vor ihm, ganz blaß in der flimmernden Luft. Reglos, aber doch bebte alles an ihr. Wäre sie ein junges nervöses Pferd gewesen, so hätte der Alte gewußt, was zu tun; mit seiner breiten, ruhigen Hand und tiefen Brummstimme verstand er's, allem, was in seine Obhut kam, Ruhe und Vertrauen einzuflößen. So aber fuhr er in die Höhe und stand still: »Zu Befehl! ...« Aber in seine Augen unter den schräghängenden Lidern war der wachsame Hundeblick gekommen, den sie kannte, und der tat ihr wohl. Denn der Alte war aus ihrer Heimat, dort im Lüneburgschen, wo die Menschen so herrlich mundfaul waren; als sie heiratete, war er, ganz selbstverständlich, mitgekommen, der sie als Kind schon reiten und fahren gelehrt hatte und wie man sein Pferd selber putzt und sattelt. Zwischen ihnen waren nie viel Worte nötig gewesen.
»Ich wollte Ihnen längst schon sagen, Dralle,« fuhr sie etwas unsicher fort, und das zuckende Grübchen in der Wange kam und ging, »wie dankbar ich Ihnen bin, daß jetzt alles in den Ställen so ruhig und ordentlich zugeht, zumal mit den neuen Leuten.« Dann wandte sie sich zum Stall. Dorthin ging sie so manchesmal.
Drinnen waren die Fenster verhängt; alles kühl dämmerig und totenstill, die Stände leer, die Pferde noch auf dem Felde. In einer Ecke, neben der Haferkiste, krochen Erdas Kinder, das Braune und das Gefleckte, auf weichen Gummibeinchen im Stroh. Sie stießen flehende Tönchen aus, wie sie Gerda kommen sahen, und blickten zu ihr auf mit dem tieftraurigen Blick und den sorgenschweren Stirnen, die jungen Hühnerhunden eigen sind. »Ihr Armen,« sagte sie, von Mitleid plötzlich überfallen; so etwas Junges, Wehrloses; ganz hoffnungslose Augen machten sie ...
Weiter zurück wieherte es leise. Das war Thilos altes Rennpferd, Cara, die schon mehrere wertvolle Fohlen gebracht hatte und dort, etwas entfernt von den robusteren Stallgenossen, das abgesonderte Dasein einer entthronten Königin führte. Feingefesselt, blank und seidig wie reife Edelkastanien stand sie in der Box und hatte den schönen, kleinen Kopf über die Wand gelegt. »Cara,« sagte die Frau und öffnete, und schon fühlte sie die warmen Nüstern an ihrer Wange. Ein Sonnenstrahl schlüpfte herein, die großen Pferdeaugen glühten wild und zärtlich auf. Sie stellte sich dicht an die alte Mutterstute und drückte das Gesicht in die warme Höhlung zwischen Schulter und Hals, wo das Netzwerk der Adern schauerte. Ihr war, als stünde sie an eine Schwester gelehnt, die verzaubert war und nicht reden konnte, aber alles verstand; alles was kühn und heiß und traurig ihr Herz aufrauschen ließ und plötzlich ihren Blick verdunkelte.
»Du und ich, Cara, du und ich –« sagte sie und wußte nicht, daß sie gesprochen hatte. Und dann mußte sie gehen, und die alte Cara legte wieder den Kopf über die Wand und sah ihr nach, diesmal ohne zu wiehern ...
Die Kinder hatten noch Aufgaben für morgen. Aber sie blieben in dem langen, hellen Gang stehen, an dessen äußerstem Ende sich ein hohes Fenster nach dem Park zu auftat. Heute waren die weißen Vorhänge zugezogen, es herrschte ein totes, weißes Licht; es war ganz still, nicht einmal eine Wespe summte. Wie auf dem Meeresgrund, dachte Ali. Er hatte zu Weihnachten ein Buch bekommen mit Bildern von Korallen und Seeanemonen, die Schatten warfen auf den glatten weißen Sand, viele hundert Faden tief.
Die Kleudchen saß dort am Fenster, klein und dunkel, wie am Ende der Welt, vor ihr der Tisch, wo sich sonst die Flickwäsche türmte. Heute stand eine Schüssel darauf, und die Kleudchen hatte Minka, ihre kleine, fette Wachtelhündin, auf dem Schoß; sie fing ihr die Flöhe.
»Da,« sagte Adallah, der gleich Feuer und Flamme wurde, solche Jagd war doch zu interessant, »du mußt den Finger naß machen, Fau Kleudchen, dann geht's besser.«
»Ja, die kleinen Schwarzen sind zu fix,« sagte die Kleudchen, »das sind die Männchen. Die großen Braunen können nicht so rennen.« Sie steckte wieder einen ins Wasser. »Da könnt ihr zappeln,« sagte sie rachsüchtig.
»Fau Kleudchen,« sagte Adallah, »Vate fäht zu Bahn; es is 'n Tegamm gekommen.« Die Kleudchen ließ Minka zur Erde gleiten. Ihr kleiner, zahnloser Mund schnurrte zart und gramvoll zusammen. Sie blickte vor sich hin. Dann stand sie auf und ging mit kleinen, knappen Altweiberschritten den Korridor hinunter; der Kamm steckte in der Tasche ihrer schwarzen Moiréschürze; Minka watschelte kurzatmig hinterdrein.
»Kinder, Kinder,« sagte die Kleudchen. Und dann: »Macht euch nun an eure Aufgaben, nicht wahr?«
Sie ging die Treppe hinauf, es krachte bei jedem Schritt, sie mußte sich am Geländer festhalten; auf halber Stiege machte sie halt. Die Kinder hörten sie in das verschlossene Zimmer gehn; dann machten sie sich an ihre Aufgaben für Herrn Pastor Gordon.
Nun war die abendliche Milchsuppe glücklich vertilgt, ein Gericht der Ewigen Wiederkehr, dem ebenso regelmäßig eine Schüssel der Jahreszeit entsprechenden Kompotts folgte. Adallah, der Obst nur in rohem, wenn möglich unreifem Zustande würdigte, hatte namentlich vor gekochten Pflaumen einen Abscheu, während ihnen Ali einen sekundären Reiz abgewann, indem er später die Kerne gegen die geschwärzten Ahnenbilder im Korridor spuckte. Er hatte sich darin zu einem wahren Scharfschützen ausgebildet.
Auch diesmal räsonierte Adallah leise mufflich vor sich hin, und die Kleudchen hatte ein Einsehen und räumte alles ohne Gegenrede weg. Sie schien heute nur auf eins zu drängen, daß die Kinder möglichst bald schlafen gingen.
Das Gewitter war noch immer zu keinem Entschluß gekommen. Auf der Seeseite zuckte es ab und zu fahl auf, und die Haufen dürrer Lindenblätter wirbelten plötzlich auseinander, wenn ein kleiner Windstoß sie aufkescherte. Die Schwüle hatte sich eine Spur gehoben, wer konnte sagen, ob heute nacht noch die Erlösung kam.
Nachdem sie ein wenig an einem Lampenschirm für Papas Geburtstag gepappt hatten, gingen die Brüder, ziemlich klebrig und deprimiert, hinauf in den Giebel, wo ihr Zimmer war. Sie schliefen dort allein. Es war eine Diele in der Mitte, auf welche drei Türen mündeten; ihnen gegenüber ein dem ihren ähnlicher Raum, wo Kleudchen die besseren Äpfel und allerhand Kräuter verwahrte, Fenchel, Krauseminze und Zitronenmelisse; es roch nach Apotheke durch die Türritzen. Im Hintergrund aber war ein Verschlag, wo Koffer und Körbe aufgestapelt standen, auch mancherlei ausrangiertes Mobiliar, kummervoll aussehende Lehnstühle und Etageren, denen Dominik bei Gelegenheit zu neuem Jugendglanze verhalf. Im Dämmerlicht gab es dort kuriose Umrisse, Schatten und Geräusche.
Die beiden genossen ihre Freiheit im Giebel, aber es gab auch Momente, wo sie lieber unten geschlafen hätten oder im Seitengebäude, wo Kleudchen ihr Reich hatte. Aber sie schämten sich, es einzugestehen. »Ich glaube gar, ihr habt Angst?« würde Mama sagen und die Augenbrauen hochziehen. Nein, lieber knackende Schränke und unmotivierte, schlurrende Geräusche als das! Heute aber, mit dem Gewitter in den Gliedern, lagen sie recht klein und kümmerlich in ihren Bettchen, mit großen Augen zum Gebälk aufschauend, wo ein pelziger Nachtschmetterling mit Gebrumm seine Kreise zog.
»Will Satan mich verschlingen, |
So laß die Engel singen: |
Dies Kind soll unverletzet sein,« |
betete Ali mit Nachdruck; sie hatten beide eine Vorliebe für diese hochdramatische Stelle. Und »Amen« klang es leise stockschnupfig aus Adallahs Bett an der anderen Wand. Diesem war der Gedanke an »Satan« heute abend gar nicht so genußreich wie sonst.
Die Kleudchen sah mit dem Licht in der Hand mehr denn je aus wie eine treue, zuverlässige Hexe; den Kindern kam sie vor wie ihre einzige Rettungsplanke. Es war einsam und schwül hier oben, und morgen war Doktor-Löschwitz-Tag; sie würden wieder mit ihm spazierengehen müssen, so langweilig; er wollte nie aus dem stickigen Park heraus. Herr Doktor Löschwitz kam stets im Bratenrock, er führte sie bei der Hand, er sagte ab und zu: »Nun, meine kleinen Freunde, und was machen die Wissenschaften?« oder: »Nun, Freund Albrecht, wie sagt der Lateiner?« Lauter so einfältige Fragen, auf die man gar nichts zu antworten wußte; aber er ließ nicht los, und seine Hände waren heiß und knöchern in den knirschenden Zwirnhandschuhen.
»Frau Kleudchen, bleib doch da,« sagte Adallah weinerlich, er war nun schon ganz haltlos. Sie saßen noch aufrecht, vom Beten her; ihre Hälschen streckten sich nach ihr aus wie Vogelhälse über den Nestrand. Die Kleudchen stand zögernd mit dem Licht; ihr Schatten schwankte langnasig über die Tapete. »Ich komme in zehn Minuten und bring' euch noch frisches Wasser,« sagte sie. Bis dahin würden sie eingeschlafen sein. Doch die beiden wurden wohl schläfrig, aber darunter blieb eine eigentümliche Unruhe bestehen. Papa war noch vor dem Abendbrot mit Dralle weggefahren, bei der Dürre konnte man den kürzeren Sandweg nicht nehmen. Unten saßen jetzt Mama und Herr Pastor, der immer am Mittwoch zum Tee kam. Aber heute blieb er nicht, das war seine knappe Art zu reden, auf dem Vorplatz, und nun Mamas tönende Stimme: »Ja, da ist der Regenschirm;« und dann ging die Haustür und fiel ins Schloß. Nun war es totenstill, nein, war das nicht Mama, die im Gartensaal auf und ab ging? Wenn sie ans andere Ende kam, drehte sie sich mit einem kleinen Ruck. Abends trug sie immer ein seidenes Kleid, und es war ihr im Wege, und dann sagte sie: »Ach, das gräßliche Kleid ...«
Ja, die Frau im Gartensaal ging schon eine Weile auf und nieder, die Hände auf dem Rücken, den Blick geradeaus, ohne viel zu sehen. Manchmal stand sie an der Glastür still und sah in die Finsternis, und wenn ein Blitz kam, blieben ihre Augen ruhig, als schauten sie andere Dinge.
Dieser Pastor gehörte also auch zu den Menschen, die »zum Guten« reden. Sie hatte Thilo beredet, die Stelle an Gordon zu geben. Seine schottische Abkunft, seine hagere, asketische Erscheinung, sein physischer Mut – damals, als sich der Bulle losgerissen hatte –, das alles hatte sich in ihr mit Vorstellungen von Cromwells ernsten Scharen zu einem Bilde puritanischer Einfalt und Furchtlosigkeit gestaltet, das eine heimliche, romantische Saite in ihr zum Schwingen brachte. Aber sie wurde seit einiger Zeit die Empfindung nicht los, daß Gordon bei allem, was er tat, in seinem eigenen Bewußtsein ein unsichtbares Publikum besaß. Es war nicht der gewöhnliche, äußerliche Ehrgeiz, den sie durchfühlte, nein, etwas Raffinierteres, den Ehrgeiz der Entsagung, der seiner Demut den heimlichen, erquickenden Stachel gab. Und sie erkannte, daß er in schwierigen Momenten versagen mußte, weil er nicht einfach genug war für all die Kompliziertheiten des Lebens.
So hatte sie denn allein, wie sie es gewohnt war, in diesen Tagen tief in die letzten Winkel ihres Herzens hineingeleuchtet, eine jener Generalrevisionen vorgenommen, wie sie ihr die frommen, livländischen Freundinnen als ordentliche und außerordentliche Exerzitien – ähnlich den Alarmübungen der freiwilligen Feuerwehr – so liebevoll eindringlich empfohlen hatten, und wenn sie dabei auch in anderem Geiste verfuhr als die sanften Gemeinschaftlerinnen, ihr war solche Übung von Zeit zu Zeit recht. In den zehn Jahren, die sie hier lebte, hatte sie Thilo mehr und mehr das Geschäftliche, die Rechnerei, die ihn so furchtbar irritierte, abgenommen, hatte mit mancher Unordnung und Unredlichkeit aufgeräumt, für die sie ihm im stillen schwerere Schuld gab als denen, die träge Vertrauensseligkeit in Versuchung führte. Dabei hatte sich ihr Blick geschärft, sich gewöhnt, Ursache und Wirkung fast gleichzeitig zu erkennen und auseinanderzuhalten. Nun wollte sie auch sich selbst nicht schonen, nein, um jeden Preis mit ihrem Gott ins reine kommen. Und da hatte sie manches gefunden, was sie beschämte, Selbstüberhebung, Herrschsucht, Heftigkeit, sogar gegen Untergebene, die sich nicht wehren konnten – recht erbärmlich war's gewesen; aber Menschenfurcht und Eigennutz waren nicht dabei. Sie hatte Thilo angefleht, hatte darum gekämpft, den Fremdgewordenen, das zertrümmerte Leben, das heute nur auf wenig Stunden hier einkehren sollte, nicht wieder von sich zu lassen. Er hatte doch nun seine Sünde verbüßt, nach dem Rechtsspruch, der bei all den braven, hochgeachteten Leuten galt, die unversucht in Ehren starben und begraben wurden, und für deren Gesetze, die trotz aller Tüftelei nie bis zu den letzten verwirrten Wurzeln einer Handlung drangen, sie dieselbe Geringschätzung empfand wie ein überzeugter Naturarzt für die Pflaster und Schlafmittel der berufsmäßigen Doktoren. Was half's, das Evangelium vom verlorenen Sohn zu bekennen, wenn man das Herz nicht hatte zu tun, was jener israelitische Vater getan? Aber das war eben die Halbheit, die Willensschwäche, dasselbe, was Thilo die unangenehmen Abrechnungen von Woche zu Woche verschieben oder ihn zu der feigen Spritze greifen ließ, sobald es stärker in der Schulter bohrte, dasselbe, was ihn seine jüdische Großmutter verleugnen ließ, aus deren Mitgift doch die Vorwerke zurückgekauft, der englische Park und die nunmehr verfallenen Treibhäuser angelegt worden waren. Unbegreiflich! Hätte sie auch nur einen Tropfen des verpönten Blutes in den Adern gehabt, nie hätte sie's verleugnet. Ach, sie hatte sie gesehen, damals, in Livland, diese heimatlosen, jüdischen Leute, auf kleinen, öden Bahnhöfen gestrandet, im rieselnden Landregen oder in Glut und Staub zusammengekauert, gleich aufgescheuchten Nachttieren, denen plötzlich das Licht scharf und ohne Erbarmen in die Augen brennt. Diese Kinder, denen das bittere Leben schon so viel unkindliche Pfiffigkeit beigebracht hatte, diese engbrüstigen Männer, die etwas Weichzähes hatten, Geschöpfe, die sich zugleich anschmiegen und festklammern müssen, um zu bestehen; diese uralten Judenmütter, unbeweglich, ganz verwittert wie Steinbrüche; nicht ihr eigenes Alter, nein, all die tausend Jahre ihres Volkes schienen in ihre Runzeln eingezeichnet. Vor wenig Wochen saßen sie zwischen Kindern und Kindeskindern, am schöngedeckten Tisch, vor sich den heiligen Leuchter, den Kuchen und den Wein, und nun hockten sie hier, die Füße im Graben! Oh, ihr Wasser Babylons! Ein junger rothaariger Jude hatte traurig auf der Ziehharmonika gespielt. Und sie hatte sich so brennend gewünscht, ein großer Maler möchte das malen, wie sie es sah, den flimmernden Staub, die trostlose Landstraße, die Jammervollen da am Graben entlang. Aber hinter ihnen, riesengroß, geisterhaft, silberglühend in der gelben Mittagsglut, ein Kreuz, und unser Herr und Heiland daran, der die blutenden Hände von den Nägeln losgerissen hat und hinunterstreckt zu den Ausgewiesenen in unendlichem Jammer! Aber sie wurden verleugnet. Und verleugnen kam doch gleich nach verraten; ja, war's nicht noch schmählicher, so etwas Passives, Bequemes? Man hielt einfach den Mund, wo man hätte reden müssen, weiter nichts!
Aber ihre eigenen kleinen Söhne dort oben – es kam ein kurzes, trockenes Aufschluchzen in ihre Kehle –, die sollten unberührt bleiben von der Welt. Sie sollten nur wahr sein und deshalb furchtlos, ganz ohne Furcht und darum wahr. Vertuschen, schweigen oder sagen: ich kenne ihn nicht – nein, das würde ihren Jungen unmöglich sein; da hatten ihre eigenen Vorfahren ein Wort mitzureden, die alten Niedersachsen, die lieber mit ihren toten heidnischen Brüdern verdammt sein wollten, als ohne sie himmlische Freuden gewinnen. Auf einen Augenblick sprühte der blaue Funken in ihren Augen auf, der die Kinder, wenn sie ihn erhaschten, eine fremde, ungezähmte Mama ahnen ließ, die ihren eigenen Weg ging, auf den so kleine Jungens nicht mitgenommen wurden.
Wahr sein! Ach, nur das, nur das, alles andere legte sie gern in Gottes Hand, wollte heiter sein, nicht sorgen um den kommenden Tag, so wie die Freundinnen es ihr anempfohlen, deren tiefe Herzensruhe alles um sie her glättete und ganz einfach machte. Aber in dieser einen Sache, da mußte sie selber Posten stehen, zur Stelle sein mit Augen und Händen und ihrem ganzen Verstand; da galt der Spruch, der ihrem Wesen entsprach: Mensch, hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Denn sie wußte, wenn es später hiermit nicht stimmen sollte, würde sie nie vermögen, sich ein X für ein U zu machen, es als eine Schickung hinzunehmen, es dem allwissenden Gott in die Schuhe zu schieben, sozusagen.
So ging sie auf und ab. Der lange Raum war halbdunkel, die Lampe über dem Teetisch machte nur die eine Ecke hell und heimlich. Aber die Blitze zerrissen die Nacht in immer kürzeren Intervallen. Unter ihrem Augenlid fing es wieder an zu zucken, das Kleid hing ihr schwer um die Glieder. Einmal griff sie nach dem Türpfosten und lehnte den Kopf auf den Arm, sekundenlang: wie mochte wohl Frauen zumute sein, die ruhevoll und ohne Zweifel den anderen entscheiden ließen und wußten, es würde gut sein, was er auch erwählte? So ein Mann wie ein großer schützender Baum! Solche Frauen mußten doch einen wunderbaren Frieden haben, so großen Frieden, daß die Werktage fast wie Sonntage wurden ... Oh, die dummen, schmerzhaft-süßen Gedanken, ganz matt wurde man davon; besser, sie nicht weiter zu spinnen.
Neben ihr auf einem Gartentisch standen allerhand blühende Töpfe. Sie knipste ein wohlriechendes Geraniumblatt ab und steckte es an den Gürtel, die herbe Süße tat ihr wohl. Sie hatte so ganz verschwiegene Vorlieben unter den Blumen. Nun war wieder ein Lächeln in ihre Augen gekommen.
Es schlug zehn. Da ging sie zu der erleuchteten Ecke. Mit ihren schönen ruhigen Händen zündete sie das Flämmchen unter dem Teewasser an, rückte Schüsseln und Blumen zurecht. Gleich würde die arme Brunislawa geschlüpft kommen und sich schüchtern und gewichtlos auf der Sofakante niederlassen, als hätte sie kein Recht dazu. So überbescheidene Menschen waren im Grunde doch nervenangreifend. Ja und nun in ein paar Minuten mußte der Wagen da sein.
Ali und Adallah waren, nachdem ihnen die Kleudchen Wasser gebracht, doch eingeschlafen. Aber nun wachten sie, ziemlich gleichzeitig, heiß und unruhig auf.
Das Gewitter schien jetzt Ernst zu machen. Das war kein Wetterleuchten mehr, sondern scharfes, bläuliches Blitzen. Der Donner kam immer näher und die Stimme des Windes hatte etwas zornig Pfeifendes, ähnlich wie der Bulle, wenn er ganz böse war und den Kopf zwischen die Vorderfüße bohrte. Die Fensterflügel zerrten in den Haken, und irgendwo war ein Laden locker geworden und klappte mit jedem Windstoß. Man hörte Baumwipfel sausen, tief und unheilvoll, Blätter huschten am Fenster vorbei; dann war es wieder ganz schwarz. Einmal mischte sich auch Rädergeroll in das Donnern. Die Haustür ging, Pferde stampften. »Oooda –« das war Dralles Stimme, die Braunen wollten nicht stehen bei dem Blitzen.
Die Kinder lagen steif unter ihren roten Wolldecken; der Wind fuhr ihnen abwechselnd heiß und kühl über die Haare. Oh, wenn sie doch jetzt unten wären bei den Großen, die gewiß um den runden Tisch, bei Tee und Lampenlicht saßen und sich gar nicht fürchteten, oder im Stall, wo Fritz Dralle im Verschlag schlief und die Laterne im Pferdedunst zwinkerte und Erda in der Kiste lag, das Braune und das Gefleckte liebevoll umringelnd.
Die Blitze folgten einander rascher; der Donner kam jetzt krachend, fast gleichzeitig; das war nicht mehr das tiefe Löwengebrüll des Anfangs. Unten gingen Türen, man hörte Stimmen, Papa krähend aufgeregt, Tante Brunislawas unverkennbarer Klagelaut, so perlhuhnartig, und zwischendurch die Kleudchen wie eine besorgte, vernünftige Truthenne: knapp, knapp, knapp. »Ich werde selbst hinaufgehen,« das war Mamas weicher Alt, »komm auch du, Stanja,« und Papa: »Nein, nein, später,« und wieder Mama: »Doch, Thilo, heute.«
Im selben Augenblick fuhr es blau zum Fenster herein; das Zimmer leuchtete hell auf, man sah jeden kleinen Riß in der Tapete; ein kurzes, scharfes Knistern, als ginge feines Glas entzwei, dem ein ohrenbetäubendes Knattern, eine hohe tückische Salve folgte; es roch seltsam schweflig. Aber nun prasselten schon die Regenmassen aufs Dach, in die Baumkronen hinein; sie wühlten den Kies auf; sie bildeten sofort eine Menge kleiner, aufgeregter Ströme, die über die Terrasse liefen, immer eiliger, immer wütender, die Brüstung entlang, bis sie Ritzen fanden, zu denen sie vereint wie Dachtraufen hinausschossen in den verdorrten, versengten Äpfelgarten hinunter.
Adallah hatte aufgeschrien. Ali blickte wie versteint nach der Türe. Dort, mit übergehängter Joppe, stand Mama, blaß, mit feuchtem Haar, ihre Augen glänzten so sehr, sie lächelte. Würde sie sagen: »Ich glaube gar der Junge hat Angst?« Aber sie sagte nichts dergleichen, sie wandte sich zurück, ein Fremder stand hinter ihr. »Siehst du, Stanja, deine kleinen Brüder sind wach,« sagte sie, »nun müßt ihr gleich Freundschaft schließen.« Ein langer, schlaksiger junger Mensch mit fahlem, kurzgeschorenem Haar ging verlegen von einem Bett zum anderen. Er murmelte »Guten Abend«, er lächelte, aber so als täte es ihm weh.
»Gebt eurem Bruder einen Kuß,« sagte Mama, »denn ihr müßt euch sehr freuen, daß er wieder bei uns ist.« Ihre Hände klammerten sich um Alis Bettpfosten. Die Hände dort, in die sich nun die kleinen, zerkratzten Pfoten ihrer Kinder so zutraulich legten, sie hatten Menschenblut vergossen in tierischer Wut. Und bis es soweit kam, hatten sie anderes verübt, was die Menschen milder beurteilen und das Gesetz milder bestraft, und das ihr viel schrecklicher schien, weil es ihr unbegreiflicher war. War das nun ausgelöscht durch die Strafe? Oder blieb einer, der solcher Vergehen fähig war, dadurch gezeichnet für immer, zu einer Menschenschicht gehörig, die man bedauern, aber nie begreifen konnte? Und schlief vielleicht in ihren eigenen kleinen Söhnen ebenso giftiges Samenkorn und schlief sich nach Gottes Ratschluß zu Tode oder wachte plötzlich auf, mit unbändiger Triebkraft, wenn alles sicher und befestigt schien? Aber war das ein Grund, nachsichtiger zu urteilen, weil man selbst oder das eigene Fleisch und Blut ähnlich straucheln konnte? Wie die Menschen, die feige zu allem schweigen, um ihr eigenes Glashaus nicht zu zertrümmern. Was half Denken und Abwägen? Eines war gewiß: er hatte zahlen müssen mit dem, was am kostbarsten ist, mit der unwiederbringlichen Zeit, mit Sonne und Luft und dem Rausch freier Glieder in der Morgenfrische, dort in der Enge und dem Schweigen, bei grauer, eintöniger Arbeit, ohne Kameradschaft, ohne helles Ziel. Er hatte gezahlt mit langen Jahren der kurzen Jugendzeit und die vergrämten, alten Fältchen an seinem Mund waren die Quittung darüber. Aber was an ihr lag, das sollte geschehen, auf daß er noch einmal in Klarheit, ohne Vertuschen und gerade darum nicht ganz ohne Stolz, sein schweres Leben neu beginnen konnte; und wenn es ihn jetzt in weite Ferne führte, auch dort sollte er wissen, daß sie zu ihm stand in seinem neuen Leben.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?« fragte Adallah, dem der Fremde stumm und hilflos über den kleinen Hemdärmel strich.
Der junge Mensch wurde rot, er murmelte den Namen einer fremden Stadt.
»Stanja ist in einer Schule gewesen,« sagte Mama. »Wir Menschen müssen alle in die Schule. Aber nun hat er ausgelernt.« (Wie geschraubt das klang, dachte sie, gleich als sie's gesagt hatte.)
»Bleibst du nun hier?« piepste Adallah weiter, dem sich schon berauschende Aussichten auftaten, Kombinationen von Stanja mit dem Kahn und Haselnußexpeditionen mit Stanja und dem Gefleckten.
»Nein, morgen reise ich weiter,« sagte der neue Bruder. Er hatte eine verschleierte Stimme, die den Kindern wie ein fremdartiges Instrument vorkam; und es war da etwas Nettes mit seinen haselfarbenen, etwas schräg gestellten Augen, wenn er beim Lächeln das untere Lid so hochzog.
»Ja, aber du kommst wieder und kommst oft wieder, und schließlich bleibst du da und wirst unsere rechte Hand.« Mama hatte ihr leises Mädchenlachen und wurde rot. »Du bist ja unser Ältester. Ja, mein Junge,« und sie legte ihm die Hand auf die Schulter und strich sanft an seinem Arm herab, und aus ihrer Handfläche schoß ein heißer Strahl zurück in ihr Herz, »ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß du ganz bald wiederkommst in dein Elternhaus. Wo auch deine liebe Mutter gelebt hat. Ja und siehst du, mir gehorcht man.«
Der blasse Mensch lächelte wieder gequält, es war alles so freundlich gemeint, aber oh, beinahe sehnte er sich zurück, dorthin, woher er kam, wo er selbstverständlich war und dazu gehörte wie das eiserne Bett, der Schemel, der häßliche Blechkrug auf dem Tisch. Und sie fühlte es und quälte sich auch. Was half die beste Absicht – da waren eben noch Wunden. Es war, wie wenn man einem Schwerkranken sagt: So, nun schlafe schön, morgen ist dir besser; dann lächelten die Kranken auch so mühsam, um ihren guten Willen zu beweisen. Wund war alles; was man auch sagte, es war zu deutlich. Ach, ihre Hand war nicht leicht genug für so schwere Dinge!
Sie wandte den Kopf dem offenen Fenster zu. Es hatte noch ein paarmal geblitzt, aber schwächer; der Donner klang weit ab, als habe das Ungetüm mit dem einen Schlag seine Wut verbraucht. Der Regen rauschte nieder in großen, ruhigen Wogen, ein unendlicher Segen.
»Lieber Gott, der Roggen!« sagte Mama und horchte auf; ihr Mund bebte ein wenig. »Nun ist der Regen noch zur rechten Zeit gekommen.«
Sie ging zum Fenster; sie lehnte sich hin, als wolle sie das Rauschen trinken, als sei sie selbst ganz ausgedörrt gewesen. Es war ihr lieb dazustehen, unbemerkt; so konnten ihre Augen die beiden brennenden Tränen zurücksaugen, ungesehen.
Hinter ihr, bei den kleinen Betten, war nun ein Gewisper und Gekicher entstanden; sie merkte es wie im Traum. Und sie stand regungslos, ohne sich zu wenden; sie spürte, daß dort etwas vor sich ging, ganz außerhalb ihres guten Willens, etwas, das von Recht und Unrecht nicht wußte und nicht von Belohnen oder Verzeihen. Nein, ungerufen, sanft erobernd, wie das neue Gras hier früher und dort später die verdorrten Stellen durchbricht und belebt, heilend wie der Saft, aus der Wunde selbst bereitet, den Baumschnitt überzieht, daß er nicht faulen kann. Sie fühlte, sie konnte nichts dazu tun; aber abseits stehen, sich nicht drein mischen, nicht stören, das konnte sie. Demut! Sie hatte das Wort oft gebraucht, aber doch nur auf andere angewandt. Jetzt eben meinte sie, es in sich selbst zu erkennen.
Diese ereignisvolle Nacht, die die Kinder im Halbwachen durchlebten, dieses Gemisch von Donner und Wagengeroll, die kurze Erscheinung des großen Bruders, der von nun an wie ein unsichtbarer Kriegsgott bei allen Abenteuern der Schiedsrichter war, und, fast ebenso erstaunlich, Mamas Erscheinen hier oben, ihr leiser Duft, ihre Stimme, wie von Regentröpfchen durchglitzert, als sie dort am Fenster lehnte, abseits, freundlich, schwach erhellt ... das alles wurde für Ali und Adallah zu einem unauflöslichen Ganzen, wie Dinge, die man im Nebel gesehen, sich getrennt nicht vorstellen kann.
Beinahe das allermerkwürdigste aber war, daß, als sie bei gleichmütigem Regenakkompagnement wieder allein lagen, Dralle im Gummimantel erschien, naß und wortkarg, aber doch wie ein rechter Himmelsbote, denn er hatte das Braune und das Gefleckte auf dem Arm, setzte dieselben auf die beiden Bettchen nieder und erklärte, es geschähe dies auf Befehl der gnädigen Frau.
Wenn am Nachmittag die Sonne durch die Läden drang und goldene Leitern auf Tisch und Sessel malte, übte Amsel ihr Adagio. Anfangs ging es glatt, aber das war trügerisch, bald wurde es schwarz von kleinen wimmelnden Noten, die alle untergebracht sein mußten; da waren die schrecklichsten Fallstricke, sogar Triller im Baß, wie eingesperrte Brummfliegen. Aber sie arbeitete sich durch, wie ein Maulwurf durch lichtlose Gänge, und dann kam die Belohnung, das Allegretto: still gefaßt, auf feinen Füßchen, sah sich's versonnen um in dem dämmernden Raum, und irgendwie schien es den Ausdruck der Dinge umher zu haben, sich zu vermischen mit dem Duft der Herbstveilchen, mit dem sonngebleichten Gelb und Grau der Kretonnerosen; eine schöne, weiße Hand leuchtete auf, ein schleifender Schritt kam gegangen, ein Lachen war dabei, dunkel und zärtlich.
Die feine, zerbrochene Seele, die über Amsels Kindheit wachte, kam seit Jahren an diesen winters so verlassenen Ort, wo für sie in den großen Alleen, vor den Säulen des weißen, langgestreckten Kurhauses, die Erinnerung wandelte, angetan mit der Krinoline des zweiten Kaiserreichs, jener Zeit, da alles jung und erwartungsvoll gewesen und sie selbst, die schöne Anselma, den Menschen ins Herz gedrungen war wie ein Wohlgeruch. Kalte Winde ließen sie erschauern, für den Süden aber fehlten ihr die Mittel, so kam sie, wenn der Herbst zu Ende ging, immer wieder in das stillgewordene Tal. Dann taten die großen Gasthäuser die Läden zu, in den Gärten roch es nach moderndem Laub, und auf den Wegen war es menschenleer, aber oh, so voll von Erinnerung. Sie paßte nicht mehr in Menschengewühl; Gespenster, ja, die drängten sich heran, aber wie sanft gingen die mit ihr um. Und mehr und mehr zog sie sich zurück; wie ein krankes Tier, fühlend, daß der Kampf zu Ende geht, sich unter Hecken in eine Mauerritze verkriecht in der stillen Anspruchslosigkeit des Todes.
Schon zum viertenmal war sie in die Villa an der Berglehne eingezogen. Wie der Wasserfinder die Quelle, so spürte sie Häuser auf, die bessere Tage gekannt und nun, im Alter verwahrlost, einen eigenen Lockreiz hatten. Mit silbrigen Dächern, mit schönbemessenen Räumen und schlanken Fenstern hinter geflickten Marquisen, träumten sie in der Herbstsonne. Der Hausrat alt und fadenscheinig, die Kretonne gedemütigt durch allzuhäufige Wäsche; aber da waren noch schöngearbeitete Türschlösser, wie man sie nicht mehr macht, schmale Goldleisten faßten die Tapeten ein, Kamine warteten auf Winterabende, und hinter weißen Holzpaneelen, die kniehoch um die Wände liefen, raschelten die Mäuse. Alles aus einer Zeit, als die Häuser fein und zierlich und die Gärten groß waren, und die Menschen anmutig, aber ganz ohne Prunk den guten Dingen dieser Welt die Türen auftaten. Und wenn das gesternte Parkett in der Sonne knackte, ging ein Knistern alter Modenjournale durch die Zimmer und Erinnerung an Lavande ambrée, von sachttretenden Dienern auf zischende Schaufeln getröpfelt. Hier standen noch Hortensien in grünen Holzkübeln und Fuchsien mit ihrem feinen Glockenspiel; auf die gefleckten Sandsteinstufen sanken Blätter und Beeren, Pappeln säuselten golden in der stillen Luft. Der nächste Sturm würde alles mitnehmen, aber noch waren die Tage warm, die Nächte gütig, und im Grase lagen süße, wurmstichige Birnchen, und die letzten Wespen nagten sich hinein, bis der erste Frost sie lähmte.
An der Wand, gradüber dem Flügel, hing Tante Anselmas Jugendbild. Mit den leuchtenden, weich gleitenden Schultern, dem Grübchen in der Wange, dem kurzsichtigen, amüsierten Blick zwischen zusammengezogenen Lidern, in Spitzenwolken gehüllt, eine Garbe ziemlich unwahrscheinlicher Blumen im Arm, einer der schönsten unter den schimmernden Schwänen, wie sie einst, unnahbar und doch empfindsam, und alle mit einer leisen Familienähnlichkeit, aus Winterhalters Atelier hervorgerauscht kamen. Amsel starrte hinauf. Nun waren Wange und Kinn zart gewelkt, wie die Ränder der Malmaisonrose, die es so rasch verrät, ob sie am Tage vorher gepflückt ward. Aber das Grübchen war noch dasselbe, das kam und ging wie Sonnenflecken durch die leisklappenden Jalousien.
Abends, wenn das Lampenlicht die Möbel streichelte und hier und dort ein Bildrahmen, ein Türschloß aufglühte, ließ Tante die graue Häkelei sinken und ging an den Flügel, auf dem das Bild der schönen, unglücklichen Großfürstin stand. Sie blinzelte ihr zu, während sie spielte, mit zurückgeneigtem Kopf, die Zigarette im Mundwinkel. Und es war, als ob Chopins feines Filigran mit dem Rauchgekräusel zusammenflöße, aufstiege in immer leichteren, immer durchsichtigeren Spiralen. Amsel saß an der Erde, die Hände um die Knie, und feine Klingen stachen ihr ins Herz; denn süß und zögernd ging die Melodie an ihr vorbei, und sie hätte bitten mögen: »Bleibe, bleibe,« aber schon war sie in breiterflutenden Gewässern untergegangen, Dinge, die wild und herrlich waren und vergangen sind, hoch aufrauschend von ritterlichem Opfermut und goldenem Leichtsinn ... nur zum Ende noch ein paar Takte wie am Anfang, Arme, die sich auftun, schüchtern flehend. Wie stand doch unter dem Marienbild, dort in dem kleinen Bergdorf: »Mein armes Kind, wo gehst du hin, weißt nicht, daß ich deine Mutter bin?«
Tante Anselma ließ die Hände sinken; die große Müdigkeit war über sie gekommen. Stromab; wie leicht ist das, wenn man müde wird; und die Mündung war nicht mehr fern.
Wenn sie dann wieder bei ihrem Buche saß, starrte Amsel darauf hin, ohne die Blätter zu wenden. Sie mußte an so vieles denken, was ihr Tante erzählt hatte und was da, während der Musik, an ihr Herz gepocht hatte, wie Zweige ans Fenster pochen, wenn der Wind geht: Tante als kleines Ding auf dem Schoß des großen Verbannten, inmitten feurig redender Männer und Frauen mit leidvollen, brennenden Augen. Da klirrten Waffen, da zogen Revolutionen dröhnend durch die Nacht. Und andere Menschenzüge wanderten, stumm, verzweifelt, endlos durch den Schnee, und neben jedem Mann stapfte eine Frau ... dann wieder Lichterglanz und Rauschen, und immer tönte Musik, wild oder zärtlich, wie hinter einem Vorhang. Die schöne Anselma ging durch große Menschenmengen, wie heute durch die Einsamkeit, fein und etwas spöttisch und ganz ohne Furcht, Verfolgten und Geächteten hatte sie Treue gehalten. Aber auch in die Mächtigen dieser Erde hatte sie ihr Vertrauen gesetzt und war nicht getäuscht worden. Folgte sie einer Witterung, wie Tiere und wilde Völker sie haben, die sie den einen zugänglichen Punkt in eisernen Herzen finden ließ?
Ganz jung war sie mit Onkel verheiratet worden, und mit ihm hatte sie wohl so manches durchgemacht. Zeitweise mußten sie auf das verwahrloste Gut ziehen, von dem die alte Kammerfrau noch heute mit Schaudern sprach. Dann lagen ihre Perlen auf dem Leihhaus, ja schließlich kamen sie nicht wieder. Vor ein paar Jahren war Onkel noch einmal aufgetaucht; elegant und verwittert und etwas kreuzlahm, mit großen Saphiren an den nikotingelben Fingern und der ganzen überströmenden Galanterie des schlechten Gewissens. Man saß bei Tische, die Kerzen knisterten, die Malmaisonrosen, die er gekauft hatte, in ihrer Mitte. »Votre fleur, chère amie,« sagte er, und Amsel wand sich; wozu sprach er eigentlich französisch, er schnurrte das R so, dann war er ihr erst ganz antipathisch. Von Biarritz erzählte er, von Monte Carlo und den »potins de Florence«, denn jeden Winter war er an einem anderen Ort. Tante sah geistesabwesend vor sich hin; es war doch seltsam, dieser fremde Mensch, dessen Namen sie trug ... Aber voller Fürsorge war sie doch, konnte sich nicht genug tun an Aufmerksamkeiten für seine Gesundheit und sein Behagen. »Der Arme,« sagte sie, »er hat sich sehr verändert, und es hat etwas Schmerzliches, wenn jemand so begnügsam geworden ist, der früher so verwöhnt war. Ach und etwas Nachsicht und Fürsorge, das Kleingeld hat man ja immer übrig. Den andern freut es, und er hält es für gutes Gold. Nun, Gott verzeih uns allen.« Es lag ihr nun einmal nicht, mit jemand abzurechnen, mit dem sie auch nur eine gute Stunde verlebt hatte. »Es ist so schrecklich umständlich, Buch zu führen über Recht und Unrecht,« sagte sie; »das ist eine Arbeit, die ich gern unserem Herrgott überlasse.«
Nun aber kam Onkel nicht mehr. Tante ließ alljährlich eine Messe für ihn lesen, und es war aus irgendeinem Album ein Bild von ihm auferstanden, aus seiner schönen Zeit, als beau ténébreux an einer Säule lehnend, halb Taschenspieler, halb Fürst der Finsternis. Wenig Bekannte nur drangen in ihre Einsamkeit; ein paar alte Russinnen, die hier das ganze Jahr verbrachten, waren die Getreuesten. Ihr Haus lag rosenumsponnen über den großen Klosterwiesen, eingenistet in dem verwilderten Garten, in Tulpenbäumen und Linden und riesenhaftem Azaleengebüsch. Ewig froren sie, und im Salon flackerte zu allen Jahreszeiten das Feuer im Kamin. Man konnte sich kaum zu ihnen durchwinden vor fürstlichen Andenken: Malachittischchen und gestickte Wandschirme und lebensgroße Katzen aus Porzellan. Die Luft war blau von Zigaretten, und es wurden Bonbonnieren herumgereicht, unerhörte Pariser Fondants, die wie Taufkinder in gepolsterten Atlasschachteln lagen, rosa oder strohgelb oder pistaziengrün. Dort traf man bejahrte Diplomaten, wichtig und geschwollen, voll dunkler Rankünen und einer Fülle einbalsamierter Anekdoten. Oh, wie schnatterten die alten Russinnen und stießen kleine Schreie aus wie teilnahmsvolle Papageien und nannten einander beim Vatersnamen wie in den Büchern von Tourguénief, und immer die Zigarette im welken Mund, die Lippen vom ewigen Rauchen schlaff geworden, wie bei den drei Spinnerinnen im Märchen, redeten sie von Politik und Liebe und Verstorbenen. Amsel saß derweil über juchtenlederne Albums gebückt und besah sich die Menschen, wie sie früher ausgesehen hatten; Herren, romantisch schmerzlich mit ihren Vatermördern und schwarzen Halsbinden, den Zylinder in die Hüfte gestemmt, ein ganzes Adagio im Blick; und feine Frauen in seidenen Krinolinkleidern, wie die Püppchen, die man aus umgestülpten Mohnblumen macht; elegisch über Balustraden gelehnt, eine Weintraube essend: kleine erlöschende Gespenster, die in den alten duftenden Büchern langsam vergilbten.
Wenn sie dann wieder daheim waren, konnte es nichts Schöneres geben, als wenn Tante »Albumgeschichten« erzählte, gerade jetzt, wo es früh dunkelte. Draußen seufzten die Pappeln; die Moderateurlampe stand milde auf dem Tisch, von den Rosen löste sich ab und zu ein Blatt, und in der Lampe fiel, still und zuverlässig, ein Tropfen Öl in den Behälter. In ihrem Schein liefen Herbstmotten über den Tisch, die winzigen, perlmutternen und die großen mit weißen Pelzröckchen und Gesichtern wie kleine Eulen. Dann erzählte Tante. Und wie sie erzählte, wurden Länder und Bauten zu etwas zauberisch Kleidsamem, in dem sie herumging, jung und fremd, und war doch wie beim Träumen ganz selbstverständlich, sie durch die fernen Perspektiven kommen und schwinden zu sehen. Da war Venedig. »Dort sitzt die Markuskirche wie eine große goldene Henne,« sagte sie. Und Amsel sah alles in Gedanken, sah die braungoldenen Tiefen, wo die Säulen wie Orgeltöne aufsteigen und wieder verschwimmen in Weihrauchblau und Schatten, all das wimmelnde, traumartige Gehen und Stehen der Menschen, sanftbewegt wie Algen auf dem Meeresgrund. Draußen auf dem Platz war Musik. Da saß Tante in einem weißen Kleid mit vielen schwarzen Samtbändchen benäht und aß Eis mit den jungen österreichischen Offizieren, die so fabelhaft dünne Taillen hatten. Rauschende, wiegende Musik. Und Kähne kamen von den Inseln, mit Melonen und Trauben und Paradiesäpfeln ganz beladen, tief schwammen sie im Wasser, und andere, aus Murano, mit farbig glitzernden Glasperlen, hineingeschüttet wie Sand. Einer zog langsam vorüber, mit einer gehäuften Last von schwarzem Schmelz und Flitter – wie funkelte das traurig-prächtig. Wie der Tribut einer trauernden Königin sei es gewesen.
Compiègne! Die mächtigen Alleen, die am Ende zusammenliefen in einem grüngoldenen Punkt; die uralten Bäume bilden ein Gewölbe, unter dem Tante mit der schönen Kaiserin fährt. Beide in bauschenden Kleidern, mit gestickten Bolerojäckchen, winzige Barettchen auf dem schweren Haar, eine Feder wallt ins Genick. So, immer die breite, dämmrige Allee hinunter, trott, trott, mit schweren, glänzenden Karossiers in den grüngoldenen Punkt hinein. Dort, in der Sonne, träumt der schlanke Pavillon, mit Bildern berühmter Jägerinnen in den Stuck der Wände eingelassen; dort liest der feine, ironische Schriftsteller seine Novellen vor; Sehnen und Entsagen, wie kühl, wie knapp in Worte gekleidet ... Manchmal kommt auch der Kaiser. Fett und müde, mit schweren Augenlidern, man wußte nie, schlief er oder hörte er zu. Aber immer ritterlich und voll behäbiger Grazie.
Andere Bilder. Tante in Galizien. Um zu sparen. Das war auch eine Abwechslung. Nachher konnten wieder Smaragden und Brüsseler Spitzen an die Reihe kommen. Ihr war das Lumpenleben recht – sie lachte zu allem. Nur mit der Leibwäsche, ach Gott, ja, da war sie wohl sehr verwöhnt. Madame Céline flickte und stopfte, es war so fein, so mürbe. Und dann, daß sie immer Blumen haben mußte, auch im Winter ... Aber sonst? »Du lieber Gott,« sagte Madame Céline, »Madame gab ja alles her. Es kam ihr nicht darauf an, immer dasselbe zu tragen. Wenn sie dann den Hals so reckte, was ihr die Leute als Hochmut auslegten, aber es war doch nur, weil sie kurzsichtig war – und groß und schlank in einen Salon hereinglitt – une déesse, quoi? – wer dachte da an Kleider!«
Das Leben auf dem Gute, mit den Tanten, war ein Hauptthema für Madame Céline. »Ah le vilain pays, mademoiselle,« klagte die kleine Französin mit dem verwitterten Gesicht, den rastlosen Augen, dem glatten, korrekten Veuve-d'employé-Kleide: »Nichts als Stoppeln und Sümpfe und la boue haut comme çà. Weiden standen an den Landstraßen, schwarz von Krähen. Wie sie schrien, die Unglücksvögel. Das Haus, nur ein Stockwerk, aber lang wie eine Schlange. Wenn Madame klingelte, mußte ich erst durch sechs andere Zimmer, alle gingen ineinander wie ein Korridor. Le palais des taupes, quoi! Gott, wie es da aussah. Überall lagen die Tanten herum, auf allen Sofas, des vieilles avec des burnous, mit gelben Babuschen an den bloßen Füßen und die Hände voll kostbarer Ringe – und die Nägel gelb von Tabak. Denn immer wickelten sie Zigaretten und spielten Patience, schon am Vormittag. Et toujours un tas de petits chiens – unter den Plümos, es war wie Erdbeben. Oder sie schlampten im Garten herum in Frisierjacken und Papilloten und pflückten Beeren; dann wurde Saft gekocht oder Gurkenwasser gegen die Sommersprossen. War das nun ein Milieu für meine junge Dame, die an allen Höfen Regen und Sonnenschein gemacht hat und in allen Sprachen korrespondierte avec des personnages illustres? Aber der Engel, sie lachte nur. Abends stieg sie gern auf eine Anhöhe, wo eine Windmühle war; da stand sie, und ihr Kleid wehte ... man sah so weit ins Land, der Himmel war wie eine Feuersbrunst, die Fohlen liefen herum mit wilden Mähnen. C'est beau, sagte Madame. Nun ich konnte mir Schöneres denken, so ein Apriltag auf den Boulevards, wenn's eben noch geregnet hat, aber die Sonne scheint aufs nasse Pflaster, und die Blumenkarren mit Veilchen duften so frisch ... Ich wäre dort an Melancholie gestorben, wenn nicht der Bücherschrank gewesen wäre. Er roch nach Schimmel, der Atem verging einem, wenn man aufschloß. In dem einen Sommer las ich zweiunddreißig Bände Paul de Kock. Er rettete mich vor Tiefsinn. Kein Wort verstand ich, was diese Wilden sprachen. Die Mädchen gingen mit bloßen Beinen und hatten Ketten aus Vogelbeeren um den Hals, aber die Betten wurden von Männern gemacht; struppig waren sie comme le père Noël und hatten außer ihren gestickten Hemden auch nichts Nennenswertes an. Es war ja tief drinnen in dem barbarischen Lande, sur la route de Varsovie. Si mademoiselle voulait se tolurner un peu,« sagte Madame Céline, denn sie probierte Amsel ein neues Kleid an, aber die Stecknadeln in ihrem Munde hinderten nicht ihren Redefluß.
»Am Nachmittag,« fuhr sie fort, »kamen die Nachbarn, geritten und gefahren. Dann fuhren die Damen aus dem Mittagsschlaf, avec des cris de paon, und zogen sich endlich an. Das waren kuriose Toiletten. Aber meine junge Dame war immer duftig, und wenn ich die Nacht hätte durchbügeln müssen. Damals trug man Mullkleider mit Volants, so etagenweis bis oben ... Sie sah aus wie eine Glockenblume aus ›fleurs animées‹. Dann gab es Tee und Framboise und zwanzigerlei Konfitüren, und Melonen, nie sah ich solche Melonen. Die Damen schrieben einander Rezepte ab. Wenn dann die Lampen kamen, wurden die Karten geholt, sie spielten die halbe Nacht durch. Oft flogen Fledermäuse herein, ich hätte geschrien vor Angst, aber die Alten banden sich Antimakassars um die Köpfe und spielten ruhig weiter; das gab Schattenbilder an der Wand, die reinen Hexen; aber sie blieben totenernst dabei. Ihre Tante langweilte das ewige Kartenspielen, sie setzte sich an den Flügel, un Erard passablement vermoulu, dann sahen die alten Damen von den Karten auf und nickten den Takt mit den Köpfen. ›Ah, Beethoven, il n'y a que çà‹ – sagten sie. Aber wenn sie Chopin spielte, weinten sie, denn sie hatten ihn alle geliebt und an seinem Sterbebett gesessen. Junge Herren kamen auch, sie lagen Ihrer Tante zu Füßen, wie auch konnte es anders sein! Da war der Stefan Czartorisky, Gott, wie distinguiert, des pieds d'enfant et toujours le mot pour rire. Wir alle beteten ihn an. Aber er hatte eine viel ältere Frau, eine häßliche Viper, sie verklatschte meinen Engel, und da gab es dann des embêtements avec Monsieur le comte ... Zum Herbst wurde es ganz einsam, die Wege waren ein Morast. Da saßen sie dann im Salon und stickten auf Stramin, Rosen und Pensees, ich seh' das Muster noch, un vrai cauchemar; ›c'est un peu monotone, ma pauvre Céline,‹ sagte Madame, wenn ich alles wieder auftrennen mußte, denn mit Handarbeiten ist sie nie ein Held gewesen. Gott, sie war noch so jung. Man mußte sie lachen hören ... Ja, damals waren Sie noch gar nicht auf der Welt! ...«
Amsels Erziehung war, nächst dem Gott Zufall, einer Reihe mehr oder minder verdienstvoller Fräuleins anvertraut, deren Kommen und Gehen durch den Wechsel des Aufenthalts bedingt war, aber auch durch plötzliche Erkenntnisblitze, daß Tantes Mitleid ihrer Menschenkenntnis Dunst vorgemacht hatte. Eine Deutsche, bieder und schwärmerisch, die in Amsels Erinnerung mit dem Lied von der Glocke und einer fürchterlichen Brosche aus Elfenbein verschmolz, denn beim Hersagen jener ebenso unsterblichen wie langatmigen Dichtung hatte sie immer, wie der Vogel auf die Schlange, dorthin gestarrt. Einmal gastierte auch eine Pariserin mit dünner Taille und kleinen Füßen. Mit ihrem schmalen Kopf, ihren schwarzen, zusammengewachsenen Augenbrauen, saß sie wie ein gereizter Schwan, der gleich beißen wird, hinter den Büchern. Aber sie verschwand meteorartig. »Der himmlische Akzent war Schuld,« hörte Amsel Tante sagen, »der ist für mich wie für den Schweizer der Kuhreigen.« Nach ihr kam ein Fräulein aus dem Waadtland, mit flachem, kalvinistischem Strohhut und hüpfender Intonation, die an Heimweh litt. Sie erzählte vom Pasteur und dessen Sohn, le missionnaire, un jeune homme si bon, si doué, und wie sie zusammen im Frühling in die Berge zogen »pour cueillir la gentiane«. Durch diese junge Helvetierin wurde Amsel mit der ebenso vortrefflichen wie findigen Familie des Robinson Suisse bekannt. Nichts brachte diese Menschen außer Fassung. Denn immer, im kritischen Augenblick, spürten sie die außergewöhnlichsten Dinge auf, um ihren Hunger zu stillen, eßbare Ameisen, Stachelschweine und Schildkröten, oder auch Faultiere, die wie Räucherwaren stumpfsinnig an ihrem Aste hängen blieben, bis sie gebraucht wurden; von unerhörten Früchten zu schweigen, die den Nährwert der Kartoffel mit dem Wohlgeruch der Ananas verbanden. Man brauchte um das leibliche Wohl der Familie wirklich nicht bange zu sein. Aber auch für geistige Stärkung sorgte der Himmel. Denn im Augenblick tiefster seelischer Depression, als sie mit ihrem Schicksal zu hadern begannen, kam von dem unerschöpflichen Wrack eine Bibel angeschwommen. Beschämt sanken sie am Strande auf die Knie, und Vater Robinson sprach ein Dankgebet. Und das alles in tadellosem Passé Défini vorgetragen! Ja, es war beinahe zu viel der Tugendhaftigkeit, so als ob einer Lebertran einnähme und dazu auch noch lächeln würde.
Die alten Bäume in der Allee waren braun geworden, kleine Buben in gestrickten Mützen suchten Eicheln im dürren Laub, und auf den Klosterwiesen, wo die Laienschwestern, großen Elstern gleich, das letzte Grumt geharkt hatten, standen nun die Herbstzeitlosen, blaß und zerbrechlich. Der blaue Dunst, der klares Wetter verhieß, schlug morgens in glitzernden Tröpfchen an den Fensterscheiben nieder. Der Herbst war milde hier, der Winter kurz; nur einmal ausschlafen wollte die Erde, nach all dem Blühen und Schenken; bald, schon im Februar, fing es wieder an zu wispern und zu keimen.
Tante sah still in die Luft. Hier hatte sie als junge leichtherzige Frau gute Tage erlebt und dann noch einmal, ein paar Jahre später, als das ganz große Glück Besitz nahm von ihrem Geist, ihren Gliedern, von jedem seligen Tropfen Bluts. Ach, gut war es gewesen, gut!
Auf der Promenade hatten die kleinen, eleganten Buden geschlossen, nur der Mann mit den böhmischen Gläsern und der Mann mit den Kuckucksuhren saßen noch hinter ihren Waren wie verklammte Vögel. Und der alte Tiroler mit dem Quastenhut und seine stattliche Frau, die allen Fürstlichkeiten der Erde Handschuh anprobiert hatte, waren auch noch da, aber sie packten ihre Schachteln zusammen. Vor der Bude standen Tisch und Stühle, die Blumenverkäuferin kam mit Herbstveilchen und den kleinen, ausdauernden Monatsrosen. Tante schwatzte mit ihr. Es ging immer gemütlich zu, wenn sie dabei war, das leichte Blut ihrer süddeutschen Mutter redete seine Sprache. »Wenn ich nur wüßte, warum es oft bei herzensguten und gar nicht dummen Menschen so furchtbar langweilig zugeht,« sagte sie. »Ich schwör' dir, Amsel, ich wollt' den Kaiser mit unserer Frau Schwämmle zu einem Kaffee bitten und die Stimmung sollte großartig sein. Man muß sich nur fest einbilden, daß man sich für die Antworten der Menschen interessiert, und das Kuriose ist, daß man es dann schließlich wirklich tut. Und ob's nun ein König ist oder eine Waschfrau, alle brauchen sie halt Verständnis, aber sie merken's ganz genau, ob es echt ist oder nur so Getu. Wenn ich vier Wochen lang Königin wär', ich sag' dir, ich wollte die Leute königstoll machen.«
Das Kurhaus lag weiß und langgestreckt im Nachmittagslicht. Tante ging hin und her, blieb manchmal stehen. Sie sah da wohl mehr, als für andere zu sehen war. Dort, unter dem »russischen Baum«, hatte sie oft mit den Cousinen gesessen. Sie spielten Domino mit dem alten galanten Staatsmann, und die Adjutanten des Königs stellten sich dazu, schlanke, preußische Tannen, und gaben Ratschläge, denn die alten Russinnen nahmen es furchtbar ernst mit dem Spiel.
Hier traf sich die Jugend zu Fahrten und Landpartien nach alten Jagdschlößchen und Ruinen, wo man auf Türme stieg und in die schauernden Wälder niedersah und weit in die Ebene, die glitzernde, in Sonne und Dunst. In Char à bancs und englischen Mailcoaches, vier- und sechsspännig, ging es los. Sie saß meist auf dem Bock neben dem dicken, rothalsigen Mister Tomlinson, der seines zarten Töchterchens wegen hier lebte ... Es war ein fast traumhaftes Gefühl des Ausruhens neben dem vierschrötigen Riesen. Einmal waren sie in ein Wagenknäuel geraten, die Pferde bäumten sich, alles schrie und fluchte. Der starke Mann neben ihr zupfte kaum ein wenig an den Zügeln, und seine kleinen, hellblauen Augen blitzten in dem ziegelroten Gesicht. »Sit tight, you are quite safe, little girl,« hatte er gesagt, denn in ihrer holden Jugendschlankheit kam sie ihm kaum älter vor als sein eigenes kleines Mädchen. Und dann zwang er die vier Pferde mit unmerklicher Gewalt, rückwärts zu treten, und schon hatte sich das Chaos entwirrt. Ihr war gar nicht bang gewesen, eher schläfrig; wenn er dabei war, fühlte sie sich geborgen wie einst als Kind in ihrem kleinen Gitterbett. Ach, wie gut war das Leben! An Rebenhügeln ging die Straße vorbei, die blauen, duftbestäubten Trauben wurden geerntet. Hübsche, sonnverbrannte Mädchen lachten unter roten und gelben Kopftüchern. Zwischen den Weinstöcken ragte ein großes graues Kruzifix in die Luft, und die Leute setzten ihre schweren Butten zu seinen Füßen und wischten sich den Schweiß von Hals und Stirne. Manchmal fuhr man im Tal, das Flüßchen hinauf, bis zu dem Wasserfall, wo es Forellen gab und säuerlichen Landwein. Wie flammten die Bauerngärtchen, Rosenstöcke ganz beladen, Kapuzinerkresse und blaue Winden in luftigem Gerank; große reife Kürbisse lagen in der Sonne, und unter den Dächern hingen Girlanden von Welschkorn. Aber von den Wiesen kam der Geruch vom zweiten Schnitt, der so scharf ins Herz greift, wie Anklammern an ein letztes Glück, und über den Höhen lag Dunst, damals wie heute der Bote milder Tage.
Sie hatte das alles ganz unbewußt geschaut und in die Scheuern gesammelt; heute zehrte sie davon. An Abende dachte sie zurück bei der berühmten Sängerin, die sich in einem Seitental, von Erlen umdämmert, einen kleinen Musiktempel erbaut hatte. Mit halbgebrochener Stimme trug sie die alten feierlichen Arien vor. Ihre großen, furchtlosen Gebärden, ja ihre düstere Häßlichkeit paßten zu der Meisterschaft, mit der sie Licht und Schatten breit und unbekümmert hinwarf. Oder sie sang spanische Volkslieder mit ihren Töchtern, jungen, mageren Geschöpfen, bräunlich wie Hindumädchen, aneinandergelehnt ... Wie das von ihren Lippen kam, die heiseren Rufe des Maultiertreibers, der langgezogene Schrei des Melonenverkäufers; und die Mutter am Klavier, die mit dunkler Stimme ihren Part mehr knurrte als sang ... Zerstoben, verstummt. Wer konnte sie noch singen, diese schmerzlich gefaßten Rezitative in königlichem Faltenwurf, diese gramvollen Arien, in denen es wetterleuchtet von niedergepreßtem Gefühl? Der kleine Musiktempel war abgerissen, das Wohnhaus in andere verbaut, die Bäume gefällt. Und daneben, wo der verbannte Dichter wohnte, einer der vielen seines Landes, die verfolgt wurden um der Gerechtigkeit willen; ja, das Haus war noch da, aber tot, mit geschlossenen Läden, die Wege von Moos übersponnen, stand es zwischen großen Platanen über dem kleinen Gehölz, wo im Mai die Nachtigallen im Faulbaum schluchzten. Und sie dachte an den schönen, grauhaarigen Mann, wie er, weißgekleidet, mit schweren und doch weichen Schritten, einem guten Bernhardinerhund ähnlich, im Garten auf und ab ging, wenn in dem versumpften Erlenwäldchen, ihm zu Füßen, die Frösche quarrten. »J'aime les grenouilles, ça me rappelle la Russie,« sagte er. Oft plagte ihn die Gicht, dann ruhte er im Gartensaal zu ebener Erde, sein Fuß, zu einem unförmigen Bündel gewickelt, wie eine gekränkte Gottheit auf einem besonderen Taburett. Die Wände mit Büchern austapeziert, das still brennende Kamin und auf dem Tisch ein großer Strauß Heliotrop. Dazu rauchte er die kleinen blonden Papyros seiner Heimat und bekritzelte lange schmale Papierstreifen, die den Teppich bedeckten. Hier waren viele seiner Erzählungen entstanden, mit ihrem eigenen, ureigenen Duft wie von Frühlingswald und allerkostbarstem Tee. Aber nun hing am Gitter ein Plakat: Baustellen zu verkaufen. Wie lange würden sie hier noch rauschen, die Silberpappeln, die Birken und Platanen?
Oh, wie hatten sie damals seine Bücher verschlungen, wie hatten sie geschwärmt, gehofft und prophezeit. Musik und Philosophie und Menschenrechte, alles wurde leidenschaftlich diskutiert; da war so vieles, das zum Licht begehrte, überall schäumten kleine Wirbel über dem tiefkochenden Meer. Und vieles war eingetroffen seither, was sie herbeigesehnt hatten, aber in plumperen Umrissen, mit Abzügen und Zugeständnissen, die ihrem kühnen Hoffen fremd gewesen. Denn verwirklichte Ideale sehen wohl immer aus wie die Stiefmutter, die den Schmuck der rechten Mutter trägt.
Wo waren sie hin, die zarten, rastlosen Frauen, die sich im milden September zusammenfanden, wenn die Trauben so süß und die zweite Rosenblüte noch erlesener war als die, die der Juni beschert? Wenn Johann Strauß seine Walzer dirigierte, während am Nachthimmel große Raketenbündel hoch fuhren und knisternd niedersanken, goldener Hafer und blaue strahlende Sterne, zögernd, trauernd um die eigene kurzlebige Schönheit? Viele waren tot, ach, wer nannte sie noch? Andere lebten, fern von hier, von neuen Pflichten, neuen Generationen beschlagnahmt: Großmama, Nonna, petite tante ... Ach und jene Allersüßeste, Allerkostbarste, deren Herz überschäumte in Bewunderung alles Schönen, in leidenschaftlicher Abwehr aller Enge und Halbheit, sie lebte hinter Mauern; ja, lebte sie noch? Sie, deren göttlich schöne Füße die Bildhauer toll gemacht hatten, ging sie barfuß auf kalten Steinen? »Diane vaincue« hatten die Freundinnen sie genannt, nach einer tiefgelben Rose, die damals neu war; deren schmalen, bräunlichen Knospen sie ähnlich sah. Ach, Runzeln und Gebrechen paßten nicht zu ihr, wollte Gott, daß sie schon lange in irgendeinem totenstillen Klosterhof lag, wie eine Schmetterlingspuppe in ihre kleine braune Kutte gewickelt, dort, wo die Zikaden in der Mittagsglut sägen und der Lorbeer die Luft mit bitterem Dunst erfüllt!
Ja, sie hatten sich alle mit dem Leben eingerichtet, so oder so, und da waren manche, denen das große Glück nie genaht war, oder die es nicht erkannt hatten, da waren auch die kleinen Hermeline, die nichts riskieren wollen. Aber viele hatte das Leben wissend gemacht. Und ab und zu hörten sie voneinander. Sie, die für Zukunftsmusik und Befreiung der Geknechteten geschwärmt, die über Tolstoi und Schopenhauer diskutiert hatten, als ginge es um ihr Leben, so edelmütig und verschwiegen in der Freundschaft, so weich und rückhaltlos in der Liebe ... »Ma chère belle,« so fingen ihre Briefe an; ja, aber nun mußten sie Brillen aufsetzen, um sie zu lesen.
Das große Glück, das nur wenige finden; der einsame Weg, den nur wenige gehen! Ach, mit zitternder Hand griff sie ans Herz, den Mund gespannt in unvergeßlich süßer Qual: Mein Schmerz, mein Eigen! Und wenn sie die Augen schloß, spürte sie mit suchenden Nüstern Heuduft und Jasmin in der Sommernacht, spürte die kühle Glätte des Flügels, an den sie die Stirn gelehnt hatte – oh, wie oft –, damals, wenn er ihr mit leichter, fast knabenhafter Stimme die neuen Opern sang, welche zu jener Zeit die Welt aufwühlten und in feindliche Lager teilten. Ob unter seiner Leitung das Orchester zu einem großen, gebändigten Instrument wurde, einer Republik der Stimmen, von seines Blutes Rhythmus befeuert und gezügelt, oder ob sie beide, träumend, zuhörend, schweigend genossen, es waren dieselben Schauer, es war dieselbe Weite und Enge, die sie im Herzen erlitten, eine Gemeinschaft, ein äußerstes Durchdringen, das den Menschen in dieser unfaßlichsten und doch körperlichsten aller Künste gegeben ist.
Um sie her fielen die Kastanien ins gelbe Laub; unter der Säulenhalle war es leer, die Stühle aufeinander getürmt, leer der runde Musiktempel am Eingang. »Si vous n'avez rien à me dire« – oh, diese kleine zuckerige Melodie! Damals war sie neu, und man spielte sie zum Überdruß. Nun ging sie ihr auf einmal durch den Sinn, ein kleines betrübtes Gespenst. Sie fühlte ihre Augen brennen und wie ihr Mund sich verzog. Nach Hause, nach Hause, die Sonne wärmte nicht mehr.
Amsel war mit Madame Céline einkaufen gegangen. »D'abord les petites brioches pour madame,« sagte die kleine Französin. Der Sommerkonditor Romplemayère, wie Madame Céline es aussprach, hatte sein Zelt schon abgerissen, aber sein Rivale, der den märchenhaften Namen Schababerle trug, gleich dem Efeu bodenständig, überwinterte hier. Eigentlich müßte es umgekehrt sein, hatte Tante gesagt, denn sie fand, daß sie beide die Jahreszeit verwechselt hätten. Rumpelmaier war doch sicherlich ein Abkömmling von Rumpelstilzchen und paßte daher weit besser zu Schnee und Christbäumen und krausem Winterspuk als zu der Côte d'Azur. Während Schababerle, den konnte man sich nur mit einem Turban denken, wie er Sorbet und Limonaden bereitete, kühl-wohlig in der Sommerschwüle, und schließlich wurde er Pastetenbäcker des Kalifen und erhielt die jüngste Tochter des Großwesirs zur Frau.
Sie gingen durch Gassen und Gäßchen, die den Berg hinaufkletterten, bis zum Schloß mit seinen Höfen und Brunnen und überdachten Treppchen und der großen Lindenterrasse. Die Tore waren verschlossen, die freundlichen, grauhaarigen Lakaien gingen nicht mehr aus und ein, und die Linden standen in einem Teppich raschelnder Blätter. Staffeln führten hinab zu kleinen Plätzen, wo im Dämmerlicht Brunnen rieselten, an sauberen Häusern vorbei mit Transparenten an den Fenstern, hinter denen Waisenratswitwen im Lehnstul saßen und sich nicht entschließen konnten Licht zu machen, ehe die Laterne an der Ecke brannte; so sahen sie vor sich hin, die Hände im Schoß, und sannen über das Alter des Kanarienvogels nach, ihr eigenes darüber vergessend. Kuriose Lädchen gab es hier, Althändler, in deren Schaufenster stockfleckige Lithographien verblichener Landesväter zwischen gestickten Klingelzügen und alten, gedemütigten Regenschirmen lächelten, daneben ein Sargtischler, der kleine Sargmodelle ausgestellt hatte, in verschiedener Ausstattung, wie für alle verstorbenen Puppen – geringe und vornehme – der Nachbarschaft. Beim Seifenhändler hingen die großen Altarkerzen aus gelbem Wachs, honigduftend, die in kühlen hallenden Kirchen von Sommergärten und summenden Bienenkörben erzählen, dazwischen die schlanken Kommunionskerzen, symbolisch umwunden mit Weinlaub und gläsernen Trauben, und am Griff ein kleines, steifes Spitzentuch für die kleinen zerkratzten Hände, die an diesem Tag in weißen Baumwollhandschuhchen prangen. Bei der Vogelhändlerin kamen sie vorbei, die in der offenen Ladentür saß, ein schwarzes Kaninchen im Schoß, und hinter ihr aus dunklen Ecken leises, unaufhörliches Trillern wie aus zarten Wasserpfeifen, das war wie im Märchen von Jorinde und Joringel und der bösen Zauberin. Zwischen Mauern ging der enge Weg hinab, über die hier und dort ein erfrorener Rosenzweig nickte, und Häuser, die auf der einen Seite einstöckig kauerten, ragten auf der anderen aus Abgründen. So denk' ich mir Capri, sagte Amsel.
Als sie heimkehrten, stand Tante, in ihren großen Orenburger Schal gewickelt, am Fenster und sah nach ihr aus. Von den Pappeln segelten gelbe, herzförmige Blätter durch die Luft, Schneebeeren lagen weich und verregnet auf den Gartenwegen, bald würde nun der Winter kommen, auf Samtpfoten, eine große, weiche, weiße Katze.
»Nun wollen wir uns einwintern,« sagte Tante. »Das alte Murmeltier und das kleine Murmeltier, eigentlich beneidenswerte Geschöpfe, so die ganze kalte Zeit zu verschlafen, so gut haben wir's nicht, und ein bißchen Französisch mußt du auch wieder treiben; der Mensch kann immer noch zulernen, und wenn er auch schon siebzehn Jahre alt ist.« Und ein paar Tage später sagte sie: »Ich habe Rächerchen gemacht, denn so sprach ich's als Kind aus, wenn ich meinem Vater vorlesen mußte; und nun hab' ich die Perle gefunden, eine schwarze Perle, denn sie ist Witwe, und nur Französinnen verstehen es, so gründlich Witwen zu sein, ich glaube, sie genießen das wie ein Moorbad; also, sie heißt Benoît und sieht aus wie ein Kokon aus Trauerkrepp, und ihr Seliger war auch Sprachlehrer, ja, sie sagte, er sei ein Vater der Syntax gewesen, und das ist doch gewiß eine Seltenheit.«
So erschien denn Madame Veuve Benoît in ihrer ganzen überzeugenden Witwenhaftigkeit, in einem Trauerschal aus Kaschmir, ein düsteres Gebäude auf dem Haupt, von Schleiern umflutet. Am Arm hing ihr ein schwarzer Beutel, der ihre Lehrbücher enthielt, wie auch ein Flakon Melissengeist und ein Döschen mit Pastillen – cachou des orateurs. Und sie saß da wie eine weiße, fette, gutgepflegte Made in all dem raschelnden Krepp und hörte lächelnd, aber unbestechlich zu, wie Amsel mit Vokabeln rang, deren sie sich wohl nur selten in Gesprächen bedienen würde, la pelouse und le bocage, le nénuphar, le guéridon und les brises embaumées; oder über den unberechenbaren Seitensprüngen des participe passé nachsann, die der verewigte professeur in einem schmalen, aber inhaltsschweren Bande festgenagelt hatte, dessen Exerzitien Spaziergängen zwischen Fußangeln glichen. Zum Schluß wurde sie mit verdienstvollen, wenn auch keineswegs kurzweiligen Autoren bekannt gemacht, der gefrorenen Langeweile Racines, den Grabreden Bossuets – Madame se meurt, Madame est morte – und den »Conseils à ma fille«, die mit dem Satze schlossen: »et maintenant, chère Sophie, pose ta plume et embrassons nous«; aber auch mit Paul und Virginies träumerischem Dasein auf einem tapetenartigen Hintergrund von Palmen und Papageien, wo die Mütter des Liebespaars, der Lehren Jean Jacques Rousseaus eingedenk, ihre Kinder im Schatten des Brotbaums säugten, und später dann Virginies vorbildliche Schamhaftigkeit sie lieber ertrinken ließ, als sich den rettenden Armen eines nackten Matrosen anzuvertrauen. »Une des plus admirables pages de la littérature française,« sagte Madame Benoît mit Grabesstimme und nahm einen cachou des orateurs, und Amsel dachte: würde wohl auch Madame lieber ertrunken sein, in all dem nassen Krepp oder würde sie ... aber das war nicht auszudenken. Und Tante kam ins Zimmer mit ihrem schleifenden Schritt und sagte: »Gott, sind denn diese vortrefflichen Philister immer noch am Leben? Mit denen wurde ich ja auch schon geplagt.« Wenn es dunkelte, wurde Madame Veuve von Monsieur Jean Claude Benoît junior abgeholt, denn der Vater der Syntax war auch Vater eines einzigen Sohnes gewesen, eines trotz Brille und Bart mädchenhaften Jünglings, der mit einer Neigung zu Bronchialkatarrhen behaftet war. Und ma mère war in tausend Ängsten: »Mon fils, as-tu mis tes mitaines? Et tes Caoutchoucs, et ton cachenez?« Aber er sagte: »Vous« zu ma mère, und überhaupt verkehrten sie mit der ganzen urbanité, wie sie einst dem Hotel Rambouillet zur Zierde gereichte, und nie irrten sie sich im Gebrauch des passé défini oder des noch eindrucksvolleren passé du subjonctif. Ja, der Vater der Syntax konnte zufrieden sein mit seinen Werken.
Wenn sie dann schließlich unter ihren Regenschirmen fortgeschwankt waren, ließ sich Tante in einen Sessel fallen und lachte, lachte, sie konnte nicht aufhören, es klang weich und dunkel und aus ihren zusammengekniffenen Augen flossen Tränen. »Wie eine wahnsinnige Turteltaube,« hatte eine Freundin von ihrem Lachen gesagt; es war ansteckend. Und Amsel sah darin ein neues Vorrecht, wie es einer heißangebeteten Tante und Patin zukam. Sie selbst fand all diese Menschen nur sehr kurios, wie sie in ihrem Leben auftauchten und wieder verschwanden, Silhouetten, in ein Schattenhaus zurück. Nur vor einem hatte sie eine an Abscheu grenzende Angst: eines dieser fremden Wesen könnte sie anrühren oder gar küssen. Denn sie besaß die tiefe, unnahbare Scheu der Ausschließlichen, Leidenschaftlichen. Nein, nur Tante durfte sie küssen. Ganz kalt wurde sie, zur Eisblume erstarrt, wenn die feinen Lippen sie berührten, die schöne Hand über ihr Haar strich. Und sie konnte vor sich hinträumen, Heldentaten ersinnen, Schmerzen und Geduldsproben, die sie für Tante bestehen würde, unerkannt, schweigend, in unbegreiflich süßer Pein.
Es war eine schöne Fahrt gewesen, ein letzter milder Tag, wie ein Geschenk über die Erde gekommen. Erst die Allee hinunter an den geschlossenen Gasthäusern, den schlafenden Villen, dann an bescheidenen Wirtschaften, an spielzeugartigen Schweizerhäuschen vorbei. Ein jedes spannte seine kleine Brücke über den seichten, plätschernden Bach, der hier flache grüne Ufer hatte. Dann weiter, am Kloster vorüber, durchs Dorf, immer vom Flüßchen begleitet, das durch die Wiesen schlüpfte, durch Garnbleichen und Sägemühlen. Und nun rechts hinauf, dem Landhaus zu, das einst den russischen Cousinen gehörte, wo das große, sengende Glück ihr Herz getroffen hatte. Tante war ausgestiegen, die paar Stufen hinauf bis an die Gittertür in der Hecke; nun hielt sie sich mit einer Hand am Gitter fest und sah, halb zurückgewendet, noch einmal hinunter in das liebe, nie vergessene Tal.
Dort, im Grund, sandten kleine geduckte Häuser ihren Rauch empor; am Abhang, in den Wiesen, standen Nußbäume, halb entlaubt, Vögelchen schlüpften durch die Hecken, es roch nach Moos und Erde. Im Dunst schien sich alles zusammenzuschmiegen, so bescheiden und liebreich war ihr dies Land noch nie erschienen wie heut in seinen stillen braunen Farben, geduldig den Winter erwartend. Kein lauter Ton, nur das Gurgeln kleiner Rinnsale im Gras, auf denen rote und braune Blätter schwammen.
Auf dem Fahrweg, der sich in weiter Kurve emporwand, waren Radspuren. Damals – wie kamen sie angefahren, die Freunde und die Fremden, zu dem immer fröhlichen Haus, wo sie bei den Cousinen den Sommer verbrachte. Den zweiten. Es waren Jahre vergangen, seit sie zum ersten Male hier gewesen, sie war feiner noch, ja, und auch härter geworden, wie ein gespannter Bogen hart ist; der erste weiche Duft war geschwunden von den Dingen und auch von ihr, und oft lag Erwartung in ihren Zügen, als sei ihr Herz hellhöriger geworden und horche auf irgend etwas, einen Ton, einen Schritt, den Hornruf des Glücks? Und ihr Mund konnte spöttisch sein damals, wenn ihre Augen zuviel gesagt hatten, und trotz aller Leichtlebigkeit war sie ein verschlossener Schrein. Und dann – o wie unabwendbar war das große Glück auf einmal da!
Sie sah hinauf zu den hohen Glastüren des Musikzimmers, aus denen einst Lichterglanz strahlte und Akkorde hinausströmten, all das Unaussprechliche, das nur in Klängen Worte fand. Rosen hatten auf den Tischen gestanden, und zu den Türen herein atmete Jasmin von allen Büschen, aber auf den Wiesen wurde das erste Heu gemacht – Juniduft, unvergeßlicher! Und heute nun stand sie am Gitter, und es war ihr Haus nicht mehr. Der Spätherbst war im Land, aber sie witterte die vergangenen Sommer, sie suchte in der Luft nach den Harmonien, die seine zaubernden Hände, seine nur andeutende Stimme ihr ins Blut, in die Seele gedrängt hatten, bis Tag und Nacht zu einem einzigen, seligen Schlafwandeln geworden, jede Minute voll bis zum Rande. Bis eines Tags der eine Tropfen mehr ihr Herz zum Überfließen brachte. Ein Blick, eine Bewegung ... ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, wie bei der Stelle in ihrer Lieblingssymphonie, wenn die Hörner einsetzen, leise erst und immer drängender, ach unerbittlich in ihrer Süßigkeit; da war nur eins, das dieser tiefen Pein Ruhe geben konnte: Hingabe. Denn wie der Durst nach Wasser, wie das Fieber nach Schlaf, so begehrt Liebe nach Erfüllung. Ihr ganzes Leben wollte sie ihm schenken, alles – und kein Ende; nie wieder hatte sie sich selber angehört.
Aber an das Schwinden ihres Glücks dachte sie heute nicht mehr. Die Ammen streichen Bitteres auf die Brust, um die Kinder zu entwöhnen; so entwöhnt uns Leid und Verlust vom Leben. Aber, Herr Gott, sie hatte doch einmal alles besessen. Gewinnen, verlieren, was sollten die Worte? War er ihr nicht eben nahe gewesen? Nur eine große, hilflose Dankbarkeit erfüllte sie. Einen Augenblick sah sie hinauf und ihre Augen tranken ... tranken. Dann ging sie, ohne sich umzusehen, zum wartenden Wagen zurück.
Am selben Abend ließ sie den alten Badearzt rufen, den sie aus jener Zeit her kannte, der aber sonst nicht mehr praktizierte. Er blieb lange mit ihr allein. Dann bat er um Schreibzeug und setzte ein Telegramm auf. An den berühmten Mann in Heidelberg. Dabei putzte er sich heftig die Nase in ein großes rotseidenes Taschentuch. Er sah über die Brille Amsel lang und zweifelnd an, als wolle er reden. Aber er seufzte nur und ging.
Der berühmte Mann kam und befahl Ruhe, als ob man bisher in einem Vergnügungstaumel gelebt hätte, und abends kam nun Schwester Ludovika und löste Madame Céline ab, die vom Aufsitzen und nächtlichen Kaffeetrinken elend war. Die Schwester war schlank und durchsichtig mit dunkelumwimperten Augen. »Wie Genovefas Hirschkuh,« meinte Tante. »Aber weißt du, Amsel, als Kind besaß ich einen Tintenwischer, der stellte eine Nonne dar, mit einer Menge Flanellröckchen – du verstehst – für die Federn, aber sonst nichts, und da dachte ich eigentlich, daß Nonnen gar keine Beine hätten.«
Sie lachte mit den Augen und wandte den Kopf dem Licht zu; ihr Haar lag schwer und feucht auf den Kissen, im Lampenschein war die Stirne so klar nach den Qualen der Nacht. Als sei sie jünger geworden durch die Schmerzen.
Amsel führte ihr Leben wie sonst, all ihre kleinen Pflichten, viel Warten und Harren. Flüsternde Stimmen legten sich ihr aufs Herz. Da war ein schimmernder Punkt am Ende des finstern Ganges: Hoffnung. Dorthin strebte sie, jeden Tag ein winziger Schritt. Aber manchmal sah sie das ferne Licht nicht mehr.
Heut aber saß Tante endlich wieder im langen Zimmer, wo der Flügel war und das Kamin. Neben ihr die kleine Boulekommode, mit offenen Fächern; da waren so viele zusammengebundene Briefe. Am Nachmittag war Frau Schwämmle dagewesen, hatte köstliche Birnen gebracht und einen großen Busch Herbstastern. Zu solchen Visiten preßte sie sich in ein braunes Kaschmirkleid, und auf dem glatten Scheitel balancierte dann ein kleiner Kapotthut mit schwarzem, nickenden Hafer. »Püh,« sagte sie beim Eintreten und riß die Hutbänder unter dem Doppelkinn auf, denn sie war vollblütig und erzählte mit finsterer Genugtuung, daß alle in ihrer Familie am Schlagfluß stürben. In ihrer Waschküche mußte man sie hantieren sehen, in Wolken von Dampf und Seifenschaum, silberne Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, den Niobebusen ausgebreitet in der rosa Kattunjacke, an der viele Knöpfe fehlten. Jedes Jahr kam ein Kind, nicht immer um zu bleiben. »Unser Vatter« war Droschkenkutscher. »Ja, der Deifel isch en Eichhörnle,« sagte sie, wenn sie neuen Zuwachs ankündigte.
Tante hatte ein Briefpaket geöffnet, es stand eine Jahreszahl auf der Hülle, verschiedene Handschriften waren darin. Sie blätterte ein wenig, dann legte sie's auf die Glut; ein Kräuseln, ein Aufflammen – pht ... und nun war es nicht mehr. Und das Herz zog sich ihr zusammen, denn nun erst waren sie ganz tot, die ach so bescheidenen Toten, die nur noch leben vom leisen Atem der Erinnerung. Eigentlich eine Hinrichtung, als ließe man vor der Abreise einen alten Hund erschießen, damit er nicht in gleichgültige Hände falle. Manchmal zögerte sie, glättete die Seiten. Da war der englische Freund, der so resigniert und losgelöst über den Zeitverlust aller Politik, aller Ambitionen redete, der zart und unaufdringlich jeden ihrer Wünsche erriet und erfüllte. Sie hatte sich nichts dabei gedacht: sie ganz jung und leichtherzig, er so viel älter. Seine Fürsorge, seine väterlich-ironische Art: sie hatte alles für Spielerei gehalten. Und nun las sie: »Oh don't be constant, for the fear of losing you is one of your greatest charms« – und begriff (denn das Alter macht auch geistig fernsichtig), warum er die Tür der Ironie immer offengehalten hatte: um sich hinein zu flüchten, weil sie ihn niemals recht verstand.
Hier knisterte der Brief einer alten Freundin, sie auch schon lange tot. Damals wurde viel geredet über eine gemeinsame Bekannte. Aber die alte Dame hatte nie mit eingestimmt: »Je sais qu'on me trouve bien large. Non, je ne veux être que juste et j'ai horreur de la médisance. A part les plaies de Notre Seigneur, auxquelles je crois sans avoir vu, je ne veux rien croire sans voir. Je sais que vous pensez de même, car vous n'écoutez que votre cœur qui est meilleur conseiller que la tête.«
Der Brief flackerte auf, sie öffnete einen anderen. »Maria ist in Rom, sie ist bei den Karmeliterinnen eingetreten. Der allerstrengste Orden. Sie gehen barfuß und dürfen nie, nie wieder heraus. Ihre Augen, ihr Lächeln, ihr entzückender Gang, wir werden sie nie wiedersehen. Warum nur? Zu bereuen hatte sie nichts, wußte ja gar nicht, was Haß und Sünde sind. ›Terra gentile‹, wie die Italiener sagen. Es ist ein Rätsel ...«
Aber in einem anderen Brief war die Lösung. Da stand mit großen eiligen Buchstaben auf vielen kleinen, abgerissenen Blättern, wie man noch rasch ein Abschiedswort kritzelt, wenn das Gepäck schon fort ist und sich nur noch das winzige Notizbuch in der Tasche findet: »Lebewohl und Dank Dir zum letztenmal, Du Einzige, die alles verstehen wird. Immer hatte ich mir gewünscht, einmal zu lieben, ohne geliebt zu werden. O ich Unselige, welch ein wahnsinniger Wunsch. Nun ist er erfüllt und es ist die Hölle ...«
Da waren Briefe alter Diener, Danksagungen für manche geleistete Hilfe. Auch ein armer Tanzlehrer, den sie in seinem Alter und Elend besuchte, schrieb: »Heute danke ich Gott und den Grazien, weil noch einmal die Anmut unter mein armes Dach gekommen ist. Wie gut werde ich diese Nacht schlafen.« Immer wieder fuhren die hungerigen Flammen auf. Nun war nichts mehr übrig. »Amsel,« sagte Tante und ihre Lippen bebten, »das waren lauter gute Menschen. Ich werde sie nie wiedersehen.«
Amsel kroch ganz nah an sie heran, sie legte den Kopf an ihre Schulter, dicht am Hals, und atmete den geliebten Duft, der ein wenig wie Bergamottbirnen war. Dies mit anzusehen war eine große Qual gewesen. Als ob ein Mensch zur Reise rüstet und sein Hündchen steht dabei mit flehenden Augen und weiß ja doch, es wird nicht mitgenommen.
Tante legte die Wange an den kleinen aschblonden Kopf. Armes Kind, es war für sie gesorgt, was man in der Welt darunter versteht. Aber sie mußte durchs dunkle Tor und das Kind würde allein weitergehn. Würde sie ihr sehr fehlen, wenn der erste, scharfe Schmerz vorüber war? Denn sie hatte erlebt, wie sich Wunden schließen, die man für unheilbar hielt, und im Grunde war sie sehr bescheiden, was sie selbst betraf: warum sollte gerade ich unentbehrlich sein? Aber so recht hatte sie das Kind doch nie verstanden, denn zwei Schamhafte hören oft aneinander vorbei, gerade weil sie dieselbe Sprache sprechen.
Ihre Gedanken gingen wieder zu der schönen Marie, die so sehr geliebt worden war, und doch ... was war ihr Leben gewesen? Und plötzlich fing sie zu singen an, sang hin zu ihr, die doch unerreichbar war, mit der lieben atemlosen Stimme, in der man das arme, arbeitende Herz keuchen hörte:
»La notte tutti dormono, |
Io non dormo mai ...« |
Ihre Farbe kam und ging, ihre Augen standen voll Tränen. Aber Amsel lag wie ein Vogel unter Mutterflügeln; sie horchte auf den geliebten Klang, die fremden Worte verstand sie nicht.
»I quarti d'ora suonano |
Le una, le due, le tre ... |
Ti voglio bene assai, |
Ma tu non pensi a me ...« |
So viele Nächte hatte sie nur halb geschlafen, die Angst im Herzen, sie könnte gerufen werden; aber nun kam der Schlaf – unwiderstehlich. Und Tante lächelte, wie der aschblonde Kopf immer schwerer wurde und hinunter glitt auf ihren Schoß.
Die Uhr tickte deutlich in der Stille, sie hatte es eilig mit ihrer Aufgabe. Und die Rosen dufteten. Schöne, gütige Blumen, wenn sie starben, erblühten neue, aber niemals dieselben. Warum sollte ich weiterleben, dachte sie, habe ich das ewige Leben mehr verdient als eine Rose? Aber wer konnte Recht sprechen, auch über sich selbst? Und alle Schuld war doch Strafe zugleich, es ging gerechter her, als man dachte. Etwas Hartes, Häßliches getan zu haben, das mußte wohl sein wie ein heimliches Gebrechen, wie wenn schöne Frauen häßliche Füße haben: es läßt sie nicht froh werden. Hatte sie auch Häßliches und Hartes getan oder gedacht in ihrem Leben? Es war wohl ihre große Müdigkeit, sie konnte sich durchaus an nichts Böses erinnern, nicht an solches, das ihr andere zugefügt, nicht an solches, das andere um ihretwillen erlitten. Neben ihr lag ein abgegriffenes Gebetbuch, Maries letztes Geschenk; ohne ein Wort dazu war es aus Rom geschickt worden, denn auch das hatte sie nicht besitzen dürfen. Da war ein Gebet, es schien ihr soviel menschlicher als alle anderen, das Buch öffnete sich von selbst an dieser Stelle, und sie las die leicht unterstrichenen Zeilen:
»O Marie, mère si heureuse dans le Ciel, n'oubliez pas les tristesses de la terre. Ayez pitié de ceux qui s'aiment et que Dieu a séparés. Ayez pitié de l'isolement du c[oe]ur, si plein d'abattement et même de terreur.« Und etwas weiter: »Ayez pitié de ceux que nous aimons, o Marie, ayez pitié de ceux qui s'aiment, de ceux qui ne savent pas se faire aimer.« Ja das, das mußte das Bitterste sein: qui ne savent pas se faire aimer. Aber für sie waren diese Worte nicht geschrieben; eins war gewiß, sie hatte grenzenlos geliebt und sie war heiß geliebt worden. Und als es dann zu Ende ging ... Wenn der Sommer zu Ende geht, nennt man ihn darum einen Verräter? ... Und nun kam anderes; etwas Großes, Fremdes tat sich auf, es wehte kühl. Schleier fielen auf die Dinge und sie konnte nicht mehr greifen und halten; nur noch das Aller-Allernächste war zu erkennen.
Ihr Blick ging langsam von einem zum anderen, über ihr Klavier, über die Bilder und das Glas mit den Rosen, wie sie standen und dufteten. Und ihr schien, als ginge sie selbst, unbeholfen und schon fremd geworden durch die bekannten Räume, mühsam Dinge beim Namen nennend, an denen doch ihr Herz nicht mehr hing.
Von der Brincken unterschrieb sie sich und Freifrau war sie, wenn auch nur linkshändig und in Gebundenheit. Der rotköpfige Wirt zog heute noch demütig die Zipfelmütze vor ihr, aber wie sie hinaufstieg zu den kleinen schattigen Terrassen der Waldschenke, kam ihr mit dem Erinnern an die anderen Male, da sie die morschen Holzstufen unter den Füßen gespürt hatte, auch dieser Augenblick vor wie etwas schon Erlebtes, etwas, das abgetan ist und nur dumpf wehe tut, als würde einem auf den eingeschlafenen Fuß getreten. Aber die lange Disziplin, die Gewohnheit erwiesener und empfangener Höflichkeit half ihr das Treppchen hinauf.
Unter den düstergrünen Linden und Kastanien war es finster, und der Wirt brachte Windlichter und stellte sie auf die graue Holztafel. Unter ihr auf einer niederen Terrasse spielten drei Männer Karten, ein vierter stand angelehnt, die Pfeife im Mund, und sah zu; das Licht huschte über ihre harten, feinen Bauernköpfe und die Stimmen drangen ab und zu herauf. Sie hatte den dunklen Reisemantel zurückgeschlagen und stützte das Kinn in die schmale, magere Hand. Der breitrandige Federhut warf Schatten über Augen, die sich hochzogen, als spotteten sie der eigenen Tränen. Es war doch merkwürdig, die erste zu sein bei einem Stelldichein, sie, die sonst nie gewartet hatte; aber was lernt ein Mensch nicht alles!
Doch nun kam der Prinz, links, vom Walde her, wo das Forsthaus lag, in welchem er abstieg. Mit federndem Schritt und der etwas übertriebenen Bonhomie im Ausdruck seines jungen, verlebten Gesichts, mit den hellen, schräggestellten Augen, hatte er etwas von einem eleganten jungen Kater, der auf allen Dächern Bescheid weiß. Frau von Brincken erhob sich. Er wurde sehr rot und sagte: »Ich bitte dich.« Aber die kleine Formalität tat ihr wohl; sie liebte es, auch das eigentlich Unkorrekte durch ein gewisses Dekorum einzuhegen, abzusondern von den übrigen, landläufigen Unkorrektheiten. Er küßte ihre Hand, sagte ein paar liebenswürdige Worte über ihr Aussehen, die sie ohne Enthusiasmus entgegennahm, und lehnte sich zurück, die Hand in der Hüfte, die schlanke Lässigkeit unterstreichend, die ihm durch unzählige Porträte und Photographien beinahe zur Pflicht gemacht wurde. Der Wirt kam eilfertig mit eiskaltem Landwein und Kuchen. Sie nippte, er stürzte zwei Gläser hinunter. Warum ist keine Musik? dachte Frau von Brincken, es ist ja doch Theater, die Terrasse, der Wirt – basso buffo – die Statisten ... gleich werden wir aufstehen und unser großes Duett singen, Opfer und Entsagung, schmelzend, aber con bravura ...
Sie sprachen. Er mit forciertem Ungestüm, mit Selbstanklage, die aber doch dem Schicksal, das sich ja nicht verteidigen kann, die Hauptschuld zuschob; Mitleid und Besorgnis um ihr ferneres Ergehen in jedem Ton. Immer wieder der tadellose Kater, leichtsinnig, oberflächlich, wenn man wollte, aber doch im geheimsten Winkel seines Bewußtseins: der tadellose. Frau von Brincken fühlte, wie sich ganz leise der Gram von ihr löste, ohne daß sie selber etwas dazu tat, und diese Operation war nicht unangenehm, wenn auch mit einem leichten Frostgefühl verbunden. Mein Gott, waren es denn Kleinodien gewesen oder Glasscherben, die sie so lange, so angstvoll gehütet? War ihr Schicksal eines der vielen, unfertigen, die der Triebsand des Lebens einschluckt, arme, verirrte Reisende, deren protestierende Armbewegung aufwärts wie ein anklagender Wegweiser die Verräterei des Bodens verkündete? Und nun saßen sie hier und lächelten einander zu, und es war, als wenn man mit einem Stückchen Brot im abgestandenen Champagner rührt, um ihn noch einmal zum Moussieren zu bringen. Frau von Brincken sah das wohl mit ihren klargeweinten Augen, in diesem zweiten, beinahe reizvollen Stadium der Enttäuschung, wenn sich die Seele in zwei Hälften teilt und die eine leidet und die andere zusieht. Bei jungen Menschen kann das ein Vorfrühling sein. Der Schmerz hat die Seele gelockert, Neues kann keimen und aufgehen und bringt vollkommene Befreiung, erneuert das Herz nicht nur, sondern auch den Geist. Aber sie dachte heute nur an Frieden. Wie gut würde Ruhe tun, nachdem sie so lange gekämpft hatte. Wie anstrengend war es doch oft gewesen; so mußte den armen Teerosen zumute sein in den großen Tafelaufsätzen, alle hatten sie einen Draht durchs Herz gezogen ...
Er ahnte wohl ihre Gedanken. Und nun war es fast, als sei er der Verstoßene, als schritte sie, einsam und erlesen, von dannen, einem Leben entgegen, an das er kein Recht mehr haben würde.
»Unsere liebe alte Waldschenke,« sagte er und seufzte. Er hatte eine Vorliebe für die maßvolle Architektur jenes ausklingenden Jahrhunderts der Jabots und der Zöpfe. Teilweise wohl aus Widerspruch, weil er bei so vielen Enthüllungen fürchterlicher Denkmäler, bei so vielen Einweihungen prunkvoller Theater und Kirchen zugegen sein und lobende Worte sprechen mußte, war ihm gerade diese Bauart sympathisch, deren stilles Behagen, deren karger Zierat uns überkommt wie Resedaduft, mit leisem, schwermütigem Wohlgefühl. Das Haus hatte bessere Tage gekannt, sanft angelehnt am waldigen Hügel. Die schöngegliederte Tür, die leichten, halbverwischten Ornamente der Fenstereinfassungen, das zartsilberne Schindeldach, alles redete von einer Zeit, da zierliche Behäbigkeit der Form auch das Alltägliche erlesen machte. Heute standen Planwagen aufgereiht im weiten Hof, Fässer waren im Torweg aufgestapelt, und vor der Einfahrt tranken schwere Pferde gierig am Brunnentrog. Der Prinz neigte sich vor: »Durstige Tiere trinken zu sehen, ist doch eine Wonne,« sagte er. Frau von Brincken fühlte einen kleinen, süßen Stich ins Herz, und ihre Augen wurden groß wie von aufsteigenden Quellen. »Ich will immer an Sie denken, Ludwig, wie Sie eben den durstigen Pferden zusahen,« sagte sie. »Es gibt viel Durstige – vergessen Sie's nicht. Ihre Hand weiß so schön zu geben, und am meisten habe ich doch wohl Ihre Hände geliebt, damals – ihr Mund bebte ein wenig – als wir die erste schöne Reise machten und am Abend der Korb auf dem Tisch stand mit den herrlichsten, kostbarsten Pfirsichen und Trauben aus Eurer Hoheit Treibhäusern. Wir konnten es kaum erwarten, waren so heiß und durstig von der langen Fahrt. Aber da kamen die Bettler. Ja, Ludwig, und da nahmen Sie den Korb, die Pfirsiche, die Trauben, und schenkten alles, alles an die armen Kinder, behielten nichts zurück, auch für mich nichts, und gerade das, Ludwig ...« Sie wandte sich zur Seite, ihre Augen brannten. »Engel, es war ja deine Hand, die mich das Geben lehrte,« sagte er und war wieder ganz geschmeidiger Kater, »diese reizende Hand, die ich nicht festhalten kann. Aber wenn du mir schreibst, mit unserm lieben kleinen Sternensiegel, da kannst du sicher sein, daß mein dankbares Herz deinen leisesten Wunsch hören wird, bis in die fernsten Zeiten« ... Fast hätte er gesagt »das walte Gott«, denn er war es gewohnt, diese Schlußfloskel ziemlich wahllos anzubringen; aber da war auf einmal etwas in ihrem ferngerichteten Blick, das ihn ernüchterte.
»Es sind nicht einzelne Wünsche, die ich hegte,« sagte sie, und ihre Stimme klang blechern und müde ... »ich hatte Größeres erhofft ... Aber Euer Hoheit Leben ist noch lang, es werden so viel Kreuzwege kommen ... oh, vergiß nicht die durstigen Pferde,« und sie nannte ihn wieder beim Namen.
Es waren ein paar feine Fältchen an ihrem Munde, und er sah sie genau. Sie war ihm rührend wie ein kostbares Porzellanfigürchen, das immer noch mit zierlicher Grandezza zum Tanz schreitet, und hat doch leider schon so manchen feinen Sprung in der Glasur. Und diese unausbleiblichen kleinen Standreden ... nun ja, das war ganz natürlich; erst das Lyrische, und dann wird die Dame didaktisch. Er wollte sich gewiß nicht mit Goethe vergleichen, der ihm überhaupt vorkam wie ein Menschenfresser mit Orden ... aber er mußte seit einiger Zeit häufig an Frau von Stein denken. Es war eben der Altersunterschied; was konnten sie beide dafür! Es war alles bezaubernd gewesen – war es eigentlich noch. Aber eine Unterbrechung ... nun, und was an ihm lag, nichts Definitives, setzte er, zur eigenen Beruhigung, wie ein kleines Pflaster obendrauf.
Der Wind fuhr durch die Lindenwipfel; schmalgeschweifte Samenhülsen segelten herab, sich emsig drehend wie kleine Propeller.
»Sonnenwende,« sagte Frau von Brincken, »das ist eigentlich die schwermütigste Jahreszeit. Der Herbst ist noch nicht da mit seinen Farben, seiner frischen Nebelluft, aber die Bäume sind es müde geworden, grün zu sein. Das war mir als Kind schon die traurigste Zeit, viel ärger als der November, den viele so melancholisch finden.«
»Sei froh,« sagte er und dehnte sich hintenüber in seiner weidenschlanken Länge, »daß dir so etwas wie der Wechsel der Jahreszeit überhaupt damals zum Bewußtsein kam. Unsereiner steckt in solchem Drill, daß er das alles nur empfindet wie ein Schauspieler die veränderte Dekoration; einmal ist es Schneelandschaft, ein andermal Frühlingswald, aber Schneeballen kann man nicht daraus machen und die Rosen sind nur gemalt; er darf seinen Spruch hersagen und damit basta. Das Beste noch war die Jagd, nicht die großen Hofjagden, nein, allein, oder mit zwei, drei Kameraden, und abends dann die gute Müdigkeit am glimmenden Kamin, wo die Hunde liegen und im Traum bellen, man raucht seine Shagpfeife, und mein wackerer alter Buschmann erzählt Jagdgeschichten ... Rita, einmal waren Sie auch dabei, und nun, wirklich, niemals wieder?« Sie sah vor sich hin, unter ihren Augen zuckte es ein wenig: Glimmender Kamin, wackerer Buschmann, er hat nun einmal Redewendungen wie aus einem Schulaufsatz. Darum war's mir immer so peinlich, wenn er schrieb. Seltsam, diese Ausdrucksweise, und dabei dieser unfehlbare Geschmack in der Wahl seiner Kleidung, er käme sich degradiert vor, wenn er sich in der Farbe der Krawatte geirrt hätte ... Dann wurde ihr Blick weich. »Wenn Sie es irgend vermeiden können,« sagte sie, »so enttäuschen Sie niemand. Es ist ja wohl nicht immer zu vermeiden, aber man sollte es versuchen. Sie gehen oft mit Ungestüm auf eine Sache los, dann aber ist sie doch komplizierter, als Sie dachten, oder Sie meinen, Sie seien auf Undank und Ungerechtigkeit gestoßen, wo es oft nur Ungeschick ist ... dann lassen Sie's fallen. Denn es gibt ein Wort, das kennen Sie nicht: Geduld. Es ist auch nicht von Ihnen zu verlangen. Die Weltgeschichte wurde Ihnen von Hoflieferanten serviert und die Gegenwart ist Ihnen ein Schaufenster, und da liegt alles schön aufgebaut und ist alles zu haben.« Er lächelte mühsam, denn er dachte an Dinge, die gerade für ihn und seinesgleichen unerreichbar waren. Er hatte eine kleine Schwester gehabt, die hätte so schrecklich gern einmal in der Hundehütte geschlafen, aber das litt die Erzieherin nicht, und die kleine Prinzeß war gestorben, ohne ihren Herzenswunsch erfüllt zu haben. Ja, und er hatte wieder andere unerfüllbare Wünsche. Nun, wer weiß, hätte er sie erlangt, wären sie wohl bald ihres Reizes verlustig geworden. Immerhin, da war so manches, das fernab glitzerte ... jenseits, er würde es nie besitzen.
»Ich habe als Kind eine Enttäuschung erlebt,« fuhr sie fort, »eigentlich eine Kinderei; aber noch heute, wenn ich Faulbaum rieche, kommt es über mich, dies Gefühl der Erwartung, des felsenfesten Vertrauens – und dann auf einmal nichts, eine Leere, ach, ein Verratensein ...«
»Wie ging das zu?« frug der Prinz, der Frau von Brincken gegenüber immer Interesse zur Schau trug, wenn auch manchmal gerade die Eigenschaft, die sie ihm absprach, dazu nötig war.
»Das ging so zu,« sagte sie und sah vor sich hin, und die Erinnerung an diese erste Bitterkeit des Lebens stand auf wie eine graue, beklemmende Wolke; »wir schwärmten dort in der kleinen Residenz alle für die Schauspielerin Weiß. Sie gab das Gretchen und Klärchen, aber auch die Königin im Don Carlos und feine Salonrollen, wo sie in entzückenden Toiletten traurige und edle Schicksale verkörperte. Wir Schulmädchen hingen ihr Maiblumenkränze an die Tür, eine ganz Mutige warf ihr sogar Rosen ins offene Parterrefenster, und wenn wir ihr auf der Straße begegneten, hatten wir Herzklopfen. Sie wußte das und fand es wohl recht abgeschmackt, aber sie lächelte freundlich, wenn wir sie grüßten, und schickte uns bisweilen Freibilletts; wir kleinen Beamtentöchter kamen ja sonst nicht oft ins Hoftheater. Schließlich lernte ich sie in einem kunstfrohen Malerhause kennen. Diese Malersfamilie machte im Frühling mit ihren Freunden Landpartien in den herzoglichen Wildpark, es waren lauter junge Leute, Maler und Malerinnen, aber auch Musiker, Polytechniker, Schauspieler. An jenem Tage war Marie Weiß dabei. Es war so ein richtiger Maitag, in den Gärten und auf den Wegen, die zum Wald gingen, blühte der Faulbaum, oh, es war betäubend, und drinnen im Wald in dem dürren heißen Laub standen die großen, duftlosen Hundsveilchen, die anderen waren schon vorüber; und über Bahndämme kamen wir, wie goldene Straßen, das war der Ginster – und überall Zitronenfalter ... Marie Weiß sprach mit mir; sie ginge nun in Urlaub, und sie wüßte nicht, ob sie im Herbst wiederkehren würde. Das Herz wurde mir wie Blei, was sollte mir das Leben, die Stadt, meine Lehrer und Beschäftigungen, wenn dahinter nicht mehr Marie Weiß stand? Sie frug mich, wo ich den Sommer über sei, ich sagte es ihr, bei einer Tante, die ein Gütchen im Schwarzwald hatte, nicht weit von Bühringen. »Nun,« sagte sie, »so um den 20. August herum muß ich nach Bühringen; ich bin ja dort geboren, ich brauche allerhand Papiere. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns?« Sie sah mich so warm und lachend an, sie hatte einen wunderschönen großen Mund und grüne Augen mit braunen Fleckchen drin, es gibt einen Stein, Moosachat, so ähnlich, und ihr dunkles Haar war so reizvoll angewachsen ... Ihr Männer ahnt ja nichts von der Hingabe, mit der ein junges, einsames Ding eine berühmte, selbständige Frau anbeten kann; man atmet kaum, wie in der Messe, wenn eben die Kerzen angezündet werden, ja, man denkt sich aus, was man alles für die Angebetete leiden möchte, Nesseln pflücken, was weiß ich für Unsinn. Aber ich langweile Sie ...« unterbrach sich Frau von Brincken.
»Nein, nein, sprich weiter,« sagte der Prinz, der an anderes gedacht hatte, aber ihre weiche Stimme mit dem leisen südlichen Klang in sich einsickern ließ wie ein angenehmes Akkompagnement. Sie merkte es wohl, aber sie redete weiter, mehr für sich als für ihn. »Bühringen ist eine kleine Stadt, vom Hof meiner Tante sind es drei Stunden zu gehen. Am 19. heuchelte ich schreckliches Zahnweh und erhielt die Erlaubnis, nach der Stadt zu fahren. Es war ein heißer, luftloser Spätsommer, dieselbe Zeit wie jetzt, darum fällt mir's wohl alles wieder ein. Ich war drei Tage in Bühringen; am dritten Tag ging ich zurück; Marie Weiß war nicht gekommen. Aber diese drei Tage werd' ich nie vergessen, sie waren so beklemmend erst und dann so erstickend trostlos, daß sie mich wohl für mein ganzes Leben gefeit haben, und dafür muß ich heut vielleicht dankbar sein.«
Der Prinz sah rasch zu ihr hinüber. Bis dahin war's ihm vorgekommen, als läse sie ihm irgendein Feuilleton vor, es gab jetzt oft solch verschwommenes, abschattiertes Zeug, lauter Beschreibungen, und meist traurig, man wußte nie recht warum; er las eine gute Detektivgeschichte lieber, oder sonst Geschichtliches, woraus man ersah, daß es vorwärts ging in der Welt ... Aber eben war ein Ton in ihrer Stimme, der ihm wehtat: »Liebe, liebe Rita,« sagte er bewegt, »erzähle mir nur alles, ich kann das nachfühlen; meine Jugendzeit hatte auch ihre dornigen Seiten.«
»Hoheit sind gewiß niemals an einem heißen Augustnachmittag in kleinstädtischen Anlagen gewesen – ja, wie kämen Sie auch dorthin! So zwischen fünf und sechs, wenn es ganz windstill ist. Da sitzen dann so kleine, alte Dämchen und häkeln, die Spatzen schlafen in den Büschen, und auf die Wege fallen die ersten welken Blätter – so wie hier ... Dort war ein Bassin, ein längliches Viereck, wo große Goldfische wie fette Mohrrüben schwammen, und ein paar Schüler mit roten Mützen spielten gelangweilt Verstecken hinter den Büschen und der Riesenbüste des Landesvaters, die den Teich übersah; wenn ich nicht irre, ein Großoheim Eurer Hoheit, ob seiner Gerechtigkeit und Leutseligkeit bewundert und geliebt; er konnte einem leid tun, wie er da immerzu lächeln mußte in der heißen Sonne, als träumte er von Veteranenfeiern und Bürgermeistern und könnte zu keinem richtigen Nickerchen kommen.«
»Rita, Sie sind goldig,« sagte der Prinz und wollte ihre Hand küssen; wenn sie sich – es war leider selten – über seine Angehörigen lustig machte, kam sie ihm gleich menschlich so viel näher.
»Ach nein, nein,« sagte sie, »die Verzweiflung kommt wieder über mich. Hoheit ahnen nicht, wie man noch in der Erinnerung zusammenschrumpft, wie man manche Orte, manchen Blumenduft meidet, als säßen Mörder darin, die nur warten, um einem ins Herz zu stoßen. Zwei ganze Tage war ich in Bühringen, ging die Hauptstraße mit ihrem Kanal zwischen großen, staubigen Kastanienbäumen hin und her, saß in der Konditorei, wo es Limonade gab und Kuchen unter Glasglocken, wie Reliquien. Dahinter führte eine kleine Brücke in den Stadtgarten, und immer wieder, zwischen den Zügen, ging ich hin, und war mir anfangs beklommen zumute, so war's mir schließlich unerträglich, und doch mit einem Stich ins Komische. Ich saß dort wie verhext. Alte Herren mit fetten, asthmatischen Hunden kamen an mir vorbei, sie standen in der prallen Sonne und redeten über Steuern und Gemeindesachen, und Euer Hoheit hochseliger Oheim lächelte geduldig zwischen den Buchsbäumen rechts und links, und die Goldfische schliefen im Bassin. In einem Gasthaus in der inneren Stadt war Kaninchenausstellung, dahin ging ich den letzten Tag; ich war immer ein Tiernarr; darum wünschte ich, ich wäre nicht dort gewesen. Es war ein häßlicher Backsteinbau, und überall roch es nach schalem Bier. Droben, in einem dunkelgetäfelten Saal mit altdeutschen Trinksprüchen stand Käfig an Käfig. Sie hatten's viel zu eng, sie saßen in die Winkel gedrückt mit erschrockenen Augen, es war schmutzig in ihren Ställen. Menschen kamen und gingen, die die guten weichen Tiere herausnahmen und wogen und ihnen Zigarrenrauch in die Augen bliesen, man sah die Herzchen klopfen ... ich war dicht am Weinen und ging fort. Ja, und da hatte die Tante geschrieben, wo ich denn bliebe, und da mochte ich ihr nichts weiter vorlügen; so eine tüchtige Lüge, einmal, wenn's sein muß, gut, aber immer wieder, das ist so läppisch. Ich stand am offenen Fenster und packte meine Sachen zusammen; vor der Haustür sprach der Wirt mit einem anderen Mann, und da hörte ich, Marie Weiß sei schon vor vierzehn Tagen hier gewesen beim Bürgermeister, um Papiere zu holen, sie würde heiraten, einen hohen Offizier, der ihr schon lange nahe gestanden. Er hat ja dann auch den Abschied genommen, und sie sind sehr glücklich zusammen gewesen ... sie hatten einen kleinen Jungen ... Ja, da stand ich am Fenster. Dann bin ich zu Fuß heimgegangen, und wie ich über die Höhe kam und die Sterne wachten auf und von den Wiesen kam solch frischer Hauch – da war's, als ob etwas von mir abfiel, und ich sagte mir, es war zum Sterben, aber ich glaube, nun ist's vorbei ... Aber bisweilen kommt es noch so über mich.«
Sie streichelte seine große, schlanke Hand, und dann tat sie einen guten Zug aus ihrem Glase. »All die Länder, wo man offenen Wein trinkt,« sagte sie, »sollten doch von Rechts wegen gut Freund sein miteinander.«
»Stimmt leider nicht –« sagte er, »aber man könnte es in Erwägung ziehen. Völkerbündnisse, je nach Nahrungsmitteln sortiert ....«
Sie trank noch einmal. »So,« sagte sie, »der Wein war gut, und nun ist er zu Ende. Nun aber bleiben Sie hier, Ludwig; mein Wagen hält unten beim Kapellchen. Sehen Sie mir nach, ich werde geradeaus marschieren, wie kein Leibgrenadier es besser kann. Was Tenue betrifft, da kann ich mitreden.«
»Nein, laß mich dich zum Wagen geleiten, Rita, und sprich nicht so – ja, wie soll ich sagen – höhnisch; du brichst mir das Herz.«
»Ach Gott, von Hohn ist keine Rede,« sagte sie. »Wir sind beide betrübte Leute, die ein Einsehen haben. Und glaube mir, il tempo è galantuomo, du wirst es verwinden und sollst es auch, laß mich nicht in einem grämlichen Schleier in deiner Erinnerung stehen. Und habe Dank für alles – hörst du – für alles ...«
Sie nahm seine Hand und legte die Wange für einen Augenblick hinein, so eine Sekunde nur, da war sie wieder jung – wie ein Kätzchen jung ist, jung wie damals, ganz am Anfang, als er sie noch Henrietterl nannte ... dann sah sie sich um, aufmerksam; hierher kehrte sie nie zurück. Und seltsam, es tat eigentlich nicht weh, nur kühl, kühl war alles. Sie merkte, daß sie schon draußen stand im Zuschauerraum, die kleine leere Bühne verlassen hatte. Ach, schenkte das Leben vielleicht ganz heimlich, gerade dann, wenn es nahm? Oder hatte sie zu sehr geliebt, daß es ihr an Kraft zum Schmerz gebrach? Wann würde sie's wissen? Abschied, Opfer, höhere Pflicht ... sonderbare Worte. In der Brust ein toter Fleck, und hier, was blieb zurück? Ein paar verkohlte Zigaretten, ein kleines zertretenes Taschentuch. Und nun kam der Wirt, die Gläser wegzutragen, die Windlichter auszulöschen, und morgen sitzen andere Gäste am Tisch, mit leichten oder schweren Herzen; was weiß ein Mensch vom andern!
Das ausgeweidete Reh hing mit verglasten Augen vom Balken herab, von seiner Zunge troff langsam ein schwarzer Tropfen auf den Lehmboden nieder.
Nachdem die Frau des wilden Mannes es mit Wacholderreisern ausgelegt hatte, wandte sie sich, zum Brunnen zu gehen. Da liefen ihre kleinen Töchter auseinander, die in der braunen Dämmerung der Tür gestanden hatten, vom Blutduft angelockt.
Aber eine saß auf dem Brunnenrand im letzten Abendglast. An ihren baumelnden Füßen hatte sie runde Schuhchen aus Baumrinde, mit bunten Wollbändern um die Beine verschnürt.
»Geh heim, Bärhild,« sagte die Frau, »die Abendkost steht auf dem Tisch.«
Das Mädchen grinste. Ihre hellen Augen standen ein wenig schräg, wie bei Katzen. Um den Hals hatte sie ihren zahmen Marder gelegt, man wußte nicht, wer von beiden spitzere Zähne hatte; sonst aber ähnelten sie einander nicht, die Kleine breit und stämmig, mit kurzem sehnigen Hals, mit kurzer, zerzauster Mähne, rotblond wie alle Töchter des wilden Mannes.
»Jetzt geh ich Schlingen legen,« sagte sie mit rauher Knabenstimme und schlüpfte davon.
Die Frau seufzte und bückte sich zu den Blumentöpfen, die beim Brunnen standen und einsam dufteten in die Abendstille hinein. Sie beugte sich über den Brunnenrand und sah hinunter in die Finsternis. An den schleimigen Wänden wuchsen Farn und Moose, nur selten kam ein Lichtstrahl und glitzerte sie wach. Hinter ihr lag das Haus gekauert zwischen Weiden und Erlen; wohin man trat, gab die schwarze, schwammige Erde nach; im ersten Frühling, wenn alles voll gelbstäubender Kätzchen war, drängten sich die großen, breitblättrigen Dotterblumen in den Sümpfen zwischen den Erlenwurzeln; jetzt waren die Gräben blau von Vergißmeinnicht. Die Frau verstand schöne, feste Kränzchen daraus zu binden und hätte sie gern ihren kleinen Töchtern aufgesetzt, die aber hatten sie abgeschüttelt mit Geschrei. Sie wollten nichts auf ihren wilden Mähnen dulden, nur manchmal setzten sie die Kupferreifen auf, die der wilde Mann ihnen mitgebracht, fremde Schmiedearbeit aus Norden, wunderliche Zeichen drin eingesetzt, sahen aus wie Beile und Galgen.
Ja, wie kam sie zu diesen Wildkatzen, die mit spitzen Zähnchen zur Welt gekommen, ihr die Brust zerbissen und ihr Blut getrunken hatten; man hatte sie den zottigen Stuten anlegen müssen, die sie mit Stampfen und Schlagen in Ordnung hielten; und von der wilden Milch waren sie stark geworden. Nun fingen sie sich die Fohlen, ihre Milchbrüder, ein und trabten auf ihnen durch Weidengebüsch und seichtes Gewässer und über den toten weißen Sand.
Wie anders sah die Erde hier aus als dort, wo sie daheim war. Hier Busch und Binsen, düsterer Erlenwald, wo das Wasser zwischen den geschwärzten Silberstämmen gluckerte und man die schmalen Dämme kennen mußte, um nicht zu versinken. Man konnte sich verkriechen und war doch preisgegeben dem Regen, der Schwüle, den Mückenschwärmen im Dunst. Und weiter, da hörte auch das niedere Gebüsch auf, die Erde wurde karg und steinig, wilde Schafe mit bösen, schwarzen Fratzen schrien in den Wind. Dort begannen die großen, verlassenen Steinbrüche mit ihren Höhlen und Labyrinthen, ihrem schräg geschichteten Stein, als hätten Riesen sich große Stücke herausgeschnitten; Wacholder und Berberitzen wucherten in den Narben. Dort war die Welt zu Ende, weiter wußte sie den Weg nicht; da war ein strenges Verbot, und niemand, der das Geheimnis nicht kannte, hätte aus dem Irrsal heimgefunden. Als Warnung dienten noch die Knochen des Trödlers, der es gewagt hatte, und die betrunkenen Hochzeitsgäste, die auf eine Wette hin, um abzukürzen, den Weg genommen, sie hatten dasselbe Los gehabt.
Daheim, bei ihr, im Hochwald, schlüpfte die Sonne durch das Wipfeldach und streichelte den roten Pelz der Eichkatzen, die großen Bäume waren ihr Freunde gewesen, wie Helden stiegen die Stämme aus der rostigen Blätterdecke. Da war alles redlich. Und ihr Vater, der haßte die Fallen und Schlingen. Ein Pfeil ins Herz, ja, das konnte dem freien Wild recht sein, und die Mütter und Kinder blieben geschont; aber es gab kein Quälen mit zerschmetterten Läufen, kein Würgen und Zerren, keine Todesangst mit blutender, flatternder Schwinge. Der Vater! Wie silberweiß war sein Bart, wie scharf sein dunkles Auge, wie gut hatte er's immer gemeint.
Die Frau sog die Luft ein; es ging ein süßes Duften über den Geruch der Sümpfe, der Gräben voll braunen, faulenden Erlenlaubs dahin. Da hatte wohl irgendwo ein Jasminstrauch seine weißen Blumen aufgetan. Und der Duft tat ihr weh; denn so hatte der Strauch am Jägerhäuschen geduftet, an jenem Tage, als der Jäger nicht heimkam; als wolle er ihr helfen, ihr etwas sagen mit seinem Düften: Sie saß den halben Tag dort und sah ihn versinken im Dämmergrau und wieder auferstehen im weißen, traurigen Mondlicht. Aber der Vater kehrte nicht zurück. Da brach sie sich einen blühenden Zweig ab und ging in den großen unbekannten Wald.
Erst war sie mit schweren Füßen, mit schwerem Herzen gegangen, aber um sie her all das Summen und Säuseln machte ihr auch den Kummer zum Traum. Es ging sich so sacht über das tote braune Laub, gefleckte Salamander saßen unter den moosgrünen Steinen wie in Märchenhöhlen, und die Sonne glitt an den geraden Buchenstämmen hinab wie einer Mutter Lächeln über wohlgeschaffene Söhne. Dann, im Tannenwald, war's noch stiller, Bernsteintropfen glühten an den rissigen Rinden, und die Wipfel waren reglos. Aber das Schönste war der Abhang, wo die Holzfäller ihr Werk getan; da kam der Fingerhut zu seinem Recht; in Völkern stand er zwischen den Baumstümpfen und öffnete den warmen Samtschlund der Sonne und den Bienen. Und die Stechpalme wucherte und die wilde Himbeere warf die Arme aus nach dem Geißblatt, und das war so voll Süßigkeit, kein Bienchen konnte dran vorüber. Dort war sie lange gewesen, die Hände um die Kniee gespannt, der Berghang ihre Lehne, das Erdbeerkraut ihr Teppich; unter ihr die Wiesen lagen im Dunst, und aus dem Wald läutete der Kuckuck tief und eindringlich, und weil sonst alles still war, ging sie seiner Stimme nach.
Wie dann der Abend kam, stand sie in einer Lichtung; da war ein Teich und spiegelte schwarze Binsen im gelben Widerschein, Libellen standen in der Luft mit gläsernen Glotzaugen, das feine Waldgras nickte, die Hummeln lagen, vom Tau verklebt, in der Disteln seidenem Schoß. Da legte auch sie sich hin auf ihr Bündelchen, und hinter ihr öffnete der schwarze Wald seine Hallen.
Trapp, trapp, kamen die wilden Männer geritten, weich schlugen die Hufe auf den federnden Waldboden; als sie die Augen auftat, traten sie in die Lichtung mit finsterroten Gesichtern im Abendlicht. Stumm und gewaltig ritten sie an ihr vorbei, mit harten Stirnen und harten Lippen, leise klirrend die Speere und eisenbeschlagenen Knüttel. Aber der zuletzt ritt, hielt bei ihr an und streckte die Hand aus. Da streckte auch sie ihre kleine Hand empor, und es rieselte ihr durch den Arm bis ins Herz. Und der Wald summte um sie her. Da zog er sie hoch und aufs Pferd und nahm sie an sich ...
Die Frau beugte sich tiefer über den Brunnen. Da unten wohnte die Brunnenfrau, dort ging sie auf goldenen Wiesen mit ihrem kleinen silbernen Hund. In hellen Nächten, hieß es, könne man ihr weißes Kopftuch sehen. Nun fing es an zu dunkeln; das Haus versank in Grau, in Weiden und Erlen. Nur unter dem Dachrand blinkte ein kleines Fenster; dort lagen wohl schon ihre kleinen Töchter; sobald die Sonne sank, gingen sie schlafen, aber früh, kaum daß der Himmel fahl wurde, liefen sie schon und sammelten sich in der taugrauen Wiese, wo man sie schreien und schnattern hörte, ehe sie auseinanderstoben.
Die Frau ging ins Haus zurück. Heute nacht wollte der Mann heimkehren von einem Beutezug; da mußte sie auf sein und helfen, die Säcke verstauen an geheimen Plätzen; sie setzte sich an den Herd, um die Kittel ihrer kleinen Töchter zu flicken, aber die Arbeit sank ihr in den Schoß, und sie lauschte den Geräuschen der Nacht, all dem Seufzen und Knarren draußen in den Bäumen und drinnen im Gebälk. Nun wurden die Nachtvögel in den Wipfeln lebendig, sie wanden sich durch die Äste, plump und seidenweich, bis sie sich aufschwingen konnten, lautlos in die freie Finsternis. Sie wußten, wo die wolligen Junghasen lagen, die sie heimtrugen zu ihrer eigenen Brut, die mit bösen, gelben Augen nach frischem Fleisch schrie. Und durch die Baumwurzeln schlüpften Marder und Wiesel, sie hatten ihre Gänge und Höhlen, ihre Vorräte und Kinderstuben wie die Menschen, und wenn ihre Wege sich kreuzten, gab es da unten einen kurzen, bitteren Kampf mit heißem Gefauch, die Erde schluckte ein wenig Blut, aber darüber lag verschwiegen der moosige Teppich mit tausend nickenden Flockblumen, die faulenden Blätter des Vorjahrs, durch die sich die gelben Taubnesseln drängten.
Durch den Ladenausschnitt kam ein Mondstrahl und tastete über Bank und Tisch und über die Hände in ihrem Schoß; da stützte sie den schmalen Kopf und dachte an die Abende daheim, wie sie auch dasaß und die Quelle im Dunkeln hörte, und dann des Vaters Schritt, immer näher, bis er die Tür auftat und sein weißer Bart im Monde noch weißer war.
Wie sie so gesessen ist, hat sie auf einmal wirkliche Schritte gehört, viele kleine Schritte und Klopfen an der Tür, und wie sie geöffnet hat, haben da vier kleine Buben gestanden, einer immer ein wenig kleiner als der andere, und der kleinste wie ein kleiner Kater, man hätte ihn in der Schürze tragen mögen; die baten um Einlaß.
Die Bübchen hatten die Schüssel geleert, die sie ihnen hingestellt, saßen mit schweren Augenlidern um die kleine Öllampe und erzählten weinerlich von Mutter und Vater und wie sie in die Irre gegangen seien. Die Frau ging von einem zum anderen, streichelte dem den Kopf, rückte dem das Halstuch zurecht, beugte sich verstohlen über sie, immer wieder mußte sie den Dunst ihrer braunen Hälschen einatmen, wie er sie aus dem Ausschnitt ihrer Kittel ankam, diesen Duft, in den sich ein Ruch mischte von Harz und Kohlenmeilern und fetter ungebleichter Schafwolle. Ach, und ihre singende Sprechweise war wie Amselzwitschern. Von einem guten, geplagten Vater, von einer harten geplagten Mutter erzählten sie, von dem Hündchen Strupp und den Meilern tief im Wald, von Bucheckern und Pilzen, und sie meinte, wieder tief drinnen zu stehen, die Füße im Heidelbeerkraut, die Sonnenstrahlen um sie her, als würde das Licht zur Orgel ... Aber auch von einem Dorf erzählten sie, wo sie zur Schule gingen, früh, wenn es kaum Tag war, die einsame Straße hin, wo Krähen auf verschneiten Steinhaufen saßen und schweren Flugs in die graue Luft stießen. Manchmal kam ein Planwagen und der Fuhrmann ließ sie aufsteigen, da kauerten sie unter dem Zeltdach im Stroh, über ihnen die schwankende Laterne, wo das irdene Geschirr verpackt lag, oder zwischen Mehlsäcken, und schliefen und träumten von frischem Brot. Die Kinder waren so müde, sie nickten beim Erzählen ein, und auf einmal fuhr die Frau zusammen und sagte: »Ihr dürft nicht hier bleiben, o um Heilands Namen, Ihr müßt fort, kommt, wir müssen gehen ...«
Denn sie meinte, sie habe die Treppe knarren hören, und sie rannte die morschen Stufen hinauf, wo in der großen, niederen Stube ihre kleinen Töchter schliefen. Aber die rührten sich nicht, lagen nebeneinander im Mondlicht, mit zurückgebogenen schneeweißen Gurgeln; und ihre Zähne glitzerten und der laue Atem ging aus und ein.
Draußen wußte sie keinen sicheren Winkel; die bösen Hunde spürten alles auf. Da brachte sie die Kinder in die Kammer, wo das ausgeweidete Reh hing, dort war Holz aufgestapelt, ein gutes Versteck. Dort würde sie keiner wittern vor Wildgeruch. Aber still sollten sie sein wie die Mäuse. Ach, durch die Nacht meinte sie schon die rauhe Stimme zu hören, und das Pferd, wie es müde, mit gebeugtem Kopf, die Hufe aus den schmatzenden Pfützen zog. So hüllte sie sich ganz in eine graue Decke ein, die nur ihre dunklen Augen freiließ, daß er das Beben ihres Mundes nicht gewahr werde, und zog den schweren Riegel zurück, als er näher kam.
Wie dann der wilde Mann, von Wein beschwert, eingeschlafen war, winkte die Frau den kleinen Buben, und sie krochen aus ihrem Versteck hervor mit ängstlichen Augen. Da drückte sie sie ans Herz, die kleinen runden Köpfe, und küßte sie ins Genick und sog noch einmal den Duft ihrer sonnverbrannten Hälschen. Dann aber, den Finger am Mund, ging sie vor ihnen her, wo das Wasser zwischen den Erlen gluckste und der Mond schmalfingerig durch die Zweige griff. Und weiter, wo nur noch Gebüsch war und seichte, silberne Pfützen, wo der tote weiße Sand begann und der Pfad mählich aufstieg und dann am Rande des Steinbruchs vorbei, wo der Wind durch die Hallen und Höhlen fuhr und schwarze Gewässer tief unten heraufstarrten zum Mond wie Seelen, die kein Lichtstrahl mehr erhellen kann ... dort ging die Frau und trug den kleinsten im Arm, ein anderer hielt sie am Kleid und die größten folgten ihr nach; an Abgründen und Kreuzwegen kamen sie vorbei, aber keines sprach ein Wort; sie gingen mit blassem Angesicht, und die Frau irrte sich nicht und hielt auch nirgends an; sie sah nur gerade in die Luft, denn ihr Herz war ihr zum Wegweiser geworden. Dann, allgemach, senkte sich der Weg, die Steinbrüche blieben liegen, und schon schimmerte die Landstraße und ging von Nebelgrau zu Nebelgrau, aber in der Ferne blinkten Lichter ... Da kniete sie vor den Kleinen nieder und küßte sie, so jammervoll, und wies sie den Weg und flüsterte ihnen zu, guten Rat oder waren's nur Töne, wie brütende, säugende Tiere sie ausstoßen, in Angst und Liebe. Und wandte sich ab von ihnen in scharfem Schmerz, die nun still und ernsthaft im Mondlicht weiterstapften, kleine Buben, die so große Schatten warfen.
Vor ihr der Weg stieg wieder an, den sie zurückgehen mußte; erst durch Wiesen, wo hier und dort ein Steinblock lag, weich eingebettet im feuchten Thymian, dann aber karg, umlagert von Geröll, graues Gesträuch klomm aus den Fugen. Dem Steinbruch zu wand sich der Pfad zurück, schon wieder fühlte sie den kalten Wind aus den Höhlen, der ihr das Kleid um die Knie straffte. Wie schwer waren ihr die Füße, wie leer das Herz. Daheim? Dort würden die bösen Hunde im Verschlag winseln, dort stand der Brunnen, das Haus, grau im ersten fahlen Licht. O Herzeleid, o Ersticken.
Gradaus ging sie mit weiten Augen, die Hände über dem erstorbenen Herzen, und wie der Kreuzweg kam, redete der Wegweiser in ihrem Herzen nicht mehr. Hinauf ging der Pfad, so steil, so steinig; war das der, den sie gekommen? Und der andere führte hinunter ins Geklüft, der ging sich leichter. Im Steinbruch wisperte es und seufzte, und immer tiefer ging sie hinein, und der graue Nebel rollte hinter ihr zusammen.
Ein zeitlose Geschichte
(Für Agnes und Else und andere artige Kinder)
Also – da war einmal eine Prinzessin, die hatte sich im Walde verirrt und da begegnete ihr ein Drache, der sie sehr erschreckte. Aber so greulich er auch aussah, so hatte er doch ein mitleidiges Herz, und wie er sie weinen sah, nahm er sie mit in seine Höhle. Als sie nun einige Tage bei ihm gewesen war, gefiel sie ihm so gut, daß er sie nicht weglassen wollte, denn er führte ein einsames Leben, und etwas Jugend tat ihm wohl. So wurde die Prinzessin Stütze des Drachen mit Familienanschluß, aber was die Familie angeht, da war nur der Drache, denn er war ein alter Junggeselle, hatte auch keine Dienerschaft, darum war auch alles so verwahrlost, ja es sah recht unordentlich aus in der Höhle; aber das sollte ja nun die Prinzessin mit feinem Geschmack anders gestalten, und sie tat auch, was sie konnte, mit Girlanden und Waldblumenbuketts. Als nun die Prinzessin einige Zeit bei dem Drachen gewesen war und sich an mancherlei hatte gewöhnen müssen, begann sie, denn obgleich sie eine Prinzessin war, fehlte ihr doch nicht der Sinn dafür, die komischen Seiten ihrer Umgebung zu erkennen. Es war dabei manches schlimm genug. Wie zum Beispiel das Schnarchen des Drachen, wenn er sich schamlos dem Mittagsschlaf hingab, denn er gehörte zum Geschlecht der Suppenbläser und stieß abwechselnd aus dem rechten und linken Nasenloch greuliche Dämpfe aus. Hypochondrisch veranlagt wie er war, litt er an beständiger Angst vor Erkältungen, die ihn zu den seltsamsten Maßregeln greifen ließ. So hatte er sich eines Tages ausgeklügelt, der Besitz zweier Nasenlöcher bilde eine stete Gefahr für das katarrhalisch disponierte Individuum, da sich das Gehirn zwischen diesen beiden Korridoren in fortwährender Zugluft befände. Deshalb hatte er, trotz ernstlicher Gegenvorstellungen der Prinzessin, das eine Nasenloch mit Moos verstopft, was eine Anschwellung der Gesichtshälfte, verbunden mit heftiger Migräne, zur Folge gehabt hatte. Nachts hörte die Prinzessin den Drachen in seinen großen Filzparisern durch alle Gänge schlurren, um nachzusehen, ob auch alles zu sei, und bei dem geringsten Wetterumschlag trank er einen abscheulichen Tee aus Baumrinde, zog Pulswärmer an und umwickelte sich den Hals mit einem alten himbeerfarbenen Cachenez, was zu seiner Hautfarbe äußerst fatal aussah und den Schönheitssinn der Prinzessin, die früher beim Hofmaler Weichschnabel aquarelliert hatte, empfindlich verletzte. Angenehm war es auch nicht, dabei sitzen zu müssen, wenn der Drache Makkaroni fraß. Diese hingen ihm dann wie Schlangen zu beiden Seiten des Maules herab, und mit den Pfoten stopfte er nach; die Prinzessin mußte wegsehen, sonst verging ihr der ohnedies zarte Appetit.
Abends legte der Drachen Patience. Seine Klauen waren nie ganz rein; er tunkte sie ab und zu in den Sumpf und meinte damit ein übriges getan zu haben; und der Prinzessin blieb auch hier nichts anderes, als emsig an ihren Binsenkörbchen zu flechten, um nur nicht hinsehen zu müssen. Diese zum Sammeln von Erdbeeren bestimmten Behälter häuften sich in einer Ecke der Höhle an. Es gab keine Erdbeeren in diesem Walde, und so waren sie eigentlich zwecklos. Einmal ertappte sich die Prinzessin bei dem Gedanken, man könne sie ja auf einen Basar für Ferienkolonien geben, denn die Handarbeiten fürstlicher Frauen fanden bei solchen gemeinnützigen Veranstaltungen stets reißenden Absatz. Hier freilich türmten sie sich als Angebot ohne Nachfrage im Hintergrund der Drachenwohnung auf.
Alles in allem aber war die Prinzessin auf bestem Wege, sich den ungewohnten Lebensbedingungen anzupassen. Alles was recht ist, dachte sie (diese Redewendung hatte sie von einer bayerischen Kinderfrau aufgeschnappt), aber dies absolute sans gêne, diese Dehnbarkeit in der Zeiteinteilung (zum Beispiel das Mittagessen, das, ebenso unberechenbar wie das Osterfest, bald früh, bald spät stattfand), die schönen, ausgiebigen Schläfchen unter den Tannen ... das alles ließ ihr das frühere Leben, die Residenz im Stadtschloß, wie auch die sogenannte ländliche Zwanglosigkeit der sommerlichen Monrepos' und Sorgenfreis wie öde Korrektionshäuser erscheinen, wenn sie auch ab und zu nach ihrer Zofe Fanny mit dem Manikürekasten, nach ihrer silbernen Badewanne und schönen schaumigen Frühstückschokolade Sehnsucht verspürte.
Manchmal ging der alte Drache aus, um andere Drachen, die wie nie abgelöste Schildwachen vor ihren Schatzkammern lagen, zu besuchen. Er selbst war ein freier Drache, sozusagen ein Finanzminister im Ruhestand, der keine Rechenschaft mehr abzulegen hat, nur die Prinzessin war sein Schatz; und da er von Natur mißtrauisch war, nahm er sie wenn irgend möglich zu diesen Besuchen mit. Dann tranken die Drachen Meth, priemten und spuckten und spielten Karten, wobei sie sich gräßlich beschimpften und mit den Trümpfen auf den Tisch schlugen, daß es dröhnte. Aber allmählich gewöhnte sie sich an den Humor dieser Sonderlinge, ein Gemisch von abgestandenen Börsenwitzen und alemannischer Vierschrötigkeit, das aber zu den alten warzigen Herren paßte, wie die Verwünschungen cholerischer Propheten zu den Steinfratzen gotischer Kathedralen. – – –
Eines Tages nun, es war zu Frühlingsanfang, sah der Drache, nachdem er sein Mittagessen bewältigt hatte, gerührten Auges zu, wie die Prinzessin, nachdem sie einen Rest geschmorter Pilze und das übrige Blaubeerkompott weggeräumt hatte, mit ihren kleinen rauhgewordenen Händen den Eichelkaffee filtrierte. Ach, das war doch alles keine Arbeit für eine Prinzessin, dachte er beschämt und fühlte, wie sich seine kleinen grünen Plieraugen mit Tränen füllten, die er verstohlen mit den Klauen wegwischte, wenn sie auf seinen höckerigen Lederwangen niederflossen, die an ein Reisenecessaire aus Krokodilhaut erinnerten, nur daß sie nicht so schön poliert waren wie diese Erzeugnisse einer raffinierten Kultur.
Draußen zwitscherten die Buchfinken in den knospenden Büschen und suchten nach gegabelten Ästen, ihre Nester darin zu befestigen. Durch das dürre Laub streckten Tausende von Anemonen ihre weißen, feingeäderten Kelche, die im Frühlingswind schwankten, und überall, wo immer ein feuchtes Fleckchen zu finden war, hatte die Sonne es aufgespürt und blitzte darin wie in Glasscherben; durch die kahlen Baumwipfel sah man den blauen Himmel mit vielen kleinen, runden Lämmerwölkchen schimmern, es roch nach Erde und nach Moos, und aus den Sümpfen kamen bedächtig die Kröten gewandert und trugen, wie einst die Weiber von Weinsberg, eine jede ihren kleinen Ehemann auf dem Rücken. Da auf einmal fühlte die Prinzessin ein so tiefes Mitleid mit dem armen Drachen, der so alt und schäbig mitten in dem hellen Frühlingswetter dasaß, und den man eigentlich in eine chemische Reinigungsanstalt hätte schicken müssen. Er würde nie eine Drachin und liebe kleine Drachen sein eigen nennen, dazu war er doch viel zu alt und häßlich, und wenn sie einmal befreit würde, bliebe er allein zurück und hätte niemand, der sich um ihn kümmern würde; denn wenn sie ihn mitnahm, kam er doch nur in den Zoologischen Garten, wo ihn die Kinder mit Sonnenschirmen und Stöcken ärgern würden und er eine betonierte Felsenhöhle bekäme – die reine Attrappe, und alle Tage abgekochte Mohrrüben, die er nicht leiden konnte. Armer, alter Drache! Und sie hatte während der ganzen Zeit kein böses Wörtchen von ihm zu hören bekommen und hatte doch selber – besonders im ersten halben Jahr – nichts getan, als die Nase rümpfen über das Essen und die mangelhafte Einrichtung; und er gab es doch, so gut er's hatte! Da neigte sie sich über ihn und kraute ihn ein wenig hinter den Ohren, wozu er die Mundwinkel hochzog und ein Gesicht machte wie Wagnerianer, wenn das Lied von den Winterstürmen und dem Wonnemond losgeht, legte ihre Samtwange auf sein runzeliges Haupt und aus ihren schönen Augen rollte eine Träne. Und dann küßte sie ihn mitten auf sein grünpatiniertes Nasenbein.
Aber im selben Augenblick geschah ein furchtbarer Donnerstoß, die Erde schwankte, Bäume und Gestein drängten sich zusammen oder sanken auseinander, ihre Farben verwandelten sich, das Dach der Höhle hob und wölbte sich, und Bäume wurden zu Säulen; es war, als wirbelte ein Kaleidoskop um sie her, und wie sie wieder zur Besinnung kam, saß ein schöner, wohlerzogener Prinz in entzückender Uniform, mit Ordenskette und blitzendem Stern ihr zur Seite, in leuchtendem Saal, und alles war verwandelt, ihr Kuß hatte den Zauber gelöst, nur die Erdbeerkörbchen standen noch da, waren nun aber aus Goldgeflecht, und in jedem lagen, wie Ostereier, vier bunte, leuchtende Steine.
Schöne Damen kamen paarweis geschritten, mit demütigen Schwanenhälsen und hoffärtigen Schleppen, sie hielten ihre Kleider mit spitzen Fingern und versanken wie sterbende Springbrunnen, wenn sie vor Prinz und Prinzessin vorüberzogen. Da waren Herolde, angetan mit historischen Wappenröcken, mit Locken und spitzen Bärten, gerade wie Kartenkönige, nur daß sie Beine hatten; schöne kleine Pagen mit Krone und Zepter auf seidenen Kissen, süß lächelnde Kammerfrauen mit reizenden Hündchen, auch eine kleine Mohrin war dabei. Auf den Galerien aber hinter goldenen Gittern bliesen und fiedelten die Musikanten, daß es eine Lust war, und das silberne Haar des Kapellmeisters wehte nach allen Seiten vor Begeisterung ... Nun zogen die Köche vorbei, weißgekleidet, feist und glatt, mit Kochlöffeln und blanken Messern im Gurt, und hinter ihnen die Küchenjungen, wie ein Echo in kleinem Format, dann der Troß der Stallmeister, der Jäger und Hornisten, die Treiber und Hundejungen mit Peitschen und Netzen, und schließlich auch das Aschenweib, das nur dazu da war, die Asche aus den Kaminen fortzutragen, grau und zerzaust wie eine mauserige Krähe. Aber ganz zuletzt kam die Märchenerzählerin der fürstlichen Kinder, die war so uralt, daß sie die Leute in den Märchen persönlich gekannt hatte; klein und gebückt trippelte sie vorüber in spitzem Hut und grünem Mäntelchen.
Alle machten ihre Reverenz, die Prinzessin mußte in einem fort lächeln und nicken, und nun kamen drei Hofprediger mit feierlichem Glockengeläut und begrüßten das fürstliche Paar im Namen des Höchsten mit überaus herzlichen Gebärden ihrer kleinen, weißen, wohlgenährten Hände, wie segnende Maulwürfe. Die Bäume rauschten, die Brunnen sprangen und tanzten und die Glockentöne waren rund und tief wie die Glocken selbst; aber die Sonne blies die Backen auf und posaunte auf ihre Weise mit langen, heißen Stößen. Und dann wurde die Hochzeit gefeiert. –
Aber als sie nun viele Jahre König und Königin gewesen waren, dachte die Königin manchmal zurück an ihre Höhle. Nun war sie bequem und dick geworden, und die schönste Stunde des Tages war die von drei bis vier, wenn sie ihr Korsett auszog und sich mit einem Roman auf den Diwan legte. Die Kammerfrau holte ihr die herrlichsten Schmöker aus der Leihbibliothek, denn der König ließ sie durch den Hofbibliothekar ausschließlich mit Memoirenliteratur versorgen; aus diesen Produkten des ancien régime hoffte er, daß sie den Geist feiner répartie, der ihr von der Natur versagt war, erlerne. Sie gestand es sich kaum ein, aber eigentlich hatte sie dies Leben gründlich satt mit seinen Denkmalsenthüllungen und Audienzen, wo die Menschen immer ganz kleine Mündchen machten, als könnten sie nur Tütü sagen. Die Tage waren so künstlich zugeschnitten, jede Stunde fügte sich in die andere ein wie bei einem Geduldspiel, da war keine Ritze, wo die kleinste Maus hätte durchschlüpfen können, und nun überkam sie oft ein Verlangen nach anderem, wie ein wohlerzogener Knabe aus guter Familie, der in eine Hafenstadt kommt, voll neidischer Wonne nach den schmutzigen Schiffsjungen auf den Heringsbooten schielt. Der alte Drache – ja es war merkwürdig, wie bald er sich in alles gefügt hatte. Wenn sie an seine Filzpariser dachte! Nun, er hatte sich ja auch viel gründlicher als Drache ausgelebt. Nun war er ein kleiner, trockener, ältlicher Herr geworden, mit einer irritierenden Art sich zu räuspern, und all die Vorschriften der Etikette waren ihm unentbehrlich wie eine hygienische Unterbekleidung. Neuerdings konnte er sich ganz merkwürdig über die kleinsten Mißgriffe aufregen, so neulich, als die Zuckerzange nicht gleich bei der Hand war. Da hatten seine Augen Drachengift geschossen, wie sie es damals, in der Höhle, nie getan. Der Lakai schlotterte und der Oberhofmarschall fühlte die Fundamente seines Daseins wanken. Aber die Königin konnte nicht an sich halten; sie lachte in ihrer unpassend explosiven Art und bekam einen ganz roten Kopf: »Lieber Mann,« sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen – denn sie mußte beim Lachen immer weinen – »als wir noch in der Drachenhöhle lebten, hast du deinen Zucker abgebissen und den Kaffee trankst du aus der Untertasse wie eine Waschfrau.« Alles war wie versteinert, denn die unselige Drachenepisode wurde ja totgeschwiegen und jede Anspielung darauf als grobe Taktlosigkeit empfunden; eine Zeit eisiger Ungnade war die Folge dieser übelangebrachten Reminiszenzen. Seitdem versuchte die Königin ihre seelischen Aufwallungen zu unterdrücken, aber wenn sie im halbverdunkelten Boudoir der Ruhe pflegte, kam es über sie, und vor ihren geschlossenen Augen stand die Höhle wieder auf, braungrün und verräuchert, ach, und so traulich!
Heut gerade war ein schläferiger Sonntagsnachmittag, dessen freundliche Langeweile durch die Ritzen der Jalousien drang. Die Wache auf dem Rondellplatz vor dem Schloß war eben aufgezogen, die Kommandoworte, das Trommeln verhallte, und nun begannen die beiden Schildwachen ihr Auf und Ab, bis zur nächsten Ablösung. Nettgekleidete Bürgerfamilien wanderten auf den Kiespfaden und bewunderten die schönen Teppichbeete, die den Neid zugereister Hofgärtner erregten. Weiter ab, unter den Kastanienbäumen wandelten Landgerichtsräte und Gymnasiallehrer, und bleiche, schwärmerische Jünglinge saßen auf den Bänken und lasen in Reklambändchen. Die kleinen Knaben und Mädchen aber freuten sich ihrer roten Luftballons, und alles strömte dem Schloßgarten zu, der Sonntags dem Publikum offenstand. Die fürstliche Frau hatte es sich leicht gemacht. Das Korsett lag, gedemütigt wie ein verabschiedeter Zeremonienmeister, auf dem Teppich, ihre Füße dehnten sich in weiten, gelben Babuschen, und sie begann eben den zweiten Band vom Geheimnis der alten Mamsell. Aber sogar dieses ganz neue, ungemein fesselnde Werk konnte die Gedanken nicht bannen. Hatte sie nicht eben, in der Ferne, einen leisen Kuckucksruf gehört? Es war das freilich die Schwarzwälderuhr des Türhüters gewesen, die man in der sonntäglichen Stille schlagen hörte, aber auch die stammte aus dem Walde, darum war wohl ihr Ton so echt; mit einemmal wuchs ihre Sehnsucht riesengroß; sie mußte den Wald wiedersehen, ob sie gleich ahnte, daß es dort nicht mehr sein würde wie einst. Ohne Zaudern zog sie sich an und band einen grünen Schleier über den Hut, von der glänzenden Sorte, die sich Donna Maria nannte und damals Mode war. Das Glück war ihr hold, denn die Lakaien, die im Treppenhaus, bei schläferigem Fliegengesumm Dienst hatten, glaubten, sie ginge in den Privatgarten; als sie aber an die Tür kam, die zu ihm führte, saß da der alte Türhüter und war über dem Sonntagsblättchen eingenickt: so schlüpfte sie hinaus.
Niemand gab auf sie acht, als sie den Schloßpark durchquerte, denn sie ging nur selten zu Fuß; träge und fett, wie sie war, fuhr sie stets in der Karosse. Auch sah sie in ihrem Alter der Frau Hofkonditor Butterweck ähnlich, und in ihrem einfachen Anzug galt sie den Spaziergängern wohl für diese, wenn sie sich überhaupt nach ihr umsahen. So wanderte sie unerkannt, wie irgendeine behäbige Bürgersfrau, durch den Schloßgarten, zum äußeren Tore hinaus und eine lange Rüsterallee hinunter, an deren einer Seite Seildreher ihre Werkstatt hatten, wo man sie wochentags sehen konnte, die Schürze voller Werg, aus dem sie, rückwärtsschreitend, wie Kreuzspinnen, ihre langen Seile drehten. Nach längerem Gehen, das ihr manchen Seufzer entriß, denn es war ihren Füßen eine ungewohnte Fron, lenkte ein Weg seitab in den Wald, oder vielmehr dorthin, wo er früher gestanden hatte. Denn es war freilich alles anders geworden. Da waren Bänke und Wegweiser und kleine Buden, wo man Himbeerwasser und Sandtörtchen kaufen konnte, die reliquienhaft unter Glasstürzen schimmelten; ach und eine ganze Straße von blitzblanken Villas mit Erkern und Türmen und gotischen Fenstern war entstanden, wo pensionierte Generale ihren Ruhestand verlebten, sich der Rosenkultur widmeten und die Blattläuse mit Ausdauer und Tabakslösung bekämpften. Ach, wo war das Dickicht von einst? Den Krötensumpf hatte man ausgetrocknet, Kinder in schottischkarierten Kleidern und schrecklichen Schürzen aus Wachstuch spielten dort im Sand, ja der Platz hieß sogar nach ihr, Karoline-Amalien-Platz, denn in ihrer Familie hatten die Frauen alle so schreckliche Namen, und die Männer hießen Adolf oder Emil oder Ferdinand, was auch nicht hübsch war. Auch ihr Drache hieß Ferdinand. Ach, wo waren die Drachen geblieben! Tot oder ausgewandert? Oder hatte sie alles nur geträumt? Dort, die alte Eiche, oh, sie erkannte sie wieder; wie oft hatte sie dort gesessen und den sich paarenden Eichkätzchen zugeschaut, wie sie sich haschten, immer um den Baum herum. Einmal noch wollte sie seine Rinde streicheln. Aber was hing dort an seinem Stamm? War's ein Muttergotteshäuschen? Dann würde dort auch eine Bank sein, oh, wie brannten ihre Füße, wie gut würde man sitzen unter dem breiten Geäst. Da ging sie näher, aber es war kein Muttergotteshäuschen, sondern ein lackierter Kasten war aufgehängt am Eichenstamm, und es stand daraufgeschrieben: Gegen Einwurf eines Fünfzigpfennigstücks eine Tafel echt deutsche Familienschokolade. Über dem Kasten aber war noch ein Blechschild mit deutender Hand: Restaurant Drachenhöhle, Kegelbahn, Kaffee und Bier. Zehn Minuten. Da fühlte sie Erbarmen mit dem Baum und mit sich und mit all den alten vertriebenen Drachen; und mußte weinen. Aber wenn sie weinte, ging das nie ohne vielfaches Nasenputzen vor sich, daß sie ganz rot und verschwollen aussah, und das war ja auch nicht königlich.
Als sie sich ausgeweint hatte, ging sie langsam, denn die Füße taten ihr weh, in ihr kühles Königsschloß zurück, wo man sie bereits vermißt hatte und ihr Hofstaat im Begriff stand, den Schloßpark nach ihr abzusuchen.
In Erinnerung eines kleinen Tiergartens,
der verschwunden ist
Damals war ich oft bei der Känguruhmutter. Sie hatte liebe, staubige, kurzsichtige Augen, als hätte sie bei Lampenlicht zuviel schwarze Strümpfe gestopft, und einen verschwiegenen Zug an den Mundwinkeln wie alte Kinderfrauen, die in der Familie geblieben sind und vieles haben mitansehen müssen. Sie hätte einen kleinen Kapotthut tragen sollen, mit Glaskirschen oder Samtpensees und eine Mantille; und Klatschkaffees geben und immer wieder nötigen, man möge doch zugreifen: »Denn es ist alles mit reiner Butter, meine Damen, Kokos und Margarine und all diese schrecklichen Erfindungen dürften Sie umsonst in meiner Speisekammer suchen; einfach aber prima das ist mein Wahlspruch.«
Die Känguruhmutter und ich, wir verstanden uns. Wenn sie mich sah, kam sie gesprungen. Aber gleichsam entschuldigend, sie könne nun einmal nicht anders. Ich brachte ihr das Angebackene vom Schokoladenpudding. Süßigkeiten und ihr Kuhlchen im Heu, das war ihr Schönstes. Ich konnte das begreifen. Es kommt einmal die Zeit, wo man Äußerlichkeiten verachtet. Und dann offenbart das Leben andere, stillere Reize.
Als ich Frau Känguruh kennen lernte, hatte sie ein ganzes Schurzfell voll Kinder, das letzte Andenken von dem Herrn Känguruh, der selber im australischen Busch geblieben war. Wie ein Briefträger zur Neujahrszeit lief sie daher, aber statt Päckchen und Kreuzbandsendungen waren es kleine Känguruhs, die aus ihrer Tasche kullerten. »Nun ist mir leichter,« sagte sie, als die Kleinen größer geworden, zu groß für den Schlafsack, »aber nun friert mich beständig. Ja, ja, die Kinder gehören der Mutter, doch nur so lange sie klein sind.« Denn ihre Schwäche waren wohl gewisse, etwas rührselige Gemeinplätze. Damals schon hätte ich ihr gern ein Schaltuch geschenkt.
Später dann wanderten ihre Kinder aus, in andere Gärten, und sie blieb allein. Mit den übrigen Nachbarn konnte sie sich nicht anfreunden. Es fehlte die Resonanz. Sie bezog ein leidlich großes Quartier, mit einer Trauerweide in der Mitte und ihrem Borkenhäuschen in einer Ecke, das mich immer an eine alte illustrierte Ausgabe von Paul et Virginie erinnerte, die wir auf dem Lande besaßen. Aber mit zwei Sprüngen war sie doch gleich am anderen Ende. Und das nagte an ihr. Bis sie dann älter wurde und ruhiger.
»Sie glauben nicht, was ich früher für ein Temperament hatte,« sagte sie. »Aber nun ist man ja zufrieden, wenn man sein Essen hat und sein Plätzchen im Grünen.«
Die Känguruhmutter wäre eine entzückende Kastellanin gewesen. Im grauen, gehäkelten Seelenwärmer, den Schlüsselbund am Gürtel, wie wäre sie emsig die weißen, hallenden Treppen auf und ab gerannt; wie pflichttreu hätte sie Staub gewischt. Wie hätte sie andachtsvoll die seufzenden Mahagonisekretärs geöffnet und aus der griechischen Tempelarchitektur im Hintergrund jene schicksalsschwere Wedgwoodtasse hervorgeholt und den Auserwählten gezeigt, wie auch das Original des berühmten, herzzerreißenden Sonetts, das der Dichterfürst damals, am Tag der Abreise, auf einen alten Brief gekritzelt hatte!
Wie würde sie mit der Überzeugungskraft steter Wiederholung, all die längst berichtigten Unwahrheiten über das Damenporträt im fürstlichen Alkoven den lauschenden Amerikanern versetzt haben, die gläubig und starr, in riesenhaften grauen Filzschuhen einen Halbkreis um sie bildeten, hypnotisierten Strandläufern vergleichbar! Und mit welcher Ehrfurcht würde sie den weißen Überzug eines Tapisseriesessels gelüftet und mit leiser Stimme versichert haben, die übrigen elf seien genau ebenso und alle, alle seien sie von der Hand der hochseligen Maria Pawlowna gestickt ...
Ganz im Dunkeln, hoch oben in einem Winkel hockt das Marmutzchen. Aber eigentlich heißt es Lemur und lebt in Madagaskar, wo ich auch leben möchte, denn ich glaube, ich könnte alles Böse vergessen, wenn ich eine Schar solcher Marmutzchen mein eigen nennte. Oder auch nur eins. Sie haben buschige Schwänze, wie Eichkaterchen, nur viel länger; spitze Schnäuzchen und spitze Öhrchen mit kleinen Haarbüscheln, große, große Glühaugen und kleine streichelnde Hände wie Affen. Aber sie sind nur Halbaffen und es wird gar kein Aufhebens mit ihnen gemacht.
Sie sollten ganz große Käfige haben – so groß wie der Käfig vom Lämmergeier –, um von einem Baum zum anderen zu springen, und überall kleine, verschwiegene Höhlen für Familienglück, und Bananen und Kirschen in Fülle. Sie machen den Menschen nichts nach wie die wirklichen Affen, die so traurig und beschämend sind, denn man taugt doch, weiß Gott, nicht zum Vorbild; nein, sie haben gar nichts vom Menschen, bis auf die kleinen schwarzen Hände, die innen kühl und zart und faltig sind; so wie ich mir Rumpelstiltzchens Hände denke.
Armer kleiner Lemur, ganz allein in seinem finsteren Winkel. Und dann pfeife ich – die ersten zwei Takte der Serenade aus Don Juan, und er klettert herunter und läßt sich krauen, so gut es durch das Gitter geht. Ach, wenn man doch Gottvater wäre, oder vielleicht besser noch Direktor des Zoologischen Gartens, da könnte man dem Marmutzchen noch glückliche Tage schaffen, ehe es stirbt. Denn schon ist es alt, sein Pelz ist schäbig geworden und die großen Glühaugen werden trübe, die kleinen Händchen können sich nicht mehr festhalten. O Wälder Madagaskars, o flüsterndes Schilfrohr, wo sich die Bäume im Abendrot der Sümpfe spiegeln ... Möchte die Seele des armen Marmutzchen zurückfinden in euer Dämmergrün, auf den Lianen schaukeln, die sich von Ast zu Ast schlingen, wenn die laue Luft durch die Wipfel geht und in der Lichtung der Mond über die Gräser trippelt.
Ich sagte zum Seelöwen: »Ihre schlichte Haartracht eignet sich wunderbar für das Element, in dem Sie leben. Aber es gehört Ihre Kopfform dazu, um so, aller Einrahmung bar, zu bestehen.«
Der Seelöwe schniefte. Ich wollte ihm mein Taschentuch geben, aber es war doch besser, nichts zu bemerken. Er hatte sich in seinem nassen Dekolleté ganz über die steinerne Brüstung seines Behälters gelehnt; mit der unbekümmerten Schamlosigkeit einer alten, fetten Palastdame, die einsam in der Hofloge einer kleinen Residenzstadt thront, wo die besseren Damen sonst nur in Seidenblusen, hoch herauf, erscheinen.
»Ihre abfallenden Schultern,« fuhr ich fort, »würden den seligen Winterhalter zu unsterblichen Werken begeistert haben. In meiner Kindheit war sein Ruhm auf dem Höhepunkt und die stolzesten Fürstinnen bestürmten sein Atelier. Schultern wie die Ihrigen waren damals Vorschrift; an ihnen rieselten die Mantillen nieder wie elegische Wasserfälle. Ja gewiß, er würde Sie gemalt haben, am Arm ein Körbchen mit ganz unwahrscheinlichen Weintrauben, bläulicher Parknebel und irgend etwas Gerafftes im Hintergrund. Vielleicht auch eine Balustrade. Solche lächelnden Damen hingen dann im Dämmerlicht in Salons mit Boulemöbeln, die sich immer kalt anfühlten, und karmesinfarbenen Sesseln und Sofas, wo die kleinen Mädchen Clementi übten oder etwas Leichteres von Chopin, zur Weihnachtsüberraschung für den Vater. Die Sonne glitzerte ab und zu in den Kristallkronen und alle Samstag kam der kleine asthmatische Uhrmacher und zog stöhnend die schwarze Marmorpendüle auf. Die Dame an der Wand sah lächelnd vor sich hin. Eine Tante, die im Ausland gestorben war ...«
»Sagen Sie mir,« sprach ich zum Seelöwen, »wenn Sie so vor sich hinsehen, kurzsichtig vor lauter Weitsichtigkeit, was ist's, das sich in Ihnen spiegelt? Die matte, tausendmal durchatmete Luft dieses Gartens weckt die Sehnsucht, aber tötet sie nicht die Erinnerung? Wenn Sie doch sprechen könnten! Stundenlang wollte ich Sie hinter Ihren kleinen Ohrlöchern krauen, wenn Sie mir von damals erzählen wollten, von den grünen, unmenschlichen Mondnächten über den Klippen, oder von der Tiefe, wohin die Stürme nicht mehr dringen, wo man zwischen Seepflanzen schwimmt, die beinah Tiere sind, die sich zusammenziehen und wieder auftun wie Fäustchen saugender Kinder. O wie begreife ich nun Ihr Schniefen, aus dem ich Ihnen beinah einen Vorwurf gemacht hätte. Ja, Sie fahren auf den Grund, Sie suchen, aber da ist nichts, alles zementiert, nur verfaulte Äpfel und aufgeweichte Brotrinden, womit Unwissende Ihr Becken verunreinigten; und dann fahren Sie hoch und prusten, und suchen in der Luft nach Salz, nach treibendem Seegrasduft ... Ja, und dann schwillt Ihr Hals an, mehr und mehr und pendelt wie irrsinnig von links nach rechts, Ihr kleiner Schlangenkopf biegt hintenüber, Ihr glitzernder Rachen öffnet sich und schleudert den Schrei hinaus, zweimal, dreimal, den großen, harten, heiseren Schrei, der Ihre glatten, gehorsamen Weibchen vor sich hertrieb, im Morgengrau, der Sandbank zu ... O Salz, Salzschaum in den Bartstacheln, gutes, beißendes Salz, das durch die kleinen, runden Naslöcher hochgepumpt, das Hirn spült und als eisklare Träne zurückrinnt in den tropfenden Bart. Ach, ich fühle es wohl, Sie sind hier gänzlich deplaciert. Aber wer wäre es nicht in einem Gefängnis ...!
Wie Sie diese Philister verachten müssen mit ihren Kuchentüten und Sonnenschirmen, mit ihren Brautpaaren und Kindern, die nicht gehorchen und doch vor allem Furcht haben. Wie erbärmlich ist dies Geschlecht, das seine Glieder versteckt und unter Wasser erstickt!
Sie in ihrem Niedergang sind jedenfalls ehrlich, leben nur noch für den Augenblick, wenn der Mann in der blauen Jacke Ihren Eimer voll kleiner, weißbäuchiger Fische in das Bassin schüttet. Und im übrigen grunzen Sie in der Sprache der Meergötter, die niemand versteht, und machen Wassergymnastik, und es wäre zu wünschen, Wagners Rheintöchter hätten Sie zum Lehrmeister gehabt.
Meine Hochachtung. Aber ich will gehen. Es hat mich alles etwas deprimiert. Wenn möglich, bringe ich Ihnen das nächstemal einen Seefisch. Seien Sie mir gegrüßt!«
Es ging gegen Abend und ich wollte gehen, aber da lernte ich eine Amme kennen, ach, eine verzweifelte Amme, denn sie durfte nicht mehr zu ihrem Pflegekind. Manchmal hört man Mütter sagen, daß sie ihre Kinder vor Liebe fressen möchten, aber hier war es der Säugling, der die Mutter fressen würde. Ziemlich gelangweilt saß er hinter den Gitterstäben. Eine ganze Weile hatte er mit der dummen Holzkugel gespielt, denn das wurde von ihm erwartet. Was aber nun? Ab und zu blinzelte er hinunter zu ihr, die aus verschleierten Goldtopasen unverwandt zu ihm aufsah und nur ab und zu einen kurzen, sehnsüchtigen Blaff ausstieß. Er aber kniff die Augen zu; sein Schmerz war schon von der Watte Gewohnheit umwickelt; er träumte von seiner neuesten Entdeckung: Beefsteak.
Der Wärter kam und scheuchte sie hinaus; aber die Türen blieben der Wärme wegen geöffnet, so kehrte sie immer wieder auf ihren Platz vor dem Käfig zurück. »Ja, das Vieh kann einem dauern,« sagte der Mann. »Nun sind es schon vier Wochen, daß Cäsar II. entwöhnt ist, aber sie gibt noch immer keine Ruhe. Und gelitten hat sie auch, sie schwoll so furchtbar an und hatte richtig Milchfieber. Wir wollten ihr kleine Hunde anlegen, damit ihr leichter würde, die Jungen von der Polarhündin, die eingegangen ist. Mein Kollege hat alles versucht, aber nein, sie ließ sie nicht ankommen; sie ist nun mal an Löwen gewöhnt.«
Ich sah ihn an. »Ja, dies ist das drittemal, daß sie bei Löwen Amme ist. So eine gibt's bald nicht wieder. Aber jedesmal ist's beinah zum Sterben mit dem Absetzen, bis sie sich drein ergibt.«
Wieviel vernünftiger, dachte ich, handeln die Menschen. Ein deutlicher Fingerzeig, daß sie zum Herrschen erkoren sind. Da war Teresina, die Toskanerin. Sie kam, vom deutschen Arzt unter vielen Aspirantinnen auserwählt, zu meiner jungen Freundin, die sanft und erschöpft in ihren schönen Kissen lag. Teresina schien eine Bettlerin – sie kam in Lumpen. »Das,« sagte der blonde Germane, »darf Sie nicht irremachen, meine Gnädigste. Zu Haus hat sie Schränke voll Kleider und Wäsche. Dies ist hier nun einmal Geschäftsusance. Aber sehen Sie her ... ist sie nicht prachtvoll? Apri,« sagte er kurz und geschäftsmäßig.
Teresina öffnete ihr grobes und zerrissenes Hemd. Maria Beata wunderte sich. Sie hatte mehr erwartet. Gerade hier in der Heimat Michelangelos. »Klein,« sagte sie schüchtern. »Klein?« wiederholte der Blondbärtige verächtlich. »Juno könnte stolz sein auf eine solche Brust. Man bringe den Säugling,« setzte er sachlich hinzu.
Der Säugling wurde gebracht, von Maria Beata mit großen ängstlichen Augen verfolgt, ähnlich einer Katze, die zusehen muß, wie man ihre Jungen aus dem Neste hebt, um sie teils zum Leben, teils zum Stadtbach zu verurteilen. »Lege ihn an,« sprach der Teutone zur Toskanerin.
»Tesoro mio,« schrie Teresina auf, kaum daß sie ihn im Arm hatte. Und nun kam der Paroxysmus: »Subito si è attacato, povero bimbo, ma che tu hai patito la fame? Ah birbone, ah figlio d'un cane, ma che tu sei 'na sanguesuga? Eh Coccodrillo, eh rospo di macchia, ma la guardi come poppa!« Denn in jenem Lande versteckt sich mütterlicher Enthusiasmus schamhaft unter Injurien. Aber schon leckten ihre Augen gleich braunen Schlängelchen der Liebe und Eifersucht an den rosigen Gliedern ihres kleinen Milchsohns auf und nieder. Und Maria Beata erkannte, daß hier eine Mitregentin sei.
Als nach neun Monaten Teresina, mit einem rhapsodischen Zeugnis und zahllosen Geschenken versehen, das Haus der Tedeschi verließ, war dem ein kurzer aber rasender Schmerzensausbruch vorangegangen. Aber der Kopfputz aus dunkelroten, getollten Seidenbändern, der sie in eine Dahlie verwandelt hatte, die zitternden Silbernadeln und Korallenketten, die gestickten Busentücher und großen Musselinschürzen, die Hemden und Röcke, die Schuhe und Zwickelstrümpfe: alles ging mit, alles kam in den großen Cassettone zu Füßen von Teresinas mächtigem Ehebett. Und das war tröstlich. Ja, nun ging es heim zum Marito, der vor Porta Romana eine Droschke innehatte mit einem einäugigen Schimmelchen, la Stellina benannt, das mit grüner, heimlich ausgeraufter Gerste gefüttert wurde. Heim in den kleinen Vorort, wo die Frauen so gemütlich in Nachtjacken vor ihren Haustüren sitzen, mit Strohflechterei beschäftigt; wo es sich so nett und gründlich mit den Nachbarinnen tratscht, während über einem an den Hausmauern in praller Sonne, in vielen winzigen Käfigen, die kleinen, geblendeten Vögel unaufhörlich trillern, weil sie ja nicht wissen können, ob Tag oder Nacht ist.
»Ich habe sie gleich wieder vorgemerkt,« sprach der blonde deutsche Arzt. »Beim Principe O. hat soeben Donna Faustina, die älteste Tochter, sich vermählt. Ich denke, das kann gerade stimmen. Es ist immer gut für solche Fälle gerüstet zu sein. Und Teresina ist meine beste Nummer.«
Die schöne Ausstattung von Maria Beata würde natürlich verkauft oder im Cassettone verschwinden und Teresina würde auch dort ärmlich und abgerissen zum Antritt erscheinen, aber im Besitz ihrer göttlichen Brust und ihrer Zeugnisse auch dort ihre Mitbewerberinnen aus dem Felde schlagen. Um dann, den kleinen Principe im Arm, als königliche Dahlie in den historischen Gärten der fürstlichen Villa auf und nieder zu gehen; gefürchtet und geehrt ...
Ich kam noch einmal durchs Raubtierhaus. Cäsar II. trank gerade Milch aus einer Blechschüssel; aber er schien nicht recht bei der Sache: noch war ihm der Wärter das heutige Beefsteak schuldig. Myra aber, die Dogge, wurde soeben beim Halsband hinausgeschleift. Sie stemmte sich mit allen vier Pfoten, sie wandte den Kopf rückwärts, anklagend, verzweifelt, und ihre armen runzligen Zitzen baumelten leer und sinnlos wie ein Glockenspiel ohne Klöppel.
Novembertage! Wie liebe ich euch, dort in meiner Kinderheimat ... Ergreifend wie das allererste Frühjahr und ihm ähnlich. Wie sie daliegt die Erde und uns anblickt, ganz arm, sie, die alles gegeben hat, so wird sie daliegen, wenn der Schnee geschmolzen ist; still atmend unter braunem Laubgemoder, die Büsche noch kahl, und hier und dort wird eine verschrumpfte rote Beere leuchten, die die Vögel unter dem Schnee nicht erspäht hatten. Nur der Geruch wird anders sein, und wo der Fuß in faulenden Blättern wühlt, wird er am Grabenrand kleine Primelvereine aufstören, noch in sich geduckt und ängstlich, und alles, was heute glitzert, wird auch dann glitzern, aber anders, froh und bänglich, und jeder Sonnenstrahl, der sich in Wasserlachen spiegelt, wird anders in den Spiegel sehen. Aber die Hügel werden so wie heut am blassen Himmel liegen, dasselbe zartgegliederte Gezweig der Wipfel, wie Seegräser im klaren Meerwasser, bräunlich-rosig und ganz still: es könnten Fischchen darin ein und aus schwimmen!
Dort bist du schön, November, schön wie verwelkende Frauen, denen Liebe und Leid die Zeichen grub, alternde Frauen, die noch lächeln können wie Mädchen, die mütterlich sind wie schlanke schauernde Hirschkühe; die ein wohlriechendes Blatt mit den Fingern reiben, behutsam und begehrlich nach den feinen und flüchtigen Dingen dieser irdischen Bescherung.
Mütterchen Heimat! wie die Russen sagen, die so weich das Herz streichelnde Worte haben, als hätten Kinder sie erfunden; Mütterchen Heimat! Wie schön war der Tag, als ich zum letztenmal hinaufstieg auf den Berg, der mir als Kind ebenso unerreichbar schien wie der Chimborasso: erst durch feuchte, reifgraue Wiesen, an Kohlgärten und Kartoffelfeldern vorbei, wo Feuer knisterten und der weiße Rauch rein und bitter in die Luft schwelte. Vor mir die Höhen, braunviolett, schon entlaubt, nur hie und da, am Waldrand, eine Buche, aufflammend wie der Engel mit feurigem Schwert.
Die Birnbäume in den Wiesen – o ihr guten Holzbirnchen, die ihr den Mund zusammenzieht und doch süß seid unter eurer Herbigkeit – ließen ihre roten Blätter fallen, die schmalen Wasserrinnen im Grase trugen sie fort mit leisem Gluckgluck; Karren, mit Rüben beladen, kamen des Wegs, die kleinen kurzbeinigen Kühe dampften in der Herbstluft, rötlich und weiß, mit nassen rosa Schnuten und faltigen Wampen, blondbewimpert wie Rubenssche Göttinnen. Dann tat sich der Wald auf und sein Wohlgeruch war wie ein Rausch. An der Erde, an den Abhängen, auf allen Pfaden lag das Laub, fußhoch; Leute harkten es herunter von den Hängen, soweit man durch die Stämme sah; zu hohen Haufen türmten sie's, der Duft von Pilzen und Erde und Gärung wurde immer stärker. Das wären Raschelnester gewesen für kleine Waldgötter mit Zottelbeinchen, sich darin einzuwühlen, bis nur die spitzen, bepelzten Ohren heraussahen; aber nun sollten die kleinen blonden Kühe darauf liegen, im Winter, in den warmen, dunstigen Ställen, wenn der Laternenschein über den Schnee huscht und der Rauch vom Dache aufsteigt, zum Zeichen, daß dort Menschen wohnen.
Der kleine Pfad war ganz schlüpfrig von den Blättern, immer höher zickzackte er; hier war nur junger Buchenbestand, glatte Stämme in grauer Atlashaut, ihnen zu Füßen der rostrote Teppich – und ein Sonnenstrahl ging vor mir her. Ganz droben begann wieder der Tannen Reich, ihre Wurzeln deckte Moos und Sauerklee, und Brombeeren wucherten da, die im Schatten grün geblieben; noch ein paar Schritte, und vor mir stand der plumpe, runde Turm. 1837 war über seiner Tür eingemeißelt, und ich sah sie hier wandeln, Mamas mit Krinolinen und komischen Sonnenschirmchen, wie man sie auf Porzellanvasen vor Königsschlössern wandeln sieht, und Papas in schachbrettartigen Beinkleidern, mit erstickenden Halsbinden und grauen Zylinderhüten; und die artigen Kinder erst! Wie die Bilder in »les petites filles modèles«, mit Pamelahüten und gestickten Höschen, mit Reifen und roten Luftballons! Der Turmwart kam und erzählte, daß sein Großvater der erste Turmwart gewesen. Er wohnte noch in demselben strohgedeckten kleinfenstrigen Häuschen, und seine dicke Frau kam und rief zu Kaffee und Zwetschgenkuchen. In der Küche war aufgetischt, und dort lief eine alte, zutrauliche Hasenmutter herum, deren dunkles Fell wie von Rauhreif übersilbert war, das schnuppernde Näschen und die glatten Hängeohren aber kohlschwarzer Spiegelsamt. Sie war's gewöhnt, auf den Schoß genommen zu werden, man reichte sie herum wie eine Wärmflasche, und dann trank sie Milchkaffee aus der Untertasse, wie ein Christenmensch! Dann ging der Turmwart auf den Turm, und ich sah ihn in der düstern Wendeltreppe verschwinden, wo an den Balken die Fledermäuse schon im Winterschlaf hingen, zusammengerollt wie alte schwarze Glacéhandschuhe.
Alte Städtchen, an Bergen gelegen, haben in ihren Ausläufern halbländliche Wege und Gassen, die die Kirche, den Markt und die Schule mit den bäuerlichen Anwesen, den Wiesen und Äckern verbinden. Durch solche Wege kam ich herunter, im Nebel, an Werkstätten und Holzplätzen und fließenden Brünnchen vorüber, die in diesem quellenreichen Land durch eiserne Schlangenköpfchen in verwitterte Tröge rauschen, eiskalt mit einem Moosgeschmack vom Walde her. »Hähnchen und Hühnchen wollten zusammen auf den Nußberg« – so geht das Märchen an, das unvergeßliche; und durch solche Wege und Gäßchen sind Hähnchen und Hühnchen gewiß auch gekommen. Die Laternen schimmerten dunstig, Gaslaternen, die ein buckliges Männchen anzündete. Kleine, altväterische Häuser standen hinter Holzstaketen; in den niederen Stuben, hinter Geranien und Fuchsien kam Licht durch die Scheiben; nun saßen drin die Menschen beim Kartoffelsalat und tranken gelben Landwein aus dicken, grünlichen Gläsern dazu. Auch unsere Waschfrau wohnte da; in ihrer geblümten Kattunjacke, die Brille auf der Nase, wie eine kleine, aufmerksame Eule, stand sie und bügelte bei der himmelblauen Lampe. Ihr Kätzchen kam aus dem Gebüsch und lief eine Weile vor mir her mit kleinen, lockenden Turteltaubentönen. Alles war so heimlich, so lockend, die goldenen Ritzen in den Läden, der Schein, der über die Schwellen glitt, Laternen an Gartentoren, wo hohe Bäume Unverständliches rauschten, und die Stimme des Kätzchens, das sich im Dunkeln an mir rieb, sobald ich stille stand; alles, als müßt es mir etwas sagen.
Weiter unten, wo die reichen Leute wohnen, wird gebaut und eingerissen; wo einst Wiesen waren mit großen Margueriten und Zittergras und alle Gräben voll himmlischen Vergißmeinnichts, da steht jetzt Haus an Haus, die Häuser groß und die Gärten klein ... früher war's umgekehrt. Und so vieles fand ich nicht mehr. Feine, einstöckige Häuser mit geschweiften, silbernen Schieferdächern, nach der Straße waren Mauern, von Efeu überhangen, aber dahinter wußte man – da war ein alter Garten, voll Platanen und rauschender Silberpappeln und Azaleengebüsch, die Wege ganz vermoost, und braune Schnecken krochen drüber hin – la limace – le limaçon lernte ich, die eine hat ein Schneckenhaus und die andere nicht – ja, wo ist das alles hin? Muttergotteshäuschen mit Bänken, damit die armen Frauen ihre Körbe absetzen und ein wenig verschnaufen konnten ... Da war auch sonst ein kleiner, schattiger Friedhof; nicht der berühmte alte am Berghang, nein, ein ganz kleiner, noch älterer, abseits, im Tal; im Frühling voll Jasminduft und Finkengesang, im Herbst rostbraun vom Blätterfall und von zutraulichen Amseln bevölkert, der gab Kunde von denen, die von hier nicht mehr heimgekehrt sind. Hier lagen sie aus aller Herren Ländern, sogar unter russischen Kreuzen mit ihren Schrägbalken und unverständlichen Inschriften; aber manchmal waren sie ins Französische übersetzt und kündeten, daß da ein Chevalier de l'Ordre de Saint André von seinem hoffentlich verdienstvollen Leben ausruhte, oder ein armer junger Dmitri, eine sanfte Hélène, ravie à ses parents inconsolables à l'âge de dixneuf ans, sich hier zu Tode gehustet hatten. Denn Davos und Arosa waren damals noch nicht erfunden, und aus weiter Ferne kamen sie angereist, denen der Tod seine Rosen auf die Wangen geküßt hatte, und mußten dableiben, weil ihre Kraft sie verließ. »Sacred to the memory of Anne, the dearly beloved wife ... aged twentytwo ...« Eine schöne, breitschulterige Muttergottes, die einen rechten Königsmantel von Efeu trug, hütete den Eingang und sagte: Fürchtet Euch nicht. Kinder spielten zwischen den Gräbern, alte Großmütter saßen dort und strickten ... Ja, das ist nun verschwunden und vieles ist neu und fremd geworden, und es ist wie mit geliebten Menschen, die sich verändert haben; man liebt sie noch – ach Gott, Liebe hat ja wohl auch neun Leben wie die Katzen – aber man wird ihrer nicht mehr froh.
Aber droben am Waldrand ist noch vieles geblieben wie es war; es riecht wie damals nach Erde und Moos und schwelendem Kartoffelkraut, und der Umriß der Hügel ist derselbe, über denen die Sterne stehen, so altbekannt – die ewig geheimnisvolle, goldene Schrift ... Die Augen füllen sich mit Tränen, seid ihr's, bist du's? Und man wittert in die Luft wie ein Jagdhund, der den Dunst seines Herrn erkennt. Die Karren kehren heim aus dem Wald, mit Laubstreu hochbeladen, all das Laub, das im Frühling seine spitzen, seidigen Knospen aufgetan, mit dem Wind gestichelt hatte, dankbar der Sonne, dem Leben. Nun ist es vermodert und wird die Erde düngen, wird geben, nachdem es genommen.
Mütterchen Heimat, sanft gehst du um mit deinen Kindern. Hier ist Laubstreu für deine Erde!
Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Buchende an den Buchanfang verschoben.
Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.
Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen (z. B. Gerda – Gerta), mit folgenden Ausnahmen,
Seite 33:
";" eingefügt
(seit sie ihm gesagt, Emmo käme her;)
Seite 36:
"," eingefügt
(die Welt gewiß nicht gewinnen, aber um ihre Seele sorgte)
Seite 58:
"deratige" geändert in "derartige"
(er liebte derartige Beschäftigungen über die Maßen)
Seite 59:
"Intensivkul ur" geändert in "Intensivkultur"
(immer nur zu zweien, so 'ne Intensivkultur)
Seite 94:
"«," geändert in ",«"
(»Der Arme,« sagte sie)
Seite 112:
"«," geändert in ",«"
(»Nun wollen wir uns einwintern,« sagte Tante.)
Seite 114:
"«," geändert in ",«"
(,« sagte Madame Benoît mit Grabesstimme)
Seite 130:
"in" geändert in "ein"
(das eigentlich Unkorrekte durch ein gewisses Dekorum)
Seite 136:
Absatz eingefügt vor "»Wie"
(»Wie ging das zu?« frug der Prinz)
Seite 140:
"," hinter "nein, nein" eingefügt
(»Ach nein, nein,« sagte sie)
Seite 155:
"." entfernt hinter "Mond"
(heraufstarrten zum Mond wie Seelen)
Seite 155:
".." geändert in "..."
(mehr erhellen kann ... dort ging die Frau)
Seite 168:
"dielen" geändert in "diesen"
(aus diesen Produkten des ancien régime hoffte er)
Seite 178:
"," eingefügt
(die Kinder gehören der Mutter, doch nur so lange)
Seite 183:
"gänglich" geändert in "gänzlich"
(Sie sind hier gänzlich deplaciert)
Seite 197:
"," hinter "dem" entfernt
(dankbar der Sonne, dem Leben)
Seite 197:
"," eingefügt
(und wird die Erde düngen,)