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H. C. Andersens Märchen

Die Nachtigall
Die kleine Seejungfrau
Der Reisekamerad

von
H. C. Andersen

Mit Zeichnungen
von
Alfred Kubin

Im Verlag von Bruno Cassirer, Berlin
1922

Die Nachtigall

In China, weißt du wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich her hat, sind auch Chinesen. Es ist nun viele Jahre her, aber eben deshalb ist es der Mühe wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird! Des Kaisers Schloß war das prächtigste in der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, sehr kostbar, aber so spröde, so mißlich, daran zu rühren, daß man sich sehr in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die prächtigsten waren Silberglocken gebunden, welche klangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausspekuliert. Und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende desselben nicht kannte. Ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, welches blau und tief war, große Schiffe konnten bis unter die Zweige der Bäume hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der noch viel anderes zu tun hatte, still hielt und horchte, wenn er des Nachts ausgefahren war, um das Fischnetz auszuwerfen und dann die Nachtigall hörte. „Ach Gott, wie ist das schön!“ sagte er, aber er mußte auf seine Sachen acht geben und vergaß dabei den Vogel. Doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer dorthin kam, sagte derselbe: „Ach Gott, wie ist das schön!“

Aus allen Ländern der Welt kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten diese, das Schloß und den Garten. Doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: „Das ist doch das beste!“

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten. Aber auch die Nachtigall vergaßen sie nicht: die wurde am höchsten gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Die Bücher durchliefen die Welt, und einige davon kamen auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhle und las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn es freute ihn, die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens zu vernehmen. „Aber die Nachtigall ist doch das allerbeste!“ stand da geschrieben.

„Was ist das?“ sagte der Kaiser. „Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört! So etwas erst aus Büchern zu erfahren!“

Und hierauf rief er seinen Kavalier. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer als er war, mit ihm zu sprechen oder ihn nach etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: „P!“ und „das hat nichts zu bedeuten“.

„Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, welcher Nachtigall genannt wird!“ sagte der Kaiser. „Man sagt, dies sei das allerbeste in meinem großen Reiche. Weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?“

„Ich habe ihn früher nie nennen hören!“ sagte der Kavalier. „Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!“

„Ich will, daß er heute abend herkommen und vor mir singen soll!“ sagte der Kaiser. „Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!“

„Ich habe ihn früher nie nennen hören!“ sagte der Kavalier. „Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!“ —

Aber wo war der zu finden? Der Kavalier lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, aber keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Kavalier lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sein müßte, die da Bücher schrieben. „Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was alles geschrieben wird! Das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt.“

„Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe,“ sagte der Kaiser, „ist mir von dem großmächtigsten Kaiser von Japan gesandt, und es kann also keine Unwahrheit sein, ich will die Nachtigall hören! Sie muß heute abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem ganzen Hofe auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!“

„Tsing pe!“ sagte der Kavalier und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge, und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt sein. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, welche die ganze Welt kannte, nur niemand bei Hofe.

Endlich trafen sie ein armes, kleines Mädchen in der Küche. Die sagte: „O Gott, die Nachtigall kenne ich gut, ja, wie kann sie singen! Jeden Abend habe ich Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter Überbleibsel vom Tische nach Hause zu tragen; sie wohnt unten am Strand, und wenn ich zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, dann höre ich die Nachtigall singen! Es kommen mir dabei die Tränen in die Augen, und es ist, als ob meine Mutter mich küßte!“

„Kleine Köchin!“ sagte der Kavalier, „ich werde dir eine Anstellung in der Küche und die Erlaubnis verschaffen, den Kaiser speisen zu sehen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst, denn sie ist zu heute abend angesagt.“

Und so zogen sie alle hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte, der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.

„Oh!“ sagten die Hofjunker, „nun haben wir sie! Das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!“

„Nein, das sind Kühe, welche so brüllen!“ sagte die kleine Köchin. „Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!“

Nun quakten die Frösche im Sumpfe.

„Herrlich!“ sagte der chinesische Hofprediger. „Nun höre ich sie; es klingt gerade wie kleine Kirchenglocken.“

„Nein, das sind Frösche!“ sagte die kleine Köchin. „Aber nun denke ich, werden wir sie bald hören!“

Da begann die Nachtigall zu schlagen.

„Das ist sie!“ sagte das kleine Mädchen. „Hört! Hört! Da sitzt sie!“ Und sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.

„Ist es möglich!“ sagte der Kavalier. „So hätte ich sie mir nimmer gedacht! Wie sie einfach aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!“

„Kleine Nachtigall!“ rief die kleine Köchin laut, „unser gnädigster Kaiser wünscht, daß Sie vor ihm singen!“

„Mit dem größten Vergnügen!“ sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.

„Es klingt gerade wie Glasglocken!“ sagte der Kavalier. „Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gehört haben! Sie wird großen Succès bei Hofe machen!“

„Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?“ fragte die Nachtigall, welche glaubte, der Kaiser sei auch da.

„Meine vortreffliche kleine Nachtigall!“ sagte der Kavalier, „ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo Sie Dero hohe kaiserliche Gnaden mit ihrem charmanten Gesange bezaubern werden!“

„Der hört sich am besten im Grünen an!“ sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß es der Kaiser wünschte.

Auf dem Schlosse war tüchtig aufgeputzt. Die Wände und der Fußboden, welche von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend Goldlampen; die prächtigsten Blumen, welche recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Das war ein Laufen und ein Zugwind, und alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Mitten in den großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stecken gestellt, auf diesem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Putz, und alle sahen nach dem kleinen grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.

Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten und ihm über die Wangen herniederliefen, da sang die Nachtigall noch schöner: das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war so froh, daß er sagte, die Nachtigall sollte seinen goldenen Pantoffel um den Hals zu tragen bekommen. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.

„Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz! Eines Kaisers Tränen haben eine besondere Kraft! Gott weiß es, ich bin genug belohnt.“ Darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.

„Das ist die liebenswürdigste Koketterie, die ich kenne!“ sagten die Damen rings umher, und dann nahmen sie Wasser in den Mund um zu glucken, wenn jemand mit ihnen spräche. Sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Lakaien und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien; das will viel sagen, denn die sind am schwersten zu befriedigen. Kurz, die Nachtigall machte wahrlich Glück.

Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihr eigenes Bauer und die Freiheit haben, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie bekam dann zwölf Diener mit, welche ihr alle ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, an dem sie sie recht fest hielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei einem solchen Ausfluge.

Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, so sagte der eine nichts anders als: „Nacht!“ — und der andere sagte: „gall!“ Und dann seufzten sie und verstanden einander. Ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle. —

Eines Tages erhielt der Kaiser ein großes Paket, worauf geschrieben stand: „Die Nachtigall.“

„Da haben wir nun ein neues Buch über unsern berühmten Vogel!“ sagte der Kaiser. Aber es war kein Buch, sondern ein kleines Kunstwerk, welches in einer Schachtel lag: eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, allein überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den Kunstvogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche Vogel sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder, und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, darauf stand geschrieben: „Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China.“

„Das ist herrlich!“ sagten alle, und der, welcher den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Ober-Nachtigallbringer.

„Nun müssen sie zusammen singen, was wird das für ein Duett werden.“

Und so mußten sie zusammen singen, aber es wollte nicht recht passen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. „Der hat keine Schuld,“ sagte der Spielmeister, „der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!“ Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück als der wirkliche, und dann war er ja viel niedlicher anzusehen: er glänzte wie Armbänder und Busennadeln.

Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde. Die Leute hätten ihn gern wieder aufs neue gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen sollte. — — Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster zu ihren grünen Wäldern fortgeflogen war.

„Aber was ist denn das?“ sagte der Kaiser. Und alle Hofleute schalten und weinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. „Den besten Vogel haben wir doch!“ sagten sie, und so mußte denn der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigstemal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen. Sie konnten es dessenungeachtet doch nicht auswendig, es war gar zu schwer. Und der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich; ja, er versicherte, daß er besser wie eine Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die herrlichen Diamanten beträfe, sondern auch innerlich.

„Denn sehen sie, meine Herren, der Kaiser vor allen! bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt! Man kann es erklären, man kann ihn öffnen und dem Menschen begreiflich machen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen, und wie das eine aus dem andern folgt!“

„Das sind auch unsere Gedanken!“ sagten alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntage den Vogel dem Volke vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser. Und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich in Tee berauscht hätte, denn das ist chinesisch; da sagten alle: „Oh!“ und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Die armen Fischer jedoch, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: „Das klingt hübsch genug, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, ich weiß nicht was!“

Die wirkliche Nachtigall wurde aus dem Lande und Reiche verwiesen.

Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem Seidenkissen, dicht bei des Kaisers Bette. Alle die Geschenke, welche er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem „Hochkaiserlichen Nachttisch-Sänger“ gestiegen, im Range bis Nummer eins zur linken Seite. Denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und so lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie hätten es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und wären auf den Leib getrampelt worden.

So ging es ein ganzes Jahr. Der Kaiser, der Hof und alle die andern Chinesen konnten jeden Gluck in des Kunstvogels Gesange auswendig. Aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten: sie konnten selbst mitsingen, und das taten sie auch. Die Straßenbuben sangen: „Zizizi! Gluckgluckgluck!“ und der Kaiser sang es ebenfalls. Ja, das war gewiß prächtig!

Eines Abends jedoch, als der Kunstvogel am besten sang, und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es inwendig im Vogel „Schwupp“. Da sprang etwas! „Schnurr!“ alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.

Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen, aber was konnte der helfen! Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen bekam er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es wäre unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher ginge. Nun war eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war schon fast zu viel. Aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede voll inhaltsschwerer Worte und sagte, daß es ebensogut sei, wie früher; dann war es ebensogut, wie früher.

Jetzt waren fünf Jahre vergangen, und das Land bekam eine große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde alle auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht lange mehr leben, sagte man.

Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Kavalier, wie es ihrem alten Kaiser ginge.

„P!“ sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.

Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bette; der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder von ihnen lief hin, den neuen Kaiser zu begrüßen. Die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu schwatzen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in alle Säle und Gänge war Tuch gelegt, damit man keinen Fußtritt vernehme, und deshalb war es da still, ganz still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette, mit den langen Samtgardinen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster offen, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.

Der arme Kaiser konnte kaum atmen; es war, als ob etwas auf seiner Brust säße, er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod sei, der auf seiner Brust saß und sich seine goldene Krone aufgesetzt hatte und in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne hielt. Und ringsumher aus den Falten der großen, samtnen Bettgardinen sahen wunderbare Köpfe hervor: einige häßlich, andere lieblich und mild. Das waren alle des Kaisers böse und gute Taten, welche ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.

„Entsinnest du dich dieses?“ flüsterte einer nach dem andern. „Erinnerst du dich dessen?“ Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

„Das habe ich nicht gewußt!“ sagte der Kaiser. „Musik! Musik! die große chinesische Trommel!“ rief er, „damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!“

Und sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde.

„Musik! Musik!“ schrie der Kaiser. „Du kleiner herrlicher Goldvogel! Singe doch, singe! Ich habe dir ja Gold und Kostbarkeiten gegeben; ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!“

Der Vogel aber stand still, es war niemand da, ihn aufzuziehen, und sonst sang er nicht, aber der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, hohlen Augen anzustarren, und still war es, schrecklich still!

Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang: es war die kleine, lebende Nachtigall, welche auf einem Zweige draußen saß. Sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen. Und wie sie sang, wurden die Gespenster immer bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: „Fahre fort, kleine Nachtigall! fahre fort!“

„Ja, willst du mir den prächtigen goldenen Säbel geben? Willst du mir die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?“

Und der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr noch fort zu singen; sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet, und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.

„Dank, Dank!“ sagte der Kaiser. „Du himmlischer kleiner Vogel! Ich kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reiche gejagt! Und doch hast du die bösen Gesichter von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?“

„Du hast mich belohnt!“ sagte die Nachtigall. „Ich habe deinen Augen Tränen entlockt, als ich das erstemal sang: das vergesse ich nie! Das sind Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen! Aber schlafe nun und werde wieder frisch und stark! Ich werde dir etwas vorsingen!“

Und sie sang — und der Kaiser fiel in einen süßen Schlummer. Ach! wie mild und wohltuend war der Schlaf!

Die Sonne schien durch die Fenster zu ihm herein, als er gestärkt und gesund erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt, denn sie glaubten, er sei tot, nur die Nachtigall saß noch bei ihm und sang.

„Immer mußt du bei mir bleiben!“ sagte der Kaiser. „Du sollst nun singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.“

„Tue das nicht!“ sagte die Nachtigall. „Der hat ja Gutes getan, so lange er konnte! Behalte ihn wie bisher! Ich kann im Schlosse nicht mein Nest bauen und bewohnen, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe; da will ich des Abends auf dem Zweige dort beim Fenster sitzen und dir etwas vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich! Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden! Ich werde vom Bösen und vom Guten singen, was rings um dich her verborgen bleibt! Der kleine Singvogel fliegt weit umher, zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist! Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligtum um sich! — Ich komme, ich singe dir etwas vor! — Aber eins mußt du mir versprechen.“ —

— „Alles!“ sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er selbst angelegt hatte, und drückte den Säbel, welcher schwer von Gold war, an sein Herz.

„Um eins bitte ich dich! Erzähle niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!“

Da flog die Nachtigall fort.

Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen — — ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: „Guten Morgen!“

Die kleine Seejungfer

Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.

Nun muß man aber nicht glauben, daß da nur der nackte, weiße Sandboden sei, nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiele und in den Blättern sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, als ob sie lebten. Alle kleinen und großen Fische schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch wie hier oben die Vögel durch die Bäume. An der tiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß; die Mauern sind von Korallen und die langen Spitzbogenfenster vom klarsten Bernstein, aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem das Wasser strömt. Es sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen, eine einzige davon würde großen Wert in der Krone einer Königin haben.

Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer, während seine alte Mutter bei ihm wirtschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die andern Vornehmen aber durften nur sechs tragen. — Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel auf die kleinen Meerprinzessinnen, ihre Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen, ihre Haut so klar und so fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber ebenso wie die andern hatte sie keine Füße, der Körper endete in einen Fischschwanz.

Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse spielen, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir die Fenster aufmachen; doch die Fische schwammen zu den Prinzessinnen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.

Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelbraunen Blumen, die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Über dem Ganzen lag ein eigentümlich blauer Schein; man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grunde des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken, sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelche alles Licht strömte.

Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Platz im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches, einer andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweibe gleiche, aber die jüngste machte den ihrigen rund, der Sonne gleich, und hatte Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein sonderbares Kind, still und nachdenkend, und wenn die andern Schwestern mit den merkwürdigsten Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, prunkten, wollte sie außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, nur eine hübsche Marmorstatue haben. Dies war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Steine gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei der Statue eine rosenrote Trauerweide, die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über derselben, gegen den blauen Sandboden herunter, wo der Schatten sich violett zeigte und gleich den Zweigen in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln miteinander spielten, als wollten sie sich küssen.

Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt zu hören; die Großmutter mußte alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Tieren wußte, erzählen, hauptsächlich erschien ihr besonders schön, daß oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das taten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und daß die Wälder grün wären, und daß die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickte, laut und herrlich singen könnten, daß es eine Lust sei. Es waren die kleinen Vögel, welche die Großmutter Fische nannte, denn sonst konnten sie sich nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel gesehen hatten.

„Wenn ihr euer fünfzehntes Jahr erreicht habt,“ sagte die Großmutter, „dann sollt ihr die Erlaubnis erhalten, aus dem Meere emporzutauchen, im Mondenscheine auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe vorbeisegeln zu sehen. Wälder und Städte werdet ihr dann erblicken!“ In dem kommenden Jahre war die eine der Schwestern fünfzehn Jahre alt, aber von den andern war die eine immer ein Jahr jünger als die andere; die jüngste von ihnen hatte demnach noch volle fünf Jahre zu warten, bevor sie von dem Grunde des Meeres hinaufkommen und sehen konnte, wie es bei uns aussehe. Aber die eine versprach der andern, zu erzählen, was sie erblickt und was sie am ersten Tage am schönsten gefunden habe, denn ihre Großmutter erzählte ihnen nicht genug, da war so vieles, worüber sie Auskunft haben wollten.

Keine war sehnsüchtiger als die jüngste, gerade sie, die noch die längste Zeit zu warten hatte und die stets still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasser empor, wie die Fische mit ihren Flossen und Schwänzen plätscherten. Mond und Sterne konnte sie sehen, freilich schienen diese ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie größer aus als vor unsern Augen. Zog dann etwas, einer schwarzen Wolke gleich, unter ihr hin, so wußte sie, daß es entweder ein Walfisch sei, der über ihr schwamm, oder ein Schiff mit vielen Menschen; die dachten sicher nicht daran, daß eine leibliche, kleine Seejungfer unten stehe und ihre weißen Hände gegen den Kiel emporstreckte.

Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte über die Meeresfläche emporsteigen.

Als sie zurückkam, hatte sie Hunderterlei zu erzählen, aber das Schönste, sagte sie, sei, im Mondenschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen und die nahgelegene Küste mit der großen Stadt zu betrachten, wo die Lichter gleich hundert Sternen blinken, die Musik, das Lärmen und Toben von Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchtürme zu sehen und das Läuten der Glocken zu vernehmen.

Oh! wie horchte die jüngste Schwester auf, und wenn sie später abends am offenen Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser emporblickte, gedachte sie der großen Stadt mit dem Lärmen und Toben, dann glaubte sie, die Kirchenglocken bis zu sich herunter läuten hören zu können.

Im folgenden Jahre erhielt die zweite Schwester die Erlaubnis, aus dem Wasser emporzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wolle. Sie tauchte auf, als die Sonne unterging, und dieser Anblick, fand sie, sei das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, und die Schönheit der Wolken konnte sie nicht genug beschreiben! Rot und violett waren sie über ihr dahingesegelt, aber weit schneller als diese flog einem langen weißen Schleier gleich ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwamm derselben entgegen, aber die Sonne sank, und der Rosenschein erlosch auf der Meeresfläche und in den Wolken.

Das Jahr darauf kam die dritte Schwester hinauf. Sie war die dreisteste von allen, deshalb schwamm sie einen breiten Fluß, der in das Meer mündete, aufwärts. Herrliche, grüne Hügel mit Weinranken erblickte sie, Schlösser und Burgen schimmerten aus prächtigen Wäldern hervor, sie hörte, wie alle Vögel sangen, und die Sonne schien so warm, daß sie oft unter das Wasser tauchen mußte, um ihr brennendes Antlitz abzukühlen. In einer kleinen Bucht traf sie einen Schwarm kleiner Menschenkinder. Diese waren völlig nackt und plätscherten im Wasser, sie wollte mit ihnen spielen, aber die flohen erschrocken davon, und es kam ein kleines, schwarzes Tier, ein Hund — aber sie hatte nie einen Hund gesehen — der bellte sie so schrecklich an, daß sie ängstlich die offene See zu erreichen suchte. Doch nie konnte sie die prächtigen Wälder, die grünen Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasser schwimmen konnten, obgleich sie keinen Fischschwanz hatten.

Die vierte Schwester war nicht so dreist, sie blieb draußen im wilden Meer und erzählte, daß es dort am schönsten sei! Man sieht ringsumher viele Meilen weit, und der Himmel stehe wie eine Glasglocke darüber. Schiffe hatte sie gesehen, aber nur aus weiter Ferne, die sahen wie Möwen aus; die possierlichen Delphine hatten Purzelbäume geschlagen, und die großen Walfische aus ihren Nasenlöchern Wasser emporgespritzt, so daß es ausgesehen hatte, wie Hunderte von Springbrunnen ringsumher.

Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester, ihr Geburtstag war im Winter, und deshalb erblickte sie, was die andern das erstemal nicht gesehen hatten. Die See sah ganz grün aus, und rings umher schwammen große Eisberge, ein jeder erschien wie eine Perle, sagte sie, und war doch weit größer als die Kirchtürme, welche die Menschen bauen. Sie zeigten sich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der größten gesetzt, und alle Segler kreuzten erschrocken draußen herum, wo sie saß und den Wind mit ihren langen Haaren spielen ließ, aber gegen Abend wurde der Himmel mit Wolken überzogen, es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie im roten Blitze erglänzen ließ. Auf allen Schiffen reffte man die Segel ein, da war eine Angst und ein Grauen. Aber sie saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sah die blauen Blitzstrahlen im Zickzack in die schimmernde See fahren.

Das erstemal, wenn eine der Schwestern über das Wasser emporkam, war eine jede entzückt über das Neue und Schöne, was sie erblickte, aber da sie nun als erwachsene Mädchen die Erlaubnis hatten, hinaufzusteigen, wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig. Sie sehnten sich wieder zurück, und nach Verlauf eines Monats sagten sie, daß es unten bei ihnen am schönsten sei, da sei man so hübsch zu Hause.

In mancher Abendstunde faßten die fünf Schwestern einander an den Armen und stiegen in einer Reihe über das Wasser auf, herrliche Stimmen hatten sie, schöner denn irgendein Mensch, und wenn dann ein Sturm im Anzuge war, so daß sie vermuten konnten, es würden Schiffe untergehen, schwammen sie vor den Schiffen her und sangen so lieblich, wie schön es auf dem Grunde des Meeres sei, und baten die Seeleute, sich nicht zu fürchten, da hinunterzukommen. Aber die konnten die Worte nicht verstehen und glaubten, es sei der Sturm, sie bekamen auch die Herrlichkeit dort unten nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, so ertranken die Menschen und kamen als Leichen zu des Meerkönigs Schlosse.

Wenn die Schwestern so des Abends, Arm in Arm, hoch durch das Wasser hinaufstiegen, dann stand die kleinste Schwester allein und sah ihnen nach, und es war ihr, als ob sie weinen müßte, aber die Seejungfer hat keine Tränen, und darum leidet sie weit mehr.

„Ach, wäre ich doch fünfzehn Jahre alt!“ sagte sie. „Ich weiß, daß ich die Welt dort oben und die Menschen, die darauf wohnen und hausen, recht lieben werde.“

Endlich war sie denn fünfzehn Jahre alt.

„Sieh, nun bist du erwachsen!“ sagte die Großmutter, die alte Königswitwe. „Komm nun, laß mich dich schmücken, gleich deinen andern Schwestern!“ Sie setzte ihr einen Kranz weißer Lilien auf das Haar, aber jedes Blatt in der Blume war die Hälfte einer Perle, und die Alte ließ acht große Austern im Schweife der Prinzessin sich festklemmen, um ihren hohen Rang zu zeigen.

„Das tut so weh!“ sagte die kleine Seejungfer.

„Ja, Hoffart muß Zwang leiden!“ sagte die Alte.

Oh, sie hätte so gern alle diese Pracht abschütteln und den schweren Kranz ablegen mögen, ihre roten Blumen im Garten kleideten sie besser, aber sie konnte es nun nicht ändern. „Lebt wohl!“ sprach sie, und sie stieg dann leicht und klar gleich einer Blase aus dem Wasser auf.

Die Sonne war eben untergegangen, als sie den Kopf über das Wasser erhob, aber alle Wolken glänzten noch wie Rosen und Gold und inmitten der bleichroten Luft strahlte der Abendstern so hell und schön, die Luft war mild und frisch und das Meer ruhig. Da lag ein großes Schiff mit drei Masten, nur ein einziges Segel war aufgezogen, denn es regte sich kein Lüftchen, und ringsumher im Tauwerk und auf den Rahen saßen die Matrosen. Da war Musik und Gesang, und als es dunkelte, wurden Hunderte von bunten Laternen angezündet, die sahen aus, als ob aller Nationen Flaggen in der Luft wehten. Die kleine Seejungfer schwamm bis zum Kajütenfenster, und jedesmal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelhellen Fensterscheiben hineinblicken, wo viele geputzte Menschen standen. Aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen, schwarzen Augen, er war sicher nicht viel über sechzehn Jahre alt, es war sein Geburtstag, und deshalb herrschte all diese Pracht. Die Matrosen tanzten auf dem Verdecke, und als der junge Prinz hinaustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft, die leuchteten wie der helle Tag, so daß die kleine Seejungfer schon erschrak und unter das Wasser tauchte, aber sie streckte bald den Kopf wieder hervor, und da war es, als ob alle Sterne des Himmels zu ihr herunterfielen. Nie hatte sie solche Feuerkünste gesehen! Große Sonnen sprühten umher, prächtige Feuerfische flogen in die blaue Luft, und alles spiegelte sich in der klaren, stillen See. Auf dem Schiffe selbst war es so hell, daß man jedes kleine Tau, wie viel mehr also die Menschen sehen konnte. Oh, wie schön war doch der junge Prinz, er drückte den Leuten die Hand und lächelte, während die Musik in der herrlichen Nacht erklang.

Es wurde spät, aber die kleine Seejungfer konnte ihre Augen nicht von dem Schiffe und vom schönen Prinzen wegwenden. Die bunten Laternen wurden ausgelöscht, Raketen stiegen nicht mehr in die Höhe, es ertönten auch keine Kanonenschüsse mehr, aber tief unten im Meere summte und brummte es, inzwischen saß sie auf dem Wasser und schaukelte auf und nieder, so daß sie in die Kajüte hineinblicken konnte. Aber das Schiff bekam mehr Fahrt, ein Segel nach dem andern breitete sich aus, nun gingen die Wogen stärker, große Wolken zogen auf, es blitzte in der Ferne. Oh, es wird ein böses Wetter werden! Deshalb zogen die Matrosen die Segel ein. Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See, das Wasser erhob sich wie große schwarze Berge, die über die Masten rollen wollten, aber das Schiff tauchte wie ein Schwan zwischen den hohen Wogen nieder und ließ sich wieder auf die hochgetürmten Wasser heben. Der kleinen Seejungfer dünkte es eine recht lustige Fahrt zu sein, aber so erschien es den Seeleuten nicht, das Schiff knackte und krachte, die dicken Planken bogen sich bei den starken Stößen, die See stürzte in das Schiff hinein, der Mast brach mitten durch, als ob es ein Rohr wäre, und das Schiff legte sich auf die Seite, während das Wasser in den Raum eindrang. Nun sah die kleine Seejungfer, daß sie in Gefahr waren, sie mußte sich selbst vor den Balken und Stücken vom Schiffe, die auf dem Wasser trieben, in acht nehmen. Einen Augenblick war es so finster, daß sie nicht das mindeste sah, aber wenn es dann blitzte, wurde es wieder so hell, daß sie alle auf dem Schiffe erkennen konnte, besonders suchte sie den jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff sich teilte, in das tiefe Meer versinken. Sogleich wurde sie ganz vergnügt, denn nun kam er zu ihr hinunter. Aber da gedachte sie, daß die Menschen nicht im Wasser leben können, und daß er nicht anders als tot zum Schlosse ihres Vaters hinunter gelangen könnte. Nein, sterben durfte er nicht, deshalb schwamm sie hin zwischen Balken und Planken, die auf der See trieben und vergaß völlig, daß diese sie hätten zerquetschen können. Sie tauchte tief unter das Wasser und stieg wieder hoch zwischen den Wogen empor und gelangte am Ende so zu dem Prinzen hin, der nicht länger in der stürmischen See schwimmen konnte. Seine Arme und Beine begannen zu ermatten, die schönen Augen schlossen sich, er hätte sterben müssen, wäre die kleine Seejungfer nicht herzugekommen. Sie hielt seinen Kopf über das Wasser empor und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten.

Am Morgen war das böse Wetter vorüber, von dem Schiffe war kein Span zu erblicken, die Sonne stieg rot und glänzend aus dem Wasser empor, es war, als ob des Prinzen Wangen Leben dadurch erhielten, aber die Augen blieben geschlossen. Die Seejungfer küßte seine hohe, schöne Stirn und strich sein nasses Haar zurück, er kam ihr vor wie die Marmorstatue in ihrem kleinen Garten, sie küßte ihn wieder und wünschte, daß er lebte.

Nun erblickte sie vor sich das feste Land, hohe, blaue Berge, auf deren Gipfeln der weiße Schnee glänzte, als wären es Schwäne, die dort lägen. Unten an der Küste waren herrliche, grüne Wälder, und vorn lag eine Kirche oder ein Kloster, das wußte sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Zitronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor dem Tore standen hohe Palmen. Die See bildete hier eine kleine Bucht, da war sie still, aber sehr tief. Gerade auf die Klippe zu, wo der weiße, feine Sand aufgespült war, schwamm sie mit dem schönen Prinzen, legte ihn in den Sand, sorgte aber besonders dafür, daß der Kopf hoch im warmen Sonnenscheine lag.

Nun läuteten alle Glocken in dem großen, weißen Gebäude, und es kamen viele junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfer weiter hinaus hinter einige große Steine, die aus dem Wasser hervorragten, legte Seeschaum auf ihr Haar und ihre Brust, so daß niemand ihr kleines Gesicht sehen konnte, und dann paßte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.

Es währte nicht lange, da kam ein junges Mädchen dorthin, sie schien sehr zu erschrecken, aber nur einen Augenblick, dann holte sie mehrere Menschen, und die Seejungfer sah, daß der Prinz zum Leben zurückkam und daß er alle anlächelte. Aber ihr lächelte er nicht zu, er wußte ja auch nicht, daß sie ihn gerettet hatte, sie war sehr betrübt, und als er in das große Gebäude hineingeführt wurde, tauchte sie traurig unter das Wasser und kehrte zum Schlosse ihres Vaters zurück.

Immer war sie still und nachdenkend gewesen, aber nun wurde sie es noch weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erstemal dort oben gesehen habe, aber sie erzählte nichts.

Manchen Abend und Morgen stieg sie hinauf, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah, wie die Früchte des Gartens reiften und abgepflückt wurden, sie sah, wie der Schnee auf den hohen Bergen schmolz, aber den Prinzen erblickte sie nicht, und deshalb kehrte sie immer betrübter heim. Da war es ihr einziger Trost, in ihrem kleinen Garten zu sitzen und die Arme um die schöne Marmorstatue zu schlingen, die dem Prinzen glich, aber ihre Blumen pflegte sie nicht, die wuchsen wie in einer Wildnis über die Gänge hinaus und flochten ihre langen Stiele und Blätter in die Zweige der Bäume hinein, so daß es dort dunkel war.

Zuletzt konnte sie es nicht länger aushalten, sondern sagte es einer ihrer Schwestern, und gleich erfuhren es die andern, aber niemand weiter als diese und einige andere Seejungfern, die es nur ihren nächsten Freundinnen weiter sagten. Eine von ihnen wußte, wer der Prinz war, sie hatte auch das Fest auf dem Schiffe gesehen und gab an, woher er war und wo sein Königreich lag.

„Komm, kleine Schwester!“ sagten die andern Prinzessinnen und sich umschlungen haltend, stiegen sie in einer langen Reihe aus dem Meere empor, wo sie wußten, daß des Prinzen Schloß lag.

Dieses war aus einer hellgelben, glänzenden Steinart aufgeführt, mit großen Marmortreppen, deren eine in das Meer hinunterreichte. Prächtig vergoldete Kuppeln erhoben sich über das Dach, und zwischen den Säulen um das ganze Gebäude herum standen Marmorbilder, die aussahen, als lebten sie. Durch das klare Glas in den hohen Fenstern blickte man in die prächtigen Säle hinein, wo köstliche Seidengardinen und Teppiche aufgehängt und alle Wände mit großen Gemälden verziert waren, so daß es ein wahres Vergnügen war, es zu betrachten. Mitten in dem größten Saale plätscherte ein großer Springbrunnen, seine Strahlen reichten hoch hinauf gegen die Glaskuppel in der Decke, durch welche die Sonne auf das Wasser und die schönen Pflanzen schien, die im großen Bassin wuchsen.

Nun wußte sie, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend und manche Nacht auf dem Wasser. Sie schwamm dem Lande weit näher, als eine der andern es gewagt hätte, ja, sie ging den schmalen Kanal hinauf, unter den prächtigen Marmoraltan, welcher einen großen Schatten über das Wasser warf. Hier saß sie und betrachtete den jungen Prinzen, der da glaubte, er sei ganz allein in dem hellen Mondschein.

Sie sah ihn manchen Abend mit Musik in seinem prächtigen Boote segeln, auf dem Flaggen wehten; sie lauschte durch das grüne Schilf hervor, und ergriff der Wind ihren langen silberweißen Schleier, und sah jemand ihn, so glaubte er, es sei ein Schwan, der die Flügel ausbreite.

Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf der See waren, viel Gutes von dem jungen Prinzen erzählen, und es freute sie, daß sie sein Leben gerettet hatte, als er halbtot auf den Wogen umhertrieb, sie dachte daran, wie fest sein Haupt auf ihrem Busen geruht, und wie herzlich sie ihn da geküßt hatte, er aber wußte nichts davon und konnte nicht einmal von ihr träumen.

Mehr und mehr fing sie an, die Menschen zu lieben, mehr und mehr wünschte sie, unter ihnen umherwandeln zu können, deren Welt ihr weit großer zu sein schien als die ihrige. Sie konnten ja auf Schiffen über das Meer fliegen, auf den hohen Bergen über die Wolken emporsteigen, und die Länder, die sie besaßen, erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als ihre Blicke reichten. Da war so vieles, was sie zu wissen wünschte: aber die Schwestern wußten ihr nicht alles zu beantworten, deshalb fragte sie die Großmutter, diese kannte die höhere Welt recht gut, die sie sehr richtig die Länder über dem Meere nannte.

„Wenn die Menschen nicht ertrinken,“ fragte die kleine Seejungfer, „können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, wie wir hier unten im Meere?“

„Ja,“ sagte die Alte, „sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufhören, hier zu sein, so werden wir nur in Schaum auf dem Wasser verwandelt, haben nicht einmal ein Grab hier unten unter unsern Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, wir erhalten nie wieder Leben, wir sind gleich dem grünen Schilfe, ist das einmal durchgeschnitten, so kann es nicht wieder grünen! Die Menschen hingegen haben eine Seele, die ewig lebt, die noch lebt, nachdem der Körper zur Erde geworden ist, sie steigt durch die klare Luft empor, hinauf zu den glänzenden Sternen! So wie wir aus dem Wasser auftauchen und die Länder der Welt erblicken, so steigen sie zu unbekannten, herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehen bekommen.“

„Weshalb bekamen wir keine unsterbliche Seele?“ fragte die kleine Seejungfer betrübt. „Ich möchte meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag Mensch zu sein und dann hoffen zu können, Anteil an der himmlischen Welt zu haben.“

„Daran darfst du nicht denken!“ sagte die Alte. „Wir fühlen uns weit glücklicher und besser wie die Menschen dort oben!“

„Ich werde also sterben und als Schaum auf dem Meere treiben, nicht die Musik der Wogen hören, die schönen Blumen und die rote Sonne sehen? Kann ich denn gar nichts tun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?“ —

„Nein!“ sagte die Alte. „Nur wenn ein Mensch dich so lieben würde, daß du ihm mehr als Vater und Mutter wärest, wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an dir hinge und den Prediger seine rechte Hand in die deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, legen ließe, dann flösse seine Seele in deinen Körper über, und auch du erhieltest Anteil an der Glückseligkeit der Menschen. Er gäbe dir Seele und behielte doch seine eigene. Aber das kann nie geschehen! Was hier im Meere schön ist, dein Fischschwanz, finden sie dort auf der Erde häßlich; sie verstehen es eben nicht besser, man muß dort zwei plumpe Stützen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!“

Da seufzte die kleine Seejungfer und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.

„Laß uns froh sein,“ sagte die Alte, „hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben, das ist wahrlich lang genug, später kann man sich um so besser ausruhen. Heute abend werden wir Hofball haben!“

Das war auch eine Pracht, wie man sie nie auf Erden erblickt. Die Wände und die Decke des großen Tanzsaales waren von dickem, aber durchsichtigem Glase. Mehrere hundert kolossale Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen zu jeder Seite in Reihen mit einem blau brennenden Feuer, welches den ganzen Saal erleuchtete und durch die Wände hindurchschien, so daß die See draußen erleuchtet war, man konnte die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen, auf einigen glänzten die Schuppen purpurrot, auf andern erschienen sie wie Silber und Gold. — Mitten durch den Saal floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihrem eigenen, lieblichen Gesange. So schöne Stimmen haben die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von ihnen allen, und der ganze Hof applaudierte mit Händen und Schwänzen, und einen Augenblick fühlte sie eine Freude in ihrem Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen auf der Erde und im Meere hatte! Aber bald gedachte sie wieder der Welt über sich; sie konnte den hübschen Prinzen und ihren Kummer, daß sie keine unsterbliche Seele wie er besitze, nicht vergessen. Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schlosse hinaus, und während alles drinnen Gesang und Frohsinn war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser ertönen und dachte: „Nun segelt er sicher dort oben, an dem meine Sinne hangen und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen, um ihn und eine unsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort in meines Vaters Schlosse tanzen, will ich zur Meerhexe gehen, vor der mir immer so bange gewesen ist, aber sie kann vielleicht raten und helfen!“

Nun ging die kleine Seejungfer aus ihrem Garten hinaus nach den brausenden Strudeln, hinter denen die Hexe wohnte. Den Weg hatte sie früher nie zurückgelegt. Da wuchsen keine Blumen, kein Seegras, nur der nackte, graue Sandboden erstreckte sich gegen den Strudel hin, wo das Wasser gleich brausenden Mühlrädern herumwirbelte und alles, was er erfaßte, mit sich in die Tiefe riß. Mitten zwischen diesen zermalmenden Wirbeln mußte sie hindurch, um in das Bereich der Meerhexe zu gelangen: und hier war eine lange Strecke kein anderer Weg als über warmen, sprudelnden Schlamm, diesen nannte die Hexe ihren Torfmoor. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde, alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Tier und halb Pflanze, sie sahen aus wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde hervorwuchsen; alle Zweige waren lange, schleimige Arme mit Fingern wie geschmeidige Würmer, und Glied vor Glied bewegte sich, von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles, was sie im Meere erfassen konnten, umschlangen sie fest und ließen es nie wieder fahren. Die kleine Seejungfer blieb vor demselben ganz erschrocken stehen. Ihr Herz pochte vor Furcht, fast wäre sie umgekehrt, aber da dachte sie an den Prinzen und an die Seele der Menschen, und nun bekam sie Mut. Ihr langes, fliegendes Haar band sie fest um das Haupt, damit die Polypen sie nicht daran ergreifen möchten, beide Hände legte sie über ihrer Brust zusammen und schoß so dahin, wie nur der Fisch durch das Wasser schießen kann, immer zwischen den häßlichen Polypen hindurch, die ihre geschmeidigen Arme und Finger hinter ihr her streckten. Sie sah, wie jeder von ihnen etwas, was er ergriffen hatte, mit Hunderten von kleinen Armen hielt. Menschen, die auf der See umgekommen und tief hinunter gesunken waren, sahen wie weiße Gerippe aus der Polypen Arme hervor. Schiffsruder und Kisten hielten sie fest, auch Skelette von Landtieren und ein kleines Meerweib, welches sie gefangen und erstickt hatten: das war ihr das Schrecklichste.

Nun kam sie zu einem großen, sumpfigen Platze im Walde, wo große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren häßlichen, weißgelben Bauch zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus von weißen Knochen ertrunkener Menschen errichtet, da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte aus ihrem Munde fressen, wie die Menschen einem kleinen Kanarienvogel Zucker zu essen geben. Die häßlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küchlein und ließ sie sich auf ihrer großen schwammigen Brust wälzen.

„Ich weiß schon, was du willst!“ sagte die Meerhexe. „Es ist zwar dumm von dir, doch sollst du deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern deinen Fischschwanz los sein und statt dessen zwei Stützen wie die Menschen zum Gehen haben, damit der junge Prinz sich in dich verliebt und du ihn und eine unsterbliche Seele erhalten kannst!“ Dabei lachte die Hexe laut und widerlich, so daß die Kröte und die Schlangen auf die Erde fielen, wo sie sich wälzten. „Du kommst gerade zur rechten Zeit,“ sagte die Hexe, „morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich dir nicht helfen, bis wieder ein Jahr um wäre. Ich werde dir einen Trank bereiten, mit dem mußt du, bevor die Sonne aufgeht, nach dem Lande schwimmen, dich dort ans Ufer setzen und ihn trinken! dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zu dem, was die Menschen niedliche Beine nennen, zusammen, aber es tut weh; es ist, als ob ein scharfes Schwert dich durchdränge. Alle, die dich sehen, werden sagen, du seiest das schönste Menschenkind, das sie gesehen hätten. Du behältst deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann sich so leicht bewegen wie du, aber jeder Schritt, den du machst, ist, als ob du auf scharfe Messer trätest, als ob dein Blut fließen müßte. Willst du alles dieses leiden, so werde ich dir helfen!“

„Ja!“ sagte die kleine Seejungfer mit bebender Stimme, und gedachte des Prinzen und der unsterblichen Seele.

„Aber bedenke,“ sagte die Hexe, „hast du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfer werden! Du kannst nie durch das Wasser zu deinen Schwestern und zum Schlosse deines Vaters zurück, und gewinnst du des Prinzen Liebe nicht so, daß er um deinetwillen Vater und Mutter vergißt, an dir mit Leib und Seele hängt und den Priester eure Hände ineinander legen läßt, daß ihr Mann und Frau werdet, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er mit einer andern verheiratet ist, wird dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.“

„Ich will es“, sagte die kleine Seejungfer und war bleich wie der Tod.

„Aber mich mußt du auch bezahlen!“ sagte die Hexe, „und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von allen hier auf dem Grunde des Meeres, damit glaubst du wohl, ihn bezaubern zu können, aber die Stimme mußt du mir geben. Das beste, was du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben! Mein eigen Blut muß ich dir ja geben, damit der Trank scharf wird wie ein zweischneidig Schwert!“

„Aber wenn du meine Stimme nimmst,“ sagte die kleine Seejungfer, „was bleibt mir dann übrig?“

„Deine schöne Gestalt,“ sagte die Hexe, „dein schwebender Gang und deine sprechenden Augen, damit kannst du schon ein Menschenherz betören. Nun, hast du den Mut verloren? Strecke deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie an Zahlungs Statt ab, und du erhältst den kräftigen Trank!“

„Es geschehe!“ sagte die kleine Seejungfer, und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. „Reinlichkeit ist eine schöne Sache!“ sagte sie und scheuerte den Kessel mit den Schlangen ab, die sie zu einem langen Knoten band, dann ritzte sie selbst die Brust und ließ ihr schwarzes Blut hineintröpfeln. Der Dampf bildete die sonderbarsten Gestalten, so daß einem angst und bange werden mußte. Jeden Augenblick warf die Hexe neue Sachen in den Kessel, und als er kochte, war es, als ob ein Krokodil weinte. Endlich war der Trank fertig, er sah wie das klarste Wasser aus.

„Da hast du ihn!“ sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfer die Zunge ab, die nun stumm war und weder singen noch sprechen konnte.

„Sollten die Polypen dich ergreifen, wenn du durch meinen Wald zurückgehst,“ sagte die Hexe, „so wirf nur einen einzigen Tropfen dieses Getränkes auf sie, davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!“ Aber das brauchte die kleine Seejungfer nicht zu tun, die Polypen zogen sich erschrocken zurück, da sie den glänzenden Trank erblickten, der in ihrer Hand leuchtete, als sei er ein funkelnder Stern. So kam sie schnell durch den Wald, das Moor und die brausenden Strudel.

Sie konnte ihres Vaters Schloß sehen, die Fackeln waren in dem großen Tanzsaale erloschen, sie schliefen sicher alle drinnen, aber sie wagte doch nicht, sie aufzusuchen, jetzt da sie stumm war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Trauer zerspringen sollte. Sie schlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeete ihrer Schwestern, warf Tausende von Kußhändchen dem Schlosse zu und stieg durch die dunkelblaue See hinauf.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die breite Marmortreppe hinaufstieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfer trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ging ein zweischneidiges Schwert durch ihren feinen Körper, sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie tot da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz, aber gerade vor ihr stand der schöne junge Prinz, er heftete seine schwarzen Augen auf sie, so daß sie die ihrigen niederschlug und wahrnahm, daß ihr Fischschwanz fort war und sie die niedlichsten weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann. Aber sie war nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr langes Haar ein. Der Prinz fragte, wer sie sei und wie sie hierher gekommen wäre, und sie sah ihn mild und doch gar betrübt mit ihren dunkelblauen Augen an, sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloß hinein. Jeder Schritt, den sie tat, war, wie die Hexe im voraus gesagt hatte, als trete sie auf spitze Nadeln und Messer, aber das ertrug sie gern; an des Prinzen Hand schritt sie so leicht einher wie eine Seifenblase, und er sowie alle wunderten sich über ihren lieblichen, schwebenden Gang.

Sie bekam nun herrliche Kleider von Seide und Musselin anzuziehen, im Schlosse war sie die Schönste von allen, aber sie war stumm, konnte weder singen noch sprechen. Herrliche Sklavinnen, in Seide und Gold gekleidet, traten auf und sangen vor dem Prinzen und seinen königlichen Eltern, die eine sang schöner als alle andern, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte sie an. Da wurde die kleine Seejungfer betrübt, sie wußte, daß sie selbst weit schöner gesungen hatte und dachte: „Oh, er sollte nur wissen, daß ich, um bei ihm zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit hingegeben habe.“

Nun tanzten die Sklavinnen niedliche, schwebende Tänze zur herrlichsten Musik, da erhob die kleine Seejungfer ihre schönen, weißen Arme, richtete sich auf den Fußspitzen auf und schwebte tanzend über den Fußboden hin, wie noch keine getanzt hatte. Bei jeder Bewegung wurde ihre Schönheit noch sichtbarer, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen als der Gesang der Sklavinnen.

Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte mehr und mehr, obwohl es ihr jedesmal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, daß sie immer bei ihm bleiben solle, und sie erhielt die Erlaubnis, vor seiner Tür auf einem Sammetkissen zu schlafen.

Er ließ ihr eine Männertracht machen, damit sie ihn zu Pferde begleiten könne. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die grünen Zweige ihre Schultern berührten und die Vögel hinter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf, und obgleich ihre zarten Füße bluteten, daß selbst die andern es sehen konnten, lachte sie doch darüber und folgte ihm, bis sie die Wolken unter sich segeln sahen, als wäre es ein Schwarm Vögel, die nach fremden Ländern ziehen.

Daheim in des Prinzen Schlosse, wenn nachts die andern schliefen, ging sie auf die breite Marmortreppe hinaus, es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Seewasser zu stehen, und dann gedachte sie derer dort unten in der Tiefe.

Einmal des Nachts kamen ihre Schwestern Arm in Arm, traurig sangen sie, indem sie über dem Wasser schwammen, sie winkte ihnen und sie erkannten sie und erzählten ihr, wie sehr sie alle betrübt seien. Darauf besuchte sie dieselben in jeder Nacht, und einmal erblickte sie weit draußen ihre alte Großmutter, die seit vielen Jahren nicht über der Meeresfläche gewesen war, und den Meerkönig mit seiner Krone auf dem Haupte, sie streckten die Hände nach ihr aus, wagten sich aber dem Lande nicht so nahe wie die Schwestern.

Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber, er liebte sie, wie man ein gutes, liebes Kind liebt — aber sie zu seiner Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn, und seine Frau mußte sie doch werden, sonst erhielt sie keine unsterbliche Seele und mußte an seinem Hochzeitsmorgen zu Schaum auf dem Meere werden.

„Liebst du mich nicht am meisten von ihnen allen?“ schienen der kleinen Seejungfer Augen zu fragen, wenn er sie in seine Arme nahm und ihre schöne Stirn küßte.

„Ja, du bist mir die liebste“, sagte der Prinz, „denn du hast das beste Herz von allen. Du bist mir am meisten ergeben, und gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah, aber sicher nie wiederfinde. Ich war auf einem Schiffe, welches strandete, die Wellen warfen mich bei einem heiligen Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen den Dienst verrichteten, die jüngste dort fand mich am Ufer und rettete mein Leben, ich sah sie nur zweimal, sie wäre die einzige, die ich in dieser Welt lieben könnte, aber du gleichst ihr und du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele. Sie gehört dem heiligen Tempel an, und deshalb hat mein gutes Glück dich mir gesendet, nie wollen wir uns trennen!“

„Ach, er weiß nicht, daß ich sein Leben gerettet habe!“ dachte die kleine Seejungfer, „ich trug ihn über das Meer zum Walde hin, wo der Tempel steht, ich saß hier hinter dem Schaume und sah, ob keine Menschen kommen würden. Ich sah das hübsche Mädchen, die er mehr liebt als mich!“ sie seufzte tief: weinen konnte sie nicht. „Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt, sie kommt nie in die Welt hinaus, sie begegnen sich nicht mehr, ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag, ich will ihn pflegen, lieben, ihm mein Leben opfern!“

Aber nun sollte der Prinz sich verheiraten und des Nachbarkönigs schöne Tochter zur Frau bekommen, erzählte man, deshalb rüstete er ein so prächtiges Schiff aus. Der Prinz reist, um des Nachbarkönigs Länder zu besichtigen, so heißt es wohl, aber es geschieht, um des Nachbarkönigs Tochter zu sehen. Ein großes Gefolge soll ihn begleiten. Die kleine Seejungfer schüttelte das Haupt und lächelte; sie kannte des Prinzen Gedanken weit besser, als alle andern. „Ich muß reisen!“ hatte er zu ihr gesagt, „ich muß die schöne Prinzessin sehen: meine Eltern verlangen es, aber sie wollen mich nicht zwingen, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie nicht lieben! Sie gleicht nicht dem schönen Mädchen im Tempel, dem du ähnelst, sollte ich eine Braut wählen, so würdest du es eher sein, mein stummes Findelkind mit den sprechenden Augen!“ Und er küßte ihren roten Mund, spielte mit ihrem langen Haare und legte sein Haupt an ihr Herz, so daß dieses von Menschenglück und einer unsterblichen Seele träumte.

„Du fürchtest doch das Meer nicht, mein stummes Kind?“ sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen, welches ihn nach den Ländern des Nachbarkönigs führen sollte, er erzählte ihr vom Sturme und von der Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe und von dem, was die Taucher dort gesehen, und sie lächelte bei seiner Erzählung, sie wußte ja besser als sonst jemand, was auf dem Grunde des Meeres vorging.

In der mondhellen Nacht, wenn alle schliefen, bis auf den Steuermann, der am Steuerruder stand, saß sie am Bord des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinunter, sie glaubte ihres Vaters Schloß zu erblicken, hoch oben stand die Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupte und starrte durch die reißenden Ströme zu des Schiffes Kiel empor. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser hervor und schauten sie traurig an und rangen ihre weißen Hände, sie winkte ihnen, lächelte und wollte erzählen, daß es ihr gut und glücklich ginge, aber der Schiffsjunge näherte sich ihr und die Schwestern tauchten unter, so daß er glaubte, das Weiße, was er gesehen, sei Schaum auf der See gewesen.

Am nächsten Morgen segelte das Schiff in den Hafen von des Nachbarkönigs prächtiger Stadt. Alle Kirchenglocken läuteten und von den hohen Türmen wurden die Posaunen geblasen, während die Soldaten mit fliegenden Fahnen und blitzenden Bajonetten dastanden. Jeder Tag führte ein Fest mit sich. Bälle und Gesellschaften folgten einander, aber die Prinzessin war noch nicht da; sie werde, weit von hier entfernt, in einem heiligen Tempel erzogen, sagten sie, dort lerne sie alle königlichen Tugenden. Endlich traf sie ein.

Die kleine Seejungfer war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie mußte solche anerkennen: eine lieblichere Erscheinung hatte sie noch nie gesehen. Die Haut war fein und klar, und hinter den langen dunklen Augenwimpern lächelten ein Paar schwarzblaue, treue Augen.

„Du bist die!“ sagte der Prinz, „die mich gerettet hat, als ich einer Leiche gleich an der Küste lag!“ Und er drückte seine errötende Braut in seine Arme. „Oh, ich bin allzu glücklich!“ sagte er zur kleinen Seejungfer. „Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst dich über mein Glück freuen, denn du meinst es am besten mit mir von ihnen allen!“ Und die kleine Seejungfer küßte seine Hand, und es kam ihr schon vor, als fühlte sie ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen würde ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meere verwandeln.

Alle Kirchenglocken läuteten, die Herolde ritten in den Straßen umher und verkündeten die Verlobung. Auf allen Altären brannte duftendes Öl in köstlichen Silberlampen. Die Priester schwangen die Rauchfässer, und Braut und Bräutigam reichten einander die Hand und erhielten den Segen des Bischofs. Die kleine Seejungfer war in Seide und Gold gekleidet und hielt die Schleppe der Braut, aber ihre Ohren hörten die festliche Musik nicht, ihr Auge sah die heilige Zeremonie nicht, sie gedachte ihrer Todesnacht und alles dessen, was sie in dieser Welt verloren hatte.

Noch an demselben Abende gingen die Braut und der Bräutigam an Bord des Schiffes, die Kanonen donnerten, alle Flaggen wehten, und mitten auf dem Schiffe war ein köstliches Zelt von Gold und Purpur und mit den schönsten Kissen errichtet, da sollte das Brautpaar in der kühlen, stillen Nacht schlafen!

Die Segel schwellten im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See dahin.

Als es dunkelte, wurden bunte Lampen angezündet, und die Seeleute tanzten lustig auf dem Verdecke. Die kleine Seejungfer mußte ihres ersten Auftauchens aus dem Meere gedenken, wo sie dieselbe Pracht und Freude erblickt hatte, und sie wirbelte sich mit im Tanze, schwebte, wie eine Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird, und alle jubelten ihr Bewunderung zu: nie hatte sie so herrlich getanzt. Es schnitt ihr wie scharfe Messer in die zarten Füße, aber sie fühlte es nicht: es schnitt ihr noch schmerzlicher durch das Herz. Sie wußte, es sei der letzte Abend, an dem sie ihn erblickte, für den sie ihre Verwandten und ihre Heimat verlassen, ihre schöne Stimme dahingegeben und täglich unendliche Qualen ertragen hatte, ohne daß er es mit einem Gedanken ahnte. Es war die letzte Nacht, daß sie dieselbe Luft mit ihm einatmete, das tiefe Meer und den sternhellen Himmel erblickte; eine ewige Nacht ohne Gedanken und Traum harrte ihrer, die keine Seele hatte, keine Seele gewinnen konnte. Und alles war Freude und Heiterkeit auf dem Schiffe bis über Mitternacht hinaus, sie lachte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der Prinz küßte seine schöne Braut, und sie spielte mit seinem schwarzen Haare, und Arm in Arm gingen sie zur Ruhe in das prächtige Zelt.

Es wurde still auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand am Steuerruder, die kleine Seejungfer legte ihre weißen Arme auf den Schiffsbord und blickte gen Osten nach der Morgenröte: der erste Sonnenstrahl, wußte sie, würde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern der Flut entsteigen, die waren bleich wie sie; ihr langes schönes Haar wehte nicht mehr im Winde, es war abgeschnitten.

„Wir haben es der Hexe gegeben, um dir Hilfe bringen zu können, damit du diese Nacht nicht stirbst. Sie hat uns ein Messer gegeben, hier ist es! Siehst du, wie scharf? Bevor die Sonne aufgeht, mußt du es in das Herz des Prinzen stoßen, und wenn dann das warme Blut auf deine Füße spritzt, so wachsen diese in einen Fischschwanz zusammen und du wirst wieder eine Seejungfer, kannst zu uns herabsteigen und lebst deine dreihundert Jahre, bevor du zu totem, salzigem Seeschaume wirst. Beeile dich! Er oder du muß sterben, bevor die Sonne aufgeht! Unsere Großmutter trauert so, daß ihr weißes Haar wie das unsrige unter der Schere der Hexe gefallen ist. Töte den Prinzen und komm zurück! Beeile dich! Siehst du den roten Streifen am Himmel? In wenigen Minuten steigt die Sonne auf, dann mußt du sterben!“ Und sie stießen einen tiefen Seufzer aus und versanken in den Wogen.

Die kleine Seejungfer zog den Purpurteppich vom Zelte und sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen, und sie bog sich nieder, küßte ihn auf seine schöne Stirn, blickte gen Himmel, wo die Morgenröte mehr und mehr leuchtete, betrachtete das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traume seine Braut bei Namen nannte. Nur sie war in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Hand der Seejungfer. — Aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen, sie glänzten rot, wo es hinfiel, es sah aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.

Nun stieg die Sonne aus dem Meere auf, die Strahlen fielen so mild und warm auf den kalten Meeresschaum, und die kleine Seejungfer fühlte nichts vom Tode. Sie sah die helle Sonne, und über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen, sie konnte durch dieselben des Schiffes weiße Segel und des Himmels rote Wolken erblicken, ihre Sprache war melodisch, aber so geisterhaft, daß kein menschliches Ohr sie vernehmen, ebenso wie kein irdisches Auge sie erblicken konnte, ohne Schwingen schwebten sie vermittelst ihrer eigenen Leichtigkeit durch die Luft. Die kleine Seejungfer sah, daß sie einen Körper hatte wie diese, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.

„Wo komm ich hin?“ fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der andern Wesen, so geisterhaft, daß keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.

„Zu den Töchtern der Luft!“ erwiderten die andern. „Die Seejungfer hat keine unsterbliche Seele und kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt, von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir fliegen nach den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft den Menschen tötet, dort fächeln wir Kühlung. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil am ewigen Glücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfer hast mit ganzem Herzen nach demselben wie wir gestrebt; du hast gelitten und geduldet, hast dich zur Luftgeisterwelt erhoben und kannst nun dir selbst durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen.“

Und die kleine Seejungfer erhob ihre verklärten Augen gegen Gottes Sonne, und zum ersten Male fühlte sie Tränen in ihren Augen. — Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen, wehmütig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüßten, daß sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsichtbar küßte sie die Stirn der Braut, fächelte den Prinzen an und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke hinauf, welche den Äther durchschiffte.

„Nach dreihundert Jahren schweben wir so in das Reich Gottes hinein!“

„Auch können wir noch früher dahin gelangen!“ flüsterte eine Tochter der Luft. „Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen hinein, wo Kinder sind, und für jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, welches seinen Eltern Freude bereitet und deren Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Das Kind weiß nicht, wann wir durch die Stube fliegen und müssen wir aus Freude über dasselbe lächeln, so wird ein Jahr von den dreihundert Jahren abgerechnet, sehen wir aber ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Tränen der Trauer vergießen, und jede Träne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!“

Der Reisekamerad

Der arme Johannes war tief betrübt, denn sein Vater war sehr krank und konnte nicht genesen. Außer den beiden war durchaus niemand in dem kleinen Zimmer: die Lampe auf dem Tische war dem Erlöschen nahe, und es war spät abends.

„Du warst ein guter Sohn, Johannes!“ sagte der kranke Vater. „Der liebe Gott wird dir schon in der Welt forthelfen!“ Er sah ihn mit ernsten, milden Augen an, holte tief Atem und starb; es war, als ob er schliefe. Johannes weinte, nun hatte er niemanden in der Welt, weder Vater noch Mutter, weder Schwester noch Bruder. Der arme Johannes! Er lag vor dem Bette auf seinen Knien, küßte des toten Vaters Hand und weinte sehr viele bittere Tränen, aber zuletzt schlossen sich seine Augen, und er schlief ein, mit dem Kopfe auf dem harten Bettpfosten liegend.

Da träumte er einen sonderbaren Traum, er sah, wie Sonne und Mond sich vor ihm neigten, er erblickte seinen Vater wieder frisch und gesund und hörte ihn lachen, wie er immer lachte, wenn er recht froh war. Ein schönes Mädchen mit einer goldenen Krone auf ihrem langen, glänzenden Haare reichte ihm die Hand, und sein Vater sagte: „Siehst du, was für eine Braut du erhalten hast? Sie ist die schönste in der Welt.“ Da erwachte er und alle Herrlichkeit war vorbei, sein Vater lag tot und kalt im Bette, es war niemand bei ihnen. Der arme Johannes!

In der folgenden Woche wurde der Tote begraben, der Sohn ging dicht hinter dem Sarge her und konnte nun den guten Vater nicht mehr zu sehen bekommen, der ihn so sehr geliebt hatte. Er hörte, wie sie die Erde auf den Sarg hinunterwarfen und sah noch die letzte Ecke desselben, aber nach der nächsten Schaufel Erde, welche hinabgeworfen wurde, war auch die verschwunden, da war es, als wolle sein Herz in Stücke zerspringen, so betrübt war er. Ringsherum sangen sie einen Psalm; es waren schöne, heilige Klänge, und die Tränen traten dem Johannes in die Augen, er weinte, und das tat ihm in seiner Trauer wohl. Die Sonne beschien herrlich die grünen Bäume, als wolle sie sagen: „Du darfst nicht mehr betrübt sein, Johannes! Siehst du, wie schön der Himmel ist? Dort oben ist nun dein Vater und bittet den lieben Gott, daß es dir allezeit wohl ergehen möge!“

„Ich will auch immer gut sein,“ sagte Johannes, „dann komme ich in den Himmel zu meinem Vater, und was wird das für eine Freude werden, wenn wir einander wiedersehen! Wieviel werde ich ihm dann nicht erzählen können, und er wird mir so viele Dinge zeigen, mir die Herrlichkeit des Himmels erklären, ebenso wie er mich hier auf Erden unterrichtete. Oh, was für eine Freude wird das werden!“

Er dachte sich das so deutlich, daß er dabei lächelte, während die Tränen ihm noch über die Wangen liefen. Die kleinen Vögel saßen oben in den Kastanienbäumen und zwitscherten: „Quivit, Quivit!“ Sie waren froh und munter, obgleich sie mit bei dem Begräbnisse gewesen: aber sie wußten wohl, daß der tote Mann nun im Himmel wäre, Flügel hätte, schöner und größer als die ihrigen, daß er nun glücklich sei, weil er hier auf Erden gut gewesen, und darüber waren sie vergnügt. Johannes sah, wie sie von den grünen Bäumen weit in die Welt hinausflogen, da bekam er auch Lust, mitzufliegen. Aber zuerst schnitt er ein großes Holzkreuz, um es auf seines Vaters Grab zu setzen, und als er es am Abend dahin brachte, war das Grab mit Sand und Blumen geschmückt, das hatten fremde Leute getan, denn sie hielten alle viel von dem lieben Vater, der nun tot war.

Früh am nächsten Morgen packte Johannes sein kleines Bündel zusammen und verwahrte in seinem Gürtel sein ganzes Erbteil, welches fünfzig Taler und ein paar Silberschillinge betrug, damit wollte er in die Welt hinaus wandern. Aber zuerst ging er nach dem Kirchhofe zu seines Vaters Grabe, betete ein Vaterunser und sagte: „Lebe wohl!“

Draußen auf dem Felde, wo er ging, standen alle Blumen frisch und schön in dem warmen Sonnenscheine, sie nickten im Winde, als wollten sie sagen: „Willkommen im Grünen! Ist es hier nicht schön?“ Aber Johannes wendete sich noch einmal zurück, um die alte Kirche zu betrachten, in der er als ein kleines Kind getauft und wo er jeden Sonntag mit seinem Vater zum Gottesdienst gewesen war und seinen Psalm gesungen hatte; da sah er hoch oben in einer der Öffnungen des Turmes den Kirchenkobold mit seiner kleinen, roten, spitzen Mütze stehen, wie er sein Gesicht mit dem gebogenen Arme beschattete, da ihm sonst die Sonne in die Augen schien. Johannes nickte ihm Lebewohl zu, und der kleine Kobold schwenkte seine rote Mütze, legte die Hand auf das Herz und warf ihm viele Kußhändchen zu, um zu zeigen, wie gut er es mit ihm meine, und daß er ihm eine recht glückliche Reise wünsche.

Johannes dachte daran, wie viel Schönes er nun in der großen, prächtigen Welt zu sehen bekommen würde und ging weiter und weiter fort, so weit wie er früher nie gewesen war. Er kannte die Orte nicht, durch die er kam, oder die Menschen, denen er begegnete. — Nun war er weit draußen in der Fremde.

Die erste Nacht mußte er sich auf einem Heuschober auf dem Felde schlafen legen, ein anderes Bett hatte er nicht. Aber das war recht hübsch, meinte er, der König könnte es nicht besser haben. Das ganze Feld mit dem Bache, der Heuschober und dann der blaue Himmel darüber, das war gewiß eine schöne Schlafkammer. Das grüne Gras mit den kleinen, roten und weißen Blumen war die Fußdecke, die Fliederbüsche und die wilden Rosenhecken waren Blumensträuße, und zum Waschbecken diente ihm der ganze Bach mit dem klaren, frischen Wasser, wo das Schilf sich neigte und ihm guten Abend und guten Morgen bot. Der Mond war wahrhaft eine große Nachtlampe, hoch oben unter der blauen Decke, und der zündete die Gardinen nicht an mit seinem Feuer, Johannes konnte ruhig schlafen, und er tat es auch und erwachte erst wieder, als die Sonne aufging und alle die kleinen Vögel rings umher sangen: „Guten Morgen! Guten Morgen! Bist du noch nicht auf?“

Die Glocken läuteten zur Kirche! es war Sonntag. Die Leute gingen hin, den Prediger zu hören, und Johannes folgte ihnen, sang einen Psalm und hörte Gottes Wort. Es war ihm, als wäre er in seiner eigenen Kirche, in der er getauft worden war, und wo er Psalmen mit seinem Vater gesungen hatte.

Draußen auf dem Kirchhofe waren viele Gräber und auf einigen wuchs hohes Gras. Da dachte er an seines Vaters Grab, welches am Ende auch so aussehen würde wie diese, da er es nicht jäten und schmücken konnte. Er setzte sich also nieder und riß das Gras ab, richtete die Holzkreuze auf, welche umgefallen waren und legte die Kränze, die der Wind vom Grabe fortgerissen hatte, wieder auf ihre Stelle, indem er dachte: vielleicht tut jemand dasselbe an meines Vaters Grabe, da ich es nicht tun kann!

Draußen vor der Kirchhofstüre stand ein alter Bettler und stützte sich auf seine Krücke. Johannes gab ihm die Silberschillinge, die er hatte, und ging dann glücklich und vergnügt weiter fort in die weite Welt hinein.

Gegen Abend war ein schrecklich böses Wetter, er sputete sich, unter Dach und Fach zu gelangen, aber es wurde bald finstere Nacht, da erreichte er endlich eine kleine Kirche, die einsam auf einem kleinen Hügel lag.

„Hier will ich mich in einen Winkel setzen!“ sagte er und ging hinein. „Ich bin ermüdet und habe es wohl nötig, ein wenig auszuruhen.“ Dann setzte er sich nieder, faltete seine Hände und betete sein Abendgebet, und ehe er es wußte, schlief und träumte er, während es draußen blitzte und donnerte.

Als er wieder erwachte, war es Mitternacht, das böse Wetter war vorübergezogen und der Mond schien durch die Fenster zu ihm herein. Mitten in der Kirche stand ein offener Sarg mit einem toten Manne darin, weil er noch nicht begraben war. Johannes war durchaus nicht furchtsam, denn er hatte ein gutes Gewissen, und er wußte wohl, daß die Toten niemandem etwas zuleide tun. Die Lebenden, die Übles tun, sind böse Menschen. Solche zwei lebende, schlimme Leute standen dicht bei dem toten Manne, der hier in der Kirche beigesetzt war, bevor er beerdigt wurde, ihm wollten sie Übles erweisen, ihn nicht in seinem Sarge liegen lassen, sondern ihn vor die Kirchtüre hinauswerfen, den armen, toten Mann!

„Weshalb wollt ihr das tun?“ fragte Johannes. „Das ist böse und schlimm, laßt ihn in Jesu Namen ruhen!“

„Oh, Schnickschnack!“ sagten die beiden häßlichen Menschen. „Er hat uns angeführt! Er schuldet uns Geld: das konnte er nicht bezahlen, und nun ist er obendrein tot, nun bekommen wir vollends keinen Pfennig! Deshalb wollen wir uns rächen: er soll wie ein Hund draußen vor der Kirchtür liegen!“

„Ich habe nicht mehr als fünfzig Taler!“ sagte Johannes. „Das ist mein ganzes Erbteil, aber das will ich euch gern geben, wenn ihr mir ehrlich versprechen wollt, den armen, toten Mann in Ruhe zu lassen. Ich werde schon durchkommen ohne das Geld, ich habe gesunde, starke Gliedmaßen, und der liebe Gott wird mir allezeit helfen!“

„Ja,“ sagten die häßlichen Menschen, „wenn du seine Schuld bezahlen willst, wollen wir beide ihm nichts tun, darauf kannst du dich verlassen!“ Alsdann nahmen sie das Geld, welches er ihnen gab, lachten laut auf über seine Gutmütigkeit und gingen ihres Weges. Er aber legte die Leiche wieder im Sarge zurecht und faltete ihre Hände, nahm Abschied von ihr und ging durch den großen Wald zufrieden weiter.

Rings umher, wo der Mond durch die Bäume herein schien, sah er die niedlichen, kleinen Elfen lustig spielen. Sie ließen sich nicht stören: sie wußten wohl, daß er ein guter, unschuldiger Mensch sei, und es sind nur die bösen Leute, welche die Elfen nicht zu sehen bekommen. Einige von ihnen waren nicht größer, als ein Finger breit ist und hatten ihr langes, gelbes Haar mit Goldkämmen aufgesteckt; je zwei schaukelten sie sich auf den großen Tautropfen, die auf den Blättern und dem hohen Grase lagen, zuweilen entrollte der Tropfen, dann fielen sie nieder zwischen den langen Grashalmen, und das verursachte ein Gelächter und Lärmen unter den andern Kleinen. Es war allerliebst! Sie sangen, und Johannes erkannte deutlich die hübschen Lieder, die er als kleiner Knabe gelernt hatte. Große, bunte Spinnen mit Silberkronen auf dem Kopfe mußten von der einen Hecke zur andern lange Hängebrücken und Paläste spinnen, welche, da der feine Tau darauf fiel, wie schimmerndes Glas im Mondscheine aussahen. So währte es fort, bis die Sonne aufging. Die kleinen Elfen krochen dann in die Blumenknospen, und der Wind erfaßte ihre Brücken und Schlösser, die als Spinngewebe durch die Luft flogen.

Johannes war eben aus dem Walde herausgekommen, als eine starke Mannesstimme hinter ihm rief: „Holla, Kamerad, wohin geht die Reise?“

„In die weite Welt hinaus!“ sagte er. „Ich habe weder Vater noch Mutter, bin ein armer Bursche, aber der Herr hilft mir wohl.“

„Ich will auch in die weite Welt hinaus,“ sagte der fremde Mann. „Wollen wir beide einander Gesellschaft leisten?“

„Jawohl,“ sagte er, und so gingen sie miteinander. Bald gewannen sie sich recht lieb, denn sie waren beide gute Menschen. Aber Johannes merkte wohl, daß der Fremde viel klüger war als er. Der hatte fast die ganze Welt durchreist und wußte von allem Möglichen, was existierte, zu erzählen.

Die Sonne stand schon hoch, als sie sich unter einen großen Baum setzten, ihr Frühstück zu genießen, zur selben Zeit kam eine alte Frau. Die war sehr alt und ging krumm einher, sie stützte sich auf einen Krückstock, auf ihrem Rücken trug sie ein Bündel Brennholz, welches sie sich im Walde gesammelt hatte. Ihre Schürze war aufgebunden, und Johannes sah, daß drei große Ruten von Farnkraut und Weidenreisern daraus hervorsahen. Als sie ihnen nahe war, glitt sie mit dem einen Fuße aus, fiel und tat einen lauten Schrei, denn sie hatte das Bein gebrochen, die arme, alte Frau!

Johannes meinte sogleich, daß sie die alte Frau nach Hause tragen wollten, wo sie wohnte, aber der Fremde machte sein Ränzel auf, nahm eine Büchse hervor und sagte, daß er hier eine Salbe habe, welche sogleich ihr Bein wieder gesund und kräftig machen würde, so daß sie selbst nach Hause gehen könne, und zwar, als ob sie nie das Bein gebrochen hätte. Allein dafür verlange er auch, daß sie ihm die drei Ruten schenke, die sie in ihrer Schürze habe.

„Das wäre gut bezahlt!“ sagte die Alte und nickte ganz eigen mit dem Kopfe. Sie wollte die Ruten nicht gern hergeben, aber es war auch nicht angenehm, mit gebrochenem Beine dazuliegen. So gab sie ihm denn die Ruten, und sowie er nur die Salbe auf das Bein gerieben hatte, erhob sich auch die alte Mutter und ging viel besser denn zuvor. Solches konnte die Salbe bewirken. Aber die war auch nicht in der Apotheke zu haben.

„Was willst du mit den Ruten?“ fragte Johannes nun seinen Reisekameraden.

„Das sind drei schöne Kräuterbesen,“ sagte der, „die liebe ich sehr, denn ich bin ein närrischer Patron!“

Dann gingen sie noch ein gutes Stück.

„Sieh, wie der Himmel sich umzieht,“ sagte Johannes und zeigte geradeaus. „Das sind schrecklich dicke Wolken!“

„Nein,“ sagte der Reisekamerad, „das sind keine Wolken, das sind Berge — die herrlichen großen Berge, wo man hinauf über die Wolken und in die frische Luft gelangt! Glaube mir, da ist es herrlich! Morgen sind wir sicher weit in der Welt.“

Das war aber nicht so nahe, wie es aussah, sie hatten einen ganzen Tag zu gehen, bevor sie die Berge erreichten, wo die schwarzen Wälder gegen den Himmel aufwuchsen und wo es Steine gab, fast so groß als eine große Stadt. Das mochte wahrlich eine schwere Anstrengung werden, da hinüberzukommen, aber darum gingen auch Johannes und sein Reisekamerad in das Wirtshaus hinein, um sich gut auszuruhen und Kräfte zum morgenden Marsche zu sammeln.

Unten in der großen Schenkstube im Wirtshause waren viele Menschen versammelt, denn dort war ein Mann, der gab Puppenkomödie. Er hatte soeben sein kleines Theater aufgestellt, und die Leute saßen ringsumher, um die Komödie zu sehen. Aber vorn hatte ein dicker Schlächter Platz genommen, und zwar den allerbesten; sein großer Bullenbeißer — der sah sehr bissig aus! — saß an seiner Seite und machte große Augen, so, wie alle andern.

Nun begann die Komödie, und das war eine niedliche Komödie mit einem Könige und einer Königin, die saßen auf dem schönsten Throne, hatten goldene Kronen auf dem Haupte und lange Schleppen an den Kleidern, denn ihre Mittel erlaubten das. Die niedlichsten Holzpuppen mit Glasaugen und großen Schnurrbärten standen an allen Türen und machten auf und zu, damit frische Luft in das Zimmer kommen konnte. Es war eine recht niedliche Komödie. Aber als die Königin aufstand und über den Fußboden hinging, machte der große Bullenbeißer — Gott mag wissen, was er sich dachte — da der dicke Schlächter ihn nicht hielt, einen Sprung stracks hinein in das Theater und packte die Königin mitten um ihre Taille, daß es knackte. Es war schrecklich!

Der arme Mann, der die Komödie gab, war sehr erschrocken und betrübt über seine Königin! Denn es war die allerniedlichste Puppe, die er hatte, und nun hatte der häßliche Bullenbeißer den Kopf abgebissen. Aber als die Leute später fortgingen, sagte der Fremde, der mit Johannes gekommen war, daß er sie schon wieder zurecht machen würde, und dann nahm er seine Büchse hervor und schmierte die Puppe mit der Salbe, womit er der alten Frau geholfen, als sie das Bein gebrochen hatte. Sowie die Puppe geschmiert worden, war sie wieder ganz, ja sie konnte sogar alle ihre Glieder selbst bewegen, man brauchte nicht mehr an der Schnur zu ziehen. Die Puppe war wie ein lebendiger Mensch, nur daß sie nicht sprechen konnte. Der Mann, der das kleine Puppentheater hatte, war sehr froh, nun brauchte er diese Puppe nicht mehr zu halten, die konnte ja von selbst tanzen. Das konnte keine der andern.

Als es später Nacht wurde und alle Leute im Wirtshause zu Bett gegangen waren, war jemand da, der so schrecklich tief seufzte und solange damit fortfuhr, daß alle aufstanden, um zu sehen, wer es wäre. Der Mann, der die Komödie gegeben hatte, ging nach seinem kleinen Theater hin, denn dort war es, wo jemand seufzte. Alle Holzpuppen lagen untereinander: der König und alle Trabanten, und die waren es, die so jämmerlich seufzten und mit ihren Glasaugen stierten, denn sie wollten so gern wie die Königin ein wenig geschmiert werden, damit sie sich auch von selbst bewegen könnten. Die Königin legte sich sofort auf die Knie und streckte ihre prächtige Krone in die Höhe, während sie bat: „Nimm mir diese, aber schmiere meinen Gemahl und meine Hofleute!“ Da konnte der arme Mann, der das Theater und die Puppen besaß, nicht unterlassen zu weinen, denn es tat ihm wirklich ihretwegen leid. Er versprach sogleich dem Reisekameraden, ihm alles Geld zu geben, was er am nächsten Abend für seine Komödie erhalten würde, wenn er nur vier bis fünf von seinen niedlichen Puppen schmieren wolle. Aber der Reisekamerad sagte, daß er durchaus nichts weiter verlange, als den Säbel, den jener an seiner Seite habe, und als er den erhielt, beschmierte er sechs Puppen, die sogleich tanzten und zwar so niedlich, daß alle die lebenden Menschenmädchen, die es sahen, alsbald mittanzten. Der Kutscher und die Köchin tanzten, der Diener und das Stubenmädchen, alle die Fremden und die Feuerschaufel und die Feuerzange, aber die fielen um, als sie die ersten Sprünge machten. — Ja, das war eine lustige Nacht!

Am nächsten Morgen ging Johannes mit seinem Reisekameraden von ihnen fort auf die hohen Berge hinauf und durch die großen Tannenwälder. Sie kamen so hoch hinauf, daß die Kirchtürme tief unter ihnen zuletzt wie kleine blaue Beeren unten in all dem Grünen aussahen, sie konnten sehr weit sehen, viele, viele Meilen weit, wo sie nie gewesen waren! Soviel Schönes der prächtigen Welt hatte Johannes früher nie auf einmal gesehen! Die Sonne schien warm aus der frischen blauen Luft, er hörte auch zwischen den Bergen die Jäger das Waldhorn so schön und lieblich blasen, daß ihm vor Freude die Tränen in die Augen traten und er nicht unterlassen konnte, auszurufen: „Du guter, lieber Gott! Ich möchte dich küssen, weil du so gut gegen uns alle bist und uns all die Herrlichkeit, die in der Welt ist, gegeben hast!“

Der Reisekamerad stand auch mit gefalteten Händen da und sah über den Wald und die Städte in den warmen Sonnenschein hinaus. Zu gleicher Zeit ertönte es wunderbar lieblich über ihrem Haupte, sie blickten in die Höhe, ein weißer großer Schwan schwebte in der Luft und sang, wie sie früher nie einen Vogel hatten singen hören! Aber der Gesang wurde schwächer und schwächer, er neigte seinen Kopf und sank langsam zu ihren Füßen nieder, wo er tot liegen blieb, der schöne Vogel!

„Zwei herrliche Flügel,“ sagte der Reisekamerad, „so weiß und groß wie die, welche der Vogel hat, sind Geldes wert: die will ich mit mir nehmen! Siehst du nun wohl, daß es gut war, daß ich einen Säbel bekam?“ Und so hieb er mit einem Schlage beide Flügel des toten Schwanes ab: die wollte er behalten.

Sie reisten nun viele, viele Meilen weit fort über die Berge, bis sie zuletzt eine große Stadt vor sich sahen, mit Hunderten von Türmen, die wie Silber in der Sonne glänzten. In der Stadt war ein prächtiges Marmorschloß, mit purem Golde gedeckt. Hier wohnte der König.

Johannes und der Reisekamerad wollten nicht sogleich in die Stadt gehen, sondern blieben im Wirtshause vor der Stadt, damit sie sich putzen konnten, denn sie wollten nett aussehen, wenn sie auf die Straße kämen. Der Wirt erzählte ihnen, daß der König ein sehr guter Mann sei, der nie einem Menschen etwas zuleide täte, aber seine Tochter, ja, Gott behüte uns! die sei eine schlimme Prinzessin. Schönheit besaß sie genug, keine konnte so hübsch und niedlich sein, wie sie war, aber was half das? Sie war eine böse Hexe, die Schuld daran hatte, daß viele herrliche Prinzen ihr Leben hatten verlieren müssen. — Allen Menschen hatte sie die Erlaubnis erteilt, um sie freien zu dürfen. Ein jeder konnte kommen, er mochte Prinz oder Bettler sein: das sei ihr gleich. Er sollte nur drei Sachen raten, an die sie gerade gedacht hätte und um die sie ihn befragte. Konnte er das, so wollte sie sich mit ihm vermählen, und er sollte König über das ganze Land sein, wenn ihr Vater stürbe; konnte er aber die drei Sachen nicht raten, so ließ sie ihn aufhängen oder ihm den Kopf abhauen! Ihr Vater, der alte König, war sehr betrübt darüber, aber er konnte ihr nicht verbieten, so böse zu sein, denn er hatte einmal gesagt, er wolle nie etwas mit ihren Liebhabern zu tun haben, sie könne selbst tun, was sie wolle. Jedesmal wenn ein Prinz kam und raten sollte, um die Prinzessin zu erhalten, konnte er es nicht, und dann wurde er gehängt oder geköpft. Er war ja beizeiten gewarnt, er hätte das Freien unterlassen können. Der König war so betrübt über all die Trauer und das Elend, daß er einen ganzen Tag des Jahres mit allen seinen Soldaten auf den Knien lag und betete, die Prinzessin möge gut werden, aber das wollte sie durchaus nicht. Die alten Frauen, die Branntwein tranken, färbten denselben schwarz, bevor sie ihn tranken, so trauerten sie. Und mehr konnten sie doch nicht tun!

„Die häßliche Prinzessin!“ sagte Johannes. „Sie sollte wirklich die Rute bekommen, das würde ihr gut tun. Wäre ich nur der alte König, sie sollte schon gegerbt werden!“

Da hörten sie das Volk draußen Hurra rufen. Die Prinzessin kam vorbei, sie war wirklich schön, daß alle Leute vergaßen, wie böse sie war, deshalb riefen sie Hurra. Zwölf schöne Jungfrauen, alle in weißseidenen Kleidern und jede eine goldene Tulpe in der Hand, ritten auf schwarzen Pferden ihr zur Seite. Die Prinzessin selbst hatte ein weißes Pferd mit Diamanten und Rubinen geschmückt. Ihr Reitkleid war aus purem Goldstoff, und die Peitsche, die sie in der Hand hatte, sah aus, als wäre sie ein Sonnenstrahl. Die goldene Kette auf dem Haupte war wie kleine Sterne vom Himmel, und der Mantel war aus mehr als tausend Schmetterlingsflügeln zusammengenäht. Dessenungeachtet war sie noch schöner als ihre Kleider.

Als Johannes sie zu sehen bekam, wurde er so rot im Gesichte wie ein Blutstropfen und konnte kaum ein einzelnes Wort sagen.

Die Prinzessin sah so aus wie das schöne Mädchen mit der goldenen Krone, von der er in der Nacht geträumt hatte, als sein Vater gestorben war. Er fand sie so schön, daß er nicht unterlassen konnte, sie recht zu lieben. Das wäre gewiß nicht wahr, daß sie eine böse Hexe sei, welche die Leute hängen oder köpfen ließ, wenn sie nicht raten könnten, was sie von ihnen verlangte. „Ein jeder hat die Erlaubnis, um sie zu freien, sogar der ärmste Bettler. Ich will wirklich nach dem Schlosse gehen, denn ich kann es nicht unterlassen!“ Sie sagten ihm alle, er möge es nicht tun, es würde ihm bestimmt wie all den andern ergehen. Der Reisekamerad riet auch davon ab, aber Johannes meinte, es würde schon gehen. Er bürstete seine Schuhe und seinen Rock, wusch sich Gesicht und Hände, kämmte sein hübsches blondes Haar und ging dann allein in die Stadt hinein und nach dem Schlosse.

„Herein!“ sagte der alte König, als Johannes an die Türe pochte. Johannes öffnete, und der König im Schlafrock und in gestickten Pantoffeln kam ihm entgegen, die Krone hatte er auf dem Haupte, das Zepter in der einen Hand und den Reichsapfel in der andern. „Warte ein bißchen!“ sagte er, und nahm den Apfel unter den Arm, um Johannes die Hand reichen zu können. Aber sowie er erfuhr, er sei ein Freier, fing er so an zu weinen, daß das Zepter sowohl wie der Apfel auf den Fußboden fielen und er die Augen mit seinem Schlafrocke trocknen mußte. Der arme, alte König!

„Laß es sein!“ sagte er. „Es geht Dir schlecht, wie all den andern. Nun, Du wirst es sehen!“ Dann führte er ihn hinaus nach dem Lustgarten der Prinzessin. Da sah es schrecklich aus! Oben in jedem Baume hingen drei, vier Königssöhne, die um die Prinzessin gefreit hatten, aber die Sachen, die sie ihnen aufgegeben, nicht hatten raten können. Jedesmal, wenn es wehte, klapperten alle Gerippe, so daß die kleinen Vögel erschraken und nie in den Garten zu kommen wagten. Alle Blumen waren an Menschenknochen aufgebunden, und in Blumentöpfen standen Totenköpfe und grinsten. Das war wirklich ein sonderbarer Garten für eine Prinzessin.

„Hier siehst Du es!“ sagte der alte König. „Es wird Dir ebenso wie diesen hier ergehen. Laß es deshalb lieber. Du machst mich wirklich unglücklich, denn ich nehme mir das sehr zu Herzen!“

Johannes küßte dem guten, alten König die Hand und sagte, es würde schon gehen, denn er sei entzückt von der schönen Prinzessin.

Da kam die Prinzessin selbst mit allen ihren Damen in den Schloßhof geritten, sie gingen deshalb zu ihr hinaus und sagten ihr guten Tag. Sie war wunderschön anzuschauen und reichte Johannes die Hand. Und er hielt noch viel mehr von ihr wie früher. Sie konnte sicher keine böse Hexe sein, wie alle Leute es ihr nachsagten. — Dann begaben sie sich in den Saal, und die kleinen Pagen präsentierten ihnen Eingemachtes und Pfeffernüsse. Aber der alte König war betrübt, er konnte nichts essen. Und die Pfeffernüsse waren ihm auch zu hart.

Es wurde bestimmt, daß Johannes am nächsten Morgen wieder nach dem Schlosse kommen sollte, dann würden die Richter und der ganze Rat versammelt sein und hören, wie es mit dem Raten gehe. Würde er gut dabei fahren, so sollte er dann noch zweimal kommen, aber es war noch nie jemand da gewesen, der das erstemal richtig geraten hätte, und dann mußte er das Leben verlieren.

Johannes war nicht bekümmert darum, wie es ihm ergehen würde. Er war vielmehr vergnügt, gedachte nur der schönen Prinzessin und glaubte sicher, der liebe Gott werde ihm schon helfen. Aber wie, dies wußte er nicht und wollte lieber nicht daran denken. Er tanzte auf der Landstraße dahin, als er nach dem Wirtshause zurückging, wo der Reisekamerad auf ihn wartete.

Johannes konnte nicht fertig damit werden, zu erzählen, wie artig die Prinzessin gegen ihn gewesen und wie schön sie sei. Er sehne sich schon sehr nach dem nächsten Tage, wo er in das Schloß sollte, um sein Glück im Raten zu versuchen.

Aber der Reisekamerad schüttelte den Kopf und war betrübt. „Ich bin dir so gut!“ sagte er. „Wir hätten noch lange beisammen sein können, und nun soll ich dich schon verlieren! Du armer, lieber Johannes! Ich möchte weinen, aber ich will am letzten Abende, den wir vielleicht beisammen sind, deine Freude nicht stören. Wir wollen lustig sein, recht lustig! Morgen, wenn du fort bist, kann ich ungestört weinen.“

Alle Leute drinnen in der Stadt hatten sogleich erfahren, daß ein neuer Freier der Prinzessin angekommen war, und deshalb herrschte große Betrübnis. Das Schauspielhaus blieb geschlossen, alle Kuchenfrauen banden Flor um ihre Zuckermänner, der König und die Priester lagen auf den Knien in den Kirchen. Es war große Betrübnis, denn es konnte Johannes ja nicht besser ergehen, als es allen übrigen Freiern ergangen war.

Gegen Abend bereitete der Reisekamerad eine große Bowle Punsch und sagte zu Johannes: „Nun wollen wir recht lustig sein und auf der Prinzessin Gesundheit trinken.“ Als aber Johannes zwei Gläser getrunken hatte, wurde er so schläfrig, daß es ihm unmöglich war, die Augen offen zu halten, er sank in tiefen Schlaf. Der Reisekamerad hob ihn sanft vom Stuhle und legte ihn in das Bett hinein, und als es dunkle Nacht wurde, nahm er die beiden großen Flügel, die er von dem Schwane abgehauen hatte, und band sie an seine Schultern fest. Die größte Rute, die er von der alten Frau erhalten, welche gefallen war und das Bein gebrochen hatte, steckte er in seine Tasche, öffnete das Fenster und flog so über die Stadt, nach dem Schlosse hin, wo er sich in einen Winkel unter das Fenster setzte, wo es in die Schlafstube der Prinzessin ging.

Es war still in der ganzen Stadt. Nun schlug die Uhr dreiviertel auf Zwölf, das Fenster ging auf und die Prinzessin flog in einem langen, weißen Mantel und mit schwarzen Flügeln über die Stadt weg hinaus zu einem großen Berge. Aber der Reisekamerad machte sich unsichtbar, so daß sie ihn nicht sehen konnte, flog hinterher und peitschte die Prinzessin mit seiner Rute, so daß Blut kam, wohin er schlug. Ach, das war eine Fahrt durch die Luft! Der Wind erfaßte ihren Mantel, der sich nach allen Seiten ausbreitete gleich einem großen Schiffssegel, und der Mond schien durch denselben.

„Wie es hagelt! wie es hagelt!“ sagte die Prinzessin bei jedem Schlage, den sie von der Rute bekam, und das war ihr schon recht. Endlich kam sie hinaus zum Berge und klopfte an. Es rollte gleich dem Donner, indem der Berg sich öffnete, sie ging hinein. Der Reisekamerad folgte ihr, denn niemand konnte ihn sehen, er war unsichtbar. Sie gingen durch einen großen, langen Gang, wo die Wände eigentümlich glänzten, es waren über tausend glühende Spinnen, die an der Mauer auf- und abliefen und wie Feuer leuchteten. Da kamen sie in einen großen Saal, von Silber und Gold erbaut, Blumen so groß wie Sonnenblumen, rote und blaue, glänzten an den Wänden, aber niemand konnte die Blumen pflücken, denn die Stengel waren häßliche, giftige Schlangen, und die Blumen waren Feuer, welches ihnen aus dem Rachen heraus brannte. Die ganze Decke war mit leuchtenden Johanneswürmchen und himmelblauen Fledermäusen bedeckt, die mit den dünnen Flügeln schlugen. Es sah ganz schauerlich aus! Mitten auf dem Fußboden war ein Thron, der von vier Pferdegerippen getragen wurde, welchen Zaumzeug von den roten Feuerspinnen aufgelegt war, der Thron selbst war aus milchweißem Glase, und die Kissen waren kleine, schwarze Mäuse, die einander in den Schwanz bissen. Über demselben war ein Dach von rosenrotem Spinngewebe, mit den niedlichen, kleinen grünen Flügeln besetzt, welche wie Edelsteine glänzten. Auf dem Throne saß ein alter Zauberer, mit einer Krone auf dem häßlichen Kopfe und einem Zepter in der Hand. Er küßte die Prinzessin auf die Stirn, ließ sie an seine Seite auf den kostbaren Thron setzen, und dann begann die Musik. Große, schwarze Heuschrecken bliesen auf Mundharmonikas, und die Ente schlug sich auf den Leib, denn sie hatte keine Trommel. Das war ein possierliches Konzert. Kleine, schwarze Kobolde mit einem Irrlichte auf der Mütze tanzten im Saale herum. Niemand aber konnte den Reisekameraden erblicken, er hatte sich hinter den Thron gestellt und hörte und sah alles. Die Hofleute, die nun herein kamen, waren sehr fein und vornehm! Der, welcher sehen konnte, merkte wohl, wie es damit zusammenhing. Sie waren nichts weiter als Besenstiele mit Kohlköpfen darauf, in die der Zauberer Leben gehext und denen er gestickte Kleider gegeben hatte. Aber das machte nichts aus, sie wurden doch nur zum Prunk gebraucht.

Nachdem erst etwas getanzt war, erzählte die Prinzessin dem Zauberer, daß sie einen neuen Freier erhalten habe und fragte deshalb, woran sie wohl denken sollte, um ihn am nächsten Morgen darnach zu fragen, wenn er nach dem Schlosse käme.

„Höre,“ sagte der Zauberer, „das will ich dir sagen! Du mußt etwas recht Leichtes wählen, denn dann fällt er gar nicht darauf. Denke an einen deiner Schuhe. Das rät er nicht. Laß ihm den Kopf abhauen, doch vergiß nicht, wenn du morgen Nacht wieder zu mir kommst, mir seine Augen mitzubringen, denn die will ich essen!“

Die Prinzessin verneigte sich tief und sagte, sie würde die Augen nicht vergessen. Der Zauberer öffnete nun den Berg, und sie flog wieder zurück, aber der Reisekamerad folgte ihr und prügelte sie wieder so stark mit der Rute, daß sie tief über das starke Hagelwetter seufzte und sich, so sehr sie konnte, beeilte, durch das Fenster in ihre Schlafstube zu gelangen. Der Reisekamerad dagegen flog zum Wirtshause zurück, wo Johannes noch schlief, löste seine Flügel ab und legte sich dann auch auf das Bett, denn er konnte wohl müde sein.

Es war früh am Morgen, als Johannes erwachte. Der Reisekamerad stand auch auf und erzählte, daß er diese Nacht einen sonderbaren Traum von der Prinzessin und ihrem Schuhe gehabt habe und bat ihn, deshalb doch zu fragen, ob die Prinzessin nicht an ihren Schuh gedacht haben sollte. Denn das war es ja, was er von dem Zauberer im Berge gehört hatte.

„Ich kann ebensogut darnach als nach etwas anderem fragen,“ sagte Johannes. „Vielleicht ist das richtig, was du geträumt hast, denn ich vertraue auf den lieben Gott, der mir schon helfen wird. Aber ich will dir noch Lebewohl sagen, denn rate ich falsch, so bekomme ich dich nie mehr zu sehen.“

Dann küßten sie sich, und Johannes ging in die Stadt und nach dem Schlosse. Der Saal war mit Menschen angefüllt, die Richter saßen in ihren Lehnstühlen und hatten Eiderdunenkissen unter den Köpfen, denn sie hatten gar viel zu denken. Der alte König stand auf und trocknete seine Augen mit einem weißen Taschentuche. Nun trat die Prinzessin herein. Sie war noch schöner wie gestern und grüßte alle in anmutigster Weise, aber dem Johannes gab sie die Hand und sagte: „Guten Morgen, du!“

Nun sollte Johannes raten, woran sie gedacht habe, Gott, wie sah sie ihn freundlich an! Aber sowie sie ihn das eine Wort „Schuh“ aussprechen hörte, wurde sie kreideweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Allein das konnte ihr nichts helfen, denn er hatte richtig geraten!

Der Tausend! wie wurde der alte König vergnügt, er schoß einen Purzelbaum, daß es eine Lust war. Und alle Leute klatschten in die Hände, ihm und Johannes zu Ehren, der das erstemal richtig geraten hatte.

Der Reisekamerad war auch erfreut, als er erfuhr, wie gut es abgelaufen war. Aber Johannes faltete die Hände und dankte seinem Gotte, der sicher die beiden andern Male wieder helfen würde. Am nächsten Tage sollte schon wieder geraten werden.

Der Abend verging ebenso wie der gestrige. Als Johannes schlief, flog der Reisekamerad hinter der Prinzessin her zum Berge hinaus und prügelte sie noch stärker als das vorige Mal, denn nun hatte er zwei Ruten genommen. Niemand bekam ihn zu sehen, und er hörte alles. Die Prinzessin wollte an ihren Handschuh denken, und das erzählte er wieder dem Johannes, als ob es ein Traum sei. Daher konnte derselbe richtig raten, und es verursachte eine große Freude auf dem Schlosse. Der ganze Hof schoß Purzelbäume, sowie sie es den König das erstemal hatten machen sehen. Aber die Prinzessin lag auf dem Sofa und wollte nicht ein einziges Wort sagen. Nun kam es darauf an, ob Johannes das drittemal richtig raten konnte. Glückte es, so sollte er ja die schöne Prinzessin haben und nach dem Tode des alten Königs das ganze Reich erben. Riet er falsch, so sollte er sein Leben verlieren und der Zauberer seine schönen, blauen Augen essen.

Den Abend vorher ging Johannes zeitig zu Bett, betete sein Abendgebet und schlief dann ruhig. Aber der Reisekamerad band seine Flügel an den Rücken, den Säbel aber an seine Seite, nahm alle drei Ruten mit sich und flog nach dem Schlosse.

Es war finstere Nacht. Es stürmte so, daß die Dachsteine von den Häusern flogen, und die Bäume drinnen im Garten, wo die Gerippe hingen, bogen sich gleich nach dem Schilfe vor dem Sturmwinde. Es blitzte jeden Augenblick und der Donner rollte, als ob es nur ein einziger Schlag sei, der die ganze Nacht währte. Nun ging das Fenster auf, und die Prinzessin flog heraus. Sie war so bleich wie der Tod, aber sie lachte über das böse Wetter und meinte, es sei noch nicht arg genug. Und ihr weißer Mantel wirbelte in der Luft umher, gleich einem großen Schiffssegel, aber der Reisekamerad peitschte sie mit seinen drei Ruten, daß das Blut auf die Erde tröpfelte und sie zuletzt kaum weiter fliegen konnte. Endlich kam sie doch nach dem Berge.

„Es hagelt und stürmt,“ sagte sie, „nie bin ich bei solchem Wetter ausgewesen.“

„Man kann auch des Guten zu viel haben!“ sagte der Zauberer. Nun erzählte sie ihm, daß Johannes auch das zweitemal richtig geraten habe, würde er dasselbe morgen tun, so hätte er gewonnen, und sie könne nie mehr nach dem Berge hinauskommen, vermöchte nie mehr solche Zauberkünste wie früher zu machen, deshalb war sie betrübt.

„Er soll es nicht erraten können!“ sagte der Zauberer. „Ich werde schon etwas erdenken, was er sich nie gedacht hat, oder er müßte ein größerer Zauberer gewesen sein als ich. Aber nun wollen wir lustig sein!“ Und dann faßte er die Prinzessin bei den Händen, und sie tanzten mit allen den kleinen Kobolden mit Irrlichtern herum, die in dem Zimmer waren. Die roten Spinnen sprangen an den Wänden ebenso lustig auf und nieder, es sah aus, als ob Feuerblumen sprühten. Die Eule schlug auf die Trommel, die Heimchen pfiffen, und die schwarzen Heuschrecken bliesen auf Mundharmonikas. Es war ein lustiger Ball. —

Als sie nun lange genug getanzt hatten, mußte die Prinzessin nach Hause, sonst möchte sie im Schlosse vermißt werden. Der Zauberer sagte, daß er sie begleiten wolle, da wären sie doch unterwegs noch beisammen.

Dann flogen sie in dem bösen Wetter davon, und der Reisekamerad schlug seine drei Ruten auf ihrem Rücken entzwei. Nie war der Zauberer in solchem Hagelwetter ausgewesen. Draußen vor dem Schlosse sagte er der Prinzessin Lebewohl und flüsterte ihr zugleich zu: „Denke an meinen Kopf!“ Aber der Reisekamerad hörte es wohl, und gerade in dem Augenblick, als die Prinzessin durch das Fenster in ihr Schlafgemach schlüpfte und der Zauberer wieder umkehren wollte, ergriff er ihn an seinem langen Barte und hieb mit dem Säbel seinen häßlichen Zaubererkopf bei den Schultern ab, so daß der Zauberer ihn nicht einmal selbst zu sehen bekam. Den Körper warf er hinaus in den See zu den Fischen, den Kopf aber tauchte er nur in das Wasser und band ihn dann in sein seidenes Taschentuch, nahm ihn mit nach dem Wirtshause und legte sich dann schlafen.

Am nächsten Morgen gab er Johannes das Taschentuch und sagte ihm dabei, daß er es nicht aufbinden dürfe, bevor die Prinzessin frage, woran sie gedacht habe.

Es waren so viele Menschen in dem großen Saale auf dem Schlosse, daß sie so dicht standen wie Radieschen, die in ein Bündel zusammengebunden sind. Der Rat saß auf seinen Stühlen mit den weichen Kissen, und der alte König hatte neue Kleider an, die goldene Krone und das Zepter waren poliert: er sah feierlich aus. Aber die Prinzessin war bleich und hatte ein schwarzes Kleid an, als gehe sie zum Begräbnis.

„Woran habe ich gedacht?“ fragte sie den Johannes. Und sogleich löste er das Taschentuch und war selbst erschrocken, als er das häßliche Zaubererhaupt erblickte. Es schauderte alle Menschen, denn es war schrecklich anzusehen, aber die Prinzessin saß da wie ein Steinbild und konnte nicht ein einziges Wort sagen. Endlich erhob sie sich und reichte Johannes die Hand, denn er hatte ja richtig geraten. Sie sah weder auf den einen noch auf den andern, sondern sie seufzte laut: „Nun bist du mein Herr! Diesen Abend wollen wir Hochzeit halten!“

„Das gefällt mir!“ sagte der alte König. „So will ich es haben!“ Alle Leute riefen hurra, die Wachtparade machte Musik in den Straßen, die Glocken läuteten und die Kuchenfrauen nahmen den schwarzen Flor von ihren Zuckermännern, denn nun herrschte große Freude. Drei gebratene Ochsen, mit Enten und Hühnern gefüllt, wurden mitten auf den Markt gesetzt, und jeder konnte sich ein Stück abschneiden, in den Springbrunnen sprudelte der schönste Wein, und kaufte man eine Pfennigbrezel beim Bäcker, so bekam man sechs große Zwiebacke als Zugabe, und die Zwiebacke mit Rosinen darin.

Am Abende war die ganze Stadt erleuchtet, die Soldaten schossen mit Kanonen, die Knaben mit Knallerbsen, und es wurde gegessen und getrunken, angestoßen und gesprungen oben im Schlosse. Alle die vornehmen Fräulein tanzten miteinander, man konnte in weiter Ferne hören, wie sie sangen:

Hier sind viel hübsche Mädchen,

Die gern tanzen rund herum,

Drehen sich wie Spinnerädchen;

Hübsches Mädchen, schwenk’ dich um.

Tanzt und springet immerzu,

Bis die Sohle fällt vom Schuh.

Aber die Prinzessin war ja noch eine Hexe und mochte Johannes gar nicht leiden. Das fiel dem Reisekameraden ein, und deshalb gab er Johannes drei Federn aus den Schwanenflügeln und eine kleine Flasche mit einigen Tropfen darin und sagte ihm dann, daß er ein großes Faß mit Wasser gefüllt vor das Bett der Prinzessin setzen lassen solle, und wenn die Prinzessin hineinsteigen wolle, sollte er ihr einen kleinen Stoß geben, so daß sie in das Wasser hinunterfalle, wo er sie dreimal untertauchen müsse, nachdem er vorher die Federn und die Tropfen hineingeschüttet habe, dann werde sie ihre Zauberei verlieren und ihn recht lieb haben.

Johannes tat alles, was der Reisekamerad ihm geraten hatte. Die Prinzessin schrie laut, als er sie unter das Wasser tauchte, und zappelte ihm unter den Händen wie ein großer, schwarzer Schwan mit funkelnden Augen. Als sie das zweitemal wieder über das Wasser herauf kam, war der Schwan weiß, bis auf einen schwarzen Ring um den Hals. Johannes betete fromm zu Gott und ließ das Wasser das drittemal über den Vogel zusammenschlagen, und in demselben Augenblick wurde dieser in die schönste Prinzessin verwandelt. Sie war noch schöner als zuvor und dankte ihm mit Tränen in ihren herrlichen Augen, daß er den Zauber von ihr gelöst habe.

Am nächsten Morgen kam der alte König mit seinem ganzen Hofstaate, da gab es ein Gratulieren bis spät in den Tag hinein. Zuletzt kam der Reisekamerad, er hatte seinen Stock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken. Johannes küßte ihn viele Mal und sagte, er dürfe nicht fortreisen, er solle bei ihm bleiben, denn er wäre ja die Ursache seines Glücks. Aber der Reisekamerad schüttelte mit dem Kopfe und sagte mild und freundlich: „Nein, nun ist meine Zeit um. Ich habe nur meine Schuld bezahlt. Erinnerst du dich des toten Mannes, dem die bösen Menschen Übles tun wollten? Du gabst alles, was du besaßest, damit er Ruhe in seinem Grabe haben konnte. Der Tote bin ich!“

In demselben Augenblicke war er verschwunden. —

Die Hochzeit währte nun einen ganzen Monat. Johannes und die Prinzessin liebten einander innig, und der alte König erlebte manche frohe Tage und ließ ihre kleinen Kinderchen auf seinen Knien reiten und mit seinem Zepter spielen. Aber Johannes wurde König über das ganze Land.

Das Märchenbuch

Eine Sammlung von Märchenbüchern
für Kinder und Erwachsene

Mit Zeichnungen der besten deutschen Maler

Herausgegeben von Bruno Cassirer


Band 1
Deutsche Märchen
Illustriert von Max Slevogt
Gebunden 10 Mark

Band 2
Deutsche Märchen
Illustriert von Graf L. von Kalckreuth
Gebunden 8 Mark

Band 3
Genovefa — Der arme Heinrich
Illustriert von W. Klemm
Gebunden 8 Mark

Band 4
Aladdin oder die Wunderlampe
Illustriert von C. Strathmann
Gebunden 8 Mark

Band 5
Zwerg Nase
Farbig illustriert von Karl Walser
Zweite Auflage. Gebunden 13.50 Mark

Band 6
Rübezahl
Illustriert von Max Slevogt
Gebunden 10 Mark

Band 7
Das kalte Herz
Farbig illustriert von Karl Walser
Gebunden 10 Mark

Band 8
Kalif Storch — Der kleine Muck
Farbig illustriert von Karl Walser
Gebunden 10 Mark

Band 9
Frau Holle und anderes
Illustriert von Bernhard Hasler
Gebunden 15 Mark

Band 10
Ali Baba und die vierzig Räuber
Illustriert, teils mehrfarbig, von Max Slevogt
Zweite Auflage. In Halbleinen gebunden 35 Mark

Von einigen Bänden sind noch wenige Exemplare in Ganzleder mit Goldprägung zum Preise von 200 Mark vorrätig. Hergestellt wurden je 100 numerierte Exemplare


Druck: Hof-Buch- und -Steindruckerei Dietsch & Brückner in Weimar

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 50965 ***