The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre Author: Lily Braun Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN *** Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen harten Händen hielte.
»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden am Horizont die Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter.
Ich war allein — ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen stolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.
»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen Brief ohne Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« hieß es darin, »und ich schreibe Dir in größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten gelingen möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. Was ich immer schon fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Du unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren ›Ethischen Blättern‹ las, wie Ihr immer wieder für die Umsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. Der Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist aufgegangen: kühl und geschäftsmäßig, als handle es sich um den Plan eines Spaziergangs, teilst Du uns mit, daß Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, um Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam, Liebe und Rücksicht heißt, blind und taub gemacht, sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner Familie gegenüber die Krone aufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mit Füßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum, Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unser Kind überlassen? Es wäre in dem Augenblick für uns gestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du wirfst leichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigensinn, Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vater mordest — von mir will ich gar nicht reden, eine Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit Füßen treten —, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit froh werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagen fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein leichter Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennst, machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem leidet er an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall hervorrufen, der ihn tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas mit Dir erleben müßte ...!«
Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen aus den Redaktionen der »Ethischen Blätter« und der »Frauenfrage« schon versandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu: »Frau von Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt getan, und die Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie pikanten Aquisition ins Fäustchen lachen« ... so und ähnlich lauteten sie.
Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine Schwester blaß und verängstigt zu mir gelaufen:
»Wir sind mit dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit stockender Stimme gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen, »er verbietet Papa, auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die Zeitungen nicht. Und die Post wird dem Briefboten an der Hintertreppe abgenommen ... Ach, Alix, — du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause ist .. Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und Mama nicht zu sehr quält .. Am liebsten liefe ich selber davon ...«
Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.
Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert.
»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« hatte er bitter lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze draus wird. Herr Gott, — wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen leben!«
Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, ihm deinen Entschluß ins Gesicht zu sagen! — So einen Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter und Schwester abwälzen, — das ist freilich eine Heldentat, die dir ähnlich steht!«
Abends war Frau Vanselow noch gekommen, — tief bekümmert. »Ich verstehe Ihren Entschluß, — wenn ich so jung wäre wie Sie, ich täte dasselbe —, aber das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern. Unsere ›Frauenfrage‹ ist nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin verlieren soll, so doch wenigstens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für die Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und dann hatte sie mir die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London vorgelesen, die auf unser beider Namen lautete. »Wie viel könnten gerade Sie, meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten — England, das klassische Land der Frauenemanzipation ...!«
In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. Meine Überzeugungen, meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen standen alle bis an die Zähne gewappnet auf wider mich.
Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf zu den Eltern. Noch nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem strahlenden Frühsommertage, das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel vorgekommen und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen so kalt.
Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers herunterhaspelt, um nur nicht stecken zu bleiben, erzählte ich von der Einladung nach England.
»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanselow hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. Die englische Frauenbewegung ist uns weit voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist glänzend organisiert, — ich werde mir für meine eigene Arbeit ein Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft komme ich auch nicht,« hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, »denn Gräfinnen und Herzoginnen sind unsere Gastgeber ...«
Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die sich bei meiner Ankunft verschüchtert in eine Ecke geflüchtet hatte, sprang auf und wirbelte lustig im Zimmer umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all den Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, das Konversationslexikon und schickte die Minna zum nächsten Buchhändler, um den neuesten Bädecker von London zu holen.
Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen und streichelte sie so sanft, so leise, daß ich den Kampf der Nacht vergaß und nichts fühlte als seine Liebe.
Die Reisevorbereitungen, der Abschied, — der Vater hatte sich's nicht nehmen lassen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie ein feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu drücken, — die Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow und Frau Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit sprachen, hatten mich bis zu diesem Augenblick nicht zu Atem kommen lassen.
Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, was vergangen war, und in schmerzhafter Sehnsucht an den zu denken, den ich nicht erwecken konnte? Ich sah die Nacht um mich her und die große Einsamkeit — war Georg nicht erst jetzt für mich gestorben? Mich fröstelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe.
»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die Augen fielen mir zu .....
Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor mir, unfreundlich und nüchtern. Mit jener unwirschen Rücksichtslosigkeit aller Unausgeschlafenen hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich ließ mich schieben, — es war ja alles so schrecklich gleichgültig.
»Frau von Glyzcinski?!« — Überrascht sah ich auf. »Mister Stratford?« — Der rotblonde Hüne, der mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie einen Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; er war sein bester Freund gewesen, seine Schriften, seine Briefe hatten ihn mir wie ein Echo Georgs erscheinen lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich der Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden hatte, daß er zwischen uns den Heiratsvermittler habe spielen wollen, ehe er daran zu denken wagte, ich könne ihn — den armen Gelähmten — jedem anderen vorziehen.
Stratford war überzeugter Sozialist, wie Georg, nur daß er noch mit aller Energie an dem Standpunkt der Ethischen Gesellschaft festhielt: sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte.
»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder wären,« sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von vornherein auf Mißtrauen stoßen würden.«
»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die Häuser tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling und ein Betrüger!«
Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus sich in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben, bei uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.«
Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir auf: von der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu den politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war ganz benommen, als wir uns London näherten.
Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben Fensterscheiben und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich rechts und links zusammen, enger und enger, sie verdrängten schließlich das letzte Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend wie Riesenwürmer, wanden sich unten die Straßen zwischen den Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umhüllte alles, nicht wie ein Schleier, der phantastische Vorstellungen von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, — wie ein nasses Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde Öllämpchen im Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen und schwerfällige Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich hin und her, kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den Bürgersteigen daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das eigene Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links. Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war keiner, der Zeit hatte —, unsichtbar schienen in der Menge die Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen.
Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das kommende Leben?!
»Westminster! — das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr der Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom. Schüchterne Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch das feine gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen hinüber zu der altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster aufglühen, als stünde sie im Feuer.
Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach und still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel.
Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den Besuchern des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen mich so herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich grade zum Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich? Selbst Stratford legte das Gesicht in würdevolle Falten, — fünf himmelblau gekleidete Dienstmädchen traten ein, — ein Harmonium ertönte, — helle Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, — ein Gebet folgte. Alles kniete nieder, den Kopf in den Händen vergraben, — auch Stratford, Georgs Freund, der Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor innerem Zorn; ich allein blieb stehen.
»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.
»Es ist ja nur eine Form!«
»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten!«
Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Riesenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten rings umher. In großer Toilette erschienen die Delegiertinnen, bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd von Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen Trauerkleid, über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stieße. Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?« schlug an mein Ohr.
Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, und jede von ihnen begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende Menschenmasse unter uns. Da waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens formt, schmale, scharf geschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden Märchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, — Triumphen auf dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des politischen Lebens, — Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses glänzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie von Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für ihre politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen hatte.
»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider nähen, haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und nur als die ihre.«
Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, — galt er nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen —, dachte ich.
»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht gefordert habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August Bebel.«
Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen des Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, lächelten mir freundlich zu.
Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie reißen. Für unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir ihren Namen — Amie Hicks — und ihre Wohnung, fern im äußersten Norden Londons. »Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise führen.«
Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen.
In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut oft siedendheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt worden, aber schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab. Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.
Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung empfing, wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs Land führten uns Extrazüge, — jenes Land voll rührender, weicher Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, seinen dunklen Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich für Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack und Konvention uneingeschränkt herrschen.
In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr bewundern sollen.
Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch von Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerschau am Ende trüben können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei näherem Zusehen für mich nur gering: diese Frauen hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das Frauenstimmrecht, war für mich in dem Augenblick erledigt gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt hatte.
Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende Haltung wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips betrachtet.
»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen, »ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...«
Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel sogar das scharfe Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.«
Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte ich mein Domizil. Freunde von Stratford — ein liberaler Parlamentarier und seine schöne elegante Frau — hatten mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. Alles trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit: vom Zeremoniell der Lebensweise, dem deutschen Hauslehrer und der französischen Gouvernante bis zu dem würdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau verstießen mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde ich den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien großer Meisterwerke oft befällt: wir erstaunen über die Technik und vermissen um so schmerzhafter den Geist. Daß Stratford sich hier heimisch fühlte, mit allen Fibern die parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich ihn in der Ethischen Gesellschaft reden hörte inmitten einer Korona von lauter typischen Vertretern der Geldaristokratie, denen seine Sittenpredigten dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral der biblischen Geschichten den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir seine Briefe, seine Schriften ins Gedächtnis rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu erkennen.
Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner Familie gehen sollte, — wie würde ich jemals imstande dazu sein?!
»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als ich ihm in meiner heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entsprang, über seine Tätigkeit als »Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen mich nur von der einen Seite.« Noch am selben Abend sollte ich die andere kennen lernen.
An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe flackernden Laterne sprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein paar neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine Stimme von den Mauern widerhallte, desto mehr Menschen sammelten sich um ihn. Müde, zerlumpte Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern hervor, Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer Wolke ekler Gerüche erschienen Frauen mit zerwühlten Zügen, halbwüchsige Mädchen, deren freches Grinsen allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüstem Geschrei stießen sich trunkene Burschen aus der nächsten Kneipe heraus, und nach und nach entzündeten sich Lichter des Verstehens in ihren eben noch blöd glotzenden Augen. Die Straße wurde schwarz vor Menschen. Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen roten Bart tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen strahlten vom eigenen Feuer. Ich hörte kaum, was er sagte, ich sah nur die Wirkung seiner Worte. Aus den vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von Menschentum hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte tiefe Kummerfalten.
Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. Vor der Türe reichte ich ihm die Hand.
»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten, meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie doppelt schuldig sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des Sozialismus, und keiner anderen ...«
»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, »wären nur nicht der Fesseln so viele, die uns an das andere Leben schmiedeten — —«
»Wir werden sie beide zerbrechen müssen —«
Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das Interesse fast ausschließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der Gesellschaft der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater war: Reizmittel für ihr Nervensystem, — das war die Politik für Mrs. Dew. Fast täglich war ich mit ihr im Parlament; sei es, daß wir den Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten — das Publikum hatte ohne weiteres Zutritt — oder in den Wandelgängen und auf der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem meine Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewisse Zurückhaltung mir gegenüber entsprang weniger der Tatsache, daß ich ein Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur im Bilde der »guten Hausfrau« im Bewußtsein der Engländer lebte.
Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die Regierung zu stürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die engen Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst raschelten die seidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte die Flüstergespräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur die Katastrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend wie ferner Donner, — dann wieder tief und schwer wie der Ton riesiger alter Kirchenglocken, — die Damen verstummten, — drängten sich enger an das Gitter, — und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der zum Herrschen bestimmt war. »Wer ist das?« — »John Burns!« — John Burns — der Verräter?! So war er in der deutschen sozialistischen Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor. Ich war zuerst enttäuscht: Alles überragend hatte ich den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem untersetzten kräftigen Körper nur den Kopf eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig über der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter buschigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in seiner mächtigen Färbung und fieberhaften Lebendigkeit der Herkunft aus diesem helläugigen Volke Hohn sprach.
Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war breit und schwer, sie zeugte von dem Hammer, den sie geführt hatte; — wie war es möglich gewesen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte? War dieser Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen, einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der Fragen, die sich mir aufdrängten.
»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich für einen Verräter halten,« sagte er, »aber sie verstehen die Situation nicht. In Deutschland würde ich nicht anders handeln als Bebel und Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung schob er die Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tischs einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er fort, »dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die deutsche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und diese treiben naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem sie sich, infolge des äußeren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die Strahlen dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.« Ich lächelte ein wenig ungläubig. »Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,« fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir —,« er ließ mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und Stunde für unsere Zusammenkunft.
Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir städtische Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen Sonne« erklärte, in denen ich nichts anderes sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen.
»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,« sagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunalisierung der Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von den Fabiern in die Schule nehmen.«
»Den Fabiern?!«
»Eine Gesellschaft von ›Salonsozialisten‹, würde man bei Ihnen in Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...«
Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wußte von seiner Frau, die als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war. Ich wußte auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen sogar vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen hatte ich keines ihrer Bücher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken geistigen Lebens in den Zügen und einer Güte und Anmut des Wesens, der meine Steifheit nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und Größe der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand den Weg in die Häuser jener Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer Organisation aus physischer und geistiger Versklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirklichter Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie draußen, vor Londons Toren, in ihren Gärten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen.
In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig besuchte, wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die die Menschen überall schwach und klein macht, wo religiöser, sittlicher oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den ich zu gehen hatte.
»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, — es ist nicht wahr, daß der Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, — es ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne, mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden Söhne der Bourgeoisie selbst — Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax — alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...« Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfsinns noch üppig durchwucherten?
Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der bissige Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wußte, ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben vor mich hingestellt hatte.
»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort. »Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!«
»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens satt zu machen?« warf ich ein.
»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster —, wenn nur die satt gewordenen nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«
Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an sich unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der Regierung und damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte und alle Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.
Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem Holz hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engländer aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines londoner Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen in den schönen lichten Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in dem großen Atelier schrieen sie förmlich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder wütend geballt gen Himmel streckten. Der Hausherr malte sie und nichts als sie, — ein milder, gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er gehörte zu den Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen Pflänzlein durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden Eifer nicht steht, daß der ganze Boden schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will.
Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf Alles aus, was abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, — der große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig und voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der londoner Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele sprach, die unerweckt auch in mir schlummern müßten, so bedurfte ich der ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß zu entziehen.
»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist: dem des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin theosophischer Ideen geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor sich selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen nachhängen...«
»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er nahm meine beiden Hände zwischen die seinen — Hände, die in ihrer Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geschaffen waren —, und seine Augen bohrten sich in meine Züge.
»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre Augen erzählen, — das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über sich selbst hinauszieht.«
Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich zwischen hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus versteckte. Und im verwilderten Garten unter dem schattenden Laubdach duftender Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kissen unter den Kopf schieben.
»Sie sind müde?«
»Sehr!«
»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«
Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über dem kleinen stillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus zuckte ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten sich mit Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?!
»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand wohl schon lange jenseits jeden Alters!
Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand meines Begleiters auf der meinen — streichelnd, schützend. Nachts schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken weit hinaus über die Baumwipfel — in den glühenden Sommertag — in das Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich entdeckte im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. Mechanisch löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. »Georg — Georg —« schrie es in mir, »nie bin ich deine Frau gewesen — wie kann ich deine Witwe sein?!«
Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: ich fühlte Männerblicke, die das Weib in mir suchten und nicht die Gesinnungsgenossin, und Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer Freundschaft. Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark blonde rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie eine Ausgestoßene. Drangen aber gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder an mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs Vermächtnis die Treue gebrochen.
Eines Nachmittags — mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu — trat eine einfache, starkknochige Frau, die weißen Haare straff aus der Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte, unbehandschuhte Hand entgegen: »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Ich sprang auf, fast hätte ich sie in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, — gleich jetzt?« Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich ließ sie nicht los und wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen Besuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit.
Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbstätigen Frauen zu untersuchen und die Resultate zu veröffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterstützen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. »Wir sind gewissermaßen ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,« sagte mir eine der Leiterinnen; »und wir schaffen zugleich die Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterin kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der bürgerlichen Frau bedienen kann,« fügte eine andere hinzu. Der Plan, etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es würde wertvolle Kräfte in den Dienst des Sozialismus zwingen, — ihrer selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir, außerhalb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden Gärten in die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verrät und seine Glut, die draußen vor den Toren die Knospen wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte ich — neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit —, sie verfolgten mich bis in meine Träume, verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte.
»Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu sehen,« sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Zündholzfabrikation — ihre Kolleginnen — organisiert hatte. Sie wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen?«
Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die Dame sich nicht fürchtet — und sich entschließt, unsere Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich zu allem bereit. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. »Das hat keinen Zweck,« lächelte meine Begleiterin, »es sind ihrer viel zu viele!« Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. »Was führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief mich!« antwortete sie einfach.
Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften zusammen, während die Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen Alter und Jugend verwischte ein gleichmäßiger Ausdruck, zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen über die Gassen — »Heimarbeiter«, bemerkte meine Begleiterin lakonisch —, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, und wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend über ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen von dem armen rhachitischen Körper. Er weinte nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung.
Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. »Nehmen Sie sich in acht,« warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen Häuser traten, »die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich hinter ihr vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir stießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein schwerer grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen, gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der Bewohner dahinter, während das Rattern und Quietschen schlecht geölter Nähmaschinen jeden anderen Ton verschlang. Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und Frauen um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens versuchte, spärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenster standen die Maschinen, von zwei Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln Köpfe hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne mich prüfend an. »Russische Juden,« sagte meine Begleiterin und wandte sich dem finstersten Winkel des Zimmers zu. Eine durchsichtig weiße Hand streckte sich ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. Zögernd trat ich näher. In einem armseligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreste statt mit Kissen gefüllt, lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten sich seine fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, aber die Milch, die sie aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte ihn; erst als sie ein kleines Buch in seine schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich habe auch wieder ein Gedicht geschrieben —,« sagte er und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, am Rande dicht bekritzelt.
»Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte eine rohe Stimme neben uns. »Wenn es doch bald zu Ende wäre, — gestern spuckte er Blut auf ein fertiges Hemd —«
Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den Pfosten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Unter der nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust und sprühenden Augen. »Marianne!« — Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. — »Leben!« — wiederholte sie noch einmal mit einem langgezogenen Nachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die niedrige Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke stand ein altes Weib mit den gedunsenen Zügen der Trinkerin, auf dem feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden Füßchen zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die Türe auf: — das Mädchen von draußen stolperte, von ein paar braunen Fäusten gestoßen, ins Zimmer, zwei Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich aufs Bett, — ich floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause.
In den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. Junge und alte Weiber, von Elend, Laster und Krankheit gräßlich gezeichnet, Männer, deren Kleidung einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es in der Welt noch einmal solche Hölle,« stöhnte ich und wischte mir die Schweißtropfen von der Stirn. »O, — in Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es ebenso —,« sagte meine Begleiterin ruhig.
An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen zu einem schwarzen Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen vorwärts, — alles machte uns Platz, — die Uniform der Heilsarmee war wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. Auf dem Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. »Er hat sie hinausgeprügelt,« schrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte wütend die Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menschen um uns her kam ein seltsames Leben, sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, — sie kehrten zurück, — auch der Elendeste mit vollen Händen. Tücher, Kissen, Decken breiteten sich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen mit gekrümmtem Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, ein alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher und legte mit zitternden Händen seine zerschlissene Jacke über die Jammernde. Ein Sekunde lang war es ganz still, — das Leben schien den Atem anzuhalten, da — ein gellender Schrei, der die Nacht zerriß, — das Kind war geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt in dem Schoß der Nächsten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen Wangen, die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, suchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes Röcheln, — es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz der Straße die Genossen ihres Jammers ...
Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich.
Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn ich die Macht der Gewerkschaften preisen hörte — »die Sattgewordenen vergaßen zuerst der Hungernden« —, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und Einheitlichkeit sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem Ertrinken zu retten, und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen Platz zu schaffen.
»Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!«
Der junge Student, der vor mir stand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er war gekommen, mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek meines verstorbenen Mannes behilflich zu sein.
»Mit wenigen Ausnahmen, — ja!« antwortete ich mit erzwungener Ruhe. »Sie sehen selbst: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, — und außerdem werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen Fabrikinspektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab sich stumm, gesenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, daß ich sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem letzten, was ich besaß, Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, — einen schönen hohen Marmorblock, auf dem in großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun auch der meine war: »Wir leben durch die Menschen, laßt uns für die Menschen leben.«
Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über meine Verschwendung geschrieben: »Ein schlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen, die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so schrecklich vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit meiner Rückkehr aus England gelaufen, um eine Wohnung zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich sie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, die eine riesige gemalte Schweizer Landschaft schmückte. Zu allerhand öder journalistischer Tagesarbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der übrigbleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog ich um, bis dahin mußte auch sie festere Gestalt gewinnen.
Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Interesse für die Sache voraussetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich, sehr zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan hat meine volle Sympathie,« schrieb mir eben Theodor Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob er sich in seinem vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt. Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich vortreffliche Reformbestrebungen gerade daran, daß das Ziel von vorn herein zu weit gesteckt ist. Meines Erachtens sollte man zunächst einmal an eine Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das sub 1 Ihres Programms ja auch in Aussicht genommen ist. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings zusammenwirken und Vorurteile — speziell auch gegen die Sozialdemokratie — dürften keine Rolle spielen ... Leider ist meine Arbeitskraft schon anderweitig so stark in Anspruch genommen, daß ich wohl mitraten, aber nicht mittaten kann ...«
Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen vor der Gefahr sozialpolitischer Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten sich oft. »Auf alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht gewählt,« hieß es in einem Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethischen Gesellschaft, an mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das unverantwortliche, antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie selbst solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der Augenblick, um zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitalien finden, die Ihnen zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernsteres Verständnis der Sache zutraute, war gleichfalls voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst die Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig sein sollen,« hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die Gewissen einlullt, das Selbstvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben wird.
Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen — Arbeiterinnen wie sie —, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir der weitaus wichtigste erschien, zu erbitten.
»Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« wandte ich mich an den Studenten, der vor den letztem Regalen des Bücherschranks hoch oben auf der Leiter stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.«
Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen und strich sich die dichten schwarzen Haare aus der heißen Stirn.
»Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich um und rieb die roten, knochigen Hände wie fröstelnd aneinander. Ich nickte, denn schon hörte ich draußen die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.
»Ach, — wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte —,« damit senkte er den Kopf tief auf meine Hand.
In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die drei Frauen traten ein. Sie sahen uns, wechselten sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein leises spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen der einen, der großen, hageren; — ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen, beschlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die Anwesenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt hatte, — aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen einer freien Weltanschauung?! Ich richtete mich gerade auf, zog meine Hand aus der sie noch immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen Verbeugung drückte sich der junge Student an den neuen Gästen vorbei zur Türe hinaus.
Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen die erste Verlegenheit. Sie hatten sich in den besten Sonntagsstaat geworfen und saßen kerzengerade auf den weichen Lehnstühlen; bei jeder Bewegung krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und die vielen bunten Blumen auf ihren Hüten schwankten hin und her. Nur Martha Bartels, die nicht zum ersten Male hier war, gab sich ungezwungener.
Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen Näherin hatte sich seit unserem letzten Zusammensein verändert.
»Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes mitzuteilen,« sagte sie mit einem leisen gönnerischen Ton in der Stimme, den sie damals noch nicht gehabt hatte, als sie mich »Frau von Glyzcinski« nannte. Freilich, sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt nur eine Novize in ihren Reihen —, dachte ich und bezwang die gereizte Stimmung, die sich meiner zu bemächtigen drohte.
Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erwärmend, setzte ich ihnen meine Pläne auseinander. »Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,« schloß ich; »wir können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit ihnen geschieht —«
Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetassen, stießen einander unter dem Tische an und wollten nicht mit der Sprache heraus. »Ja —,« meinte Martha Bartels schließlich gedehnt, »das ist ja alles ganz schön und gut, aber was uns das eigentlich angeht —! Wir wissen doch längst, wie's bei uns aussieht, und um die Neugierde der Bourgeoisdamen und -herren zu befriedigen, oder sie gar in unseren Organisationen herumstänkern zu lassen, — dazu sind wir nicht da.«
Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen giftigen Blick zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen mit gutmütigen braunen Augen, drehte sich hastig auf dem Stuhle um, so daß die Sprungfedern knackten. »Da bin ich nun ganz und gar anderer Meinung,« rief sie, »wir wären schön dumm, wenn wir so eine Unterstützung von der Hand weisen wollten. Wir haben, weiß Gott, keinen Überfluß an Kräften, und wenn wir sie noch dazu nach unserem Gutdünken benutzen können —«
Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern auf dem Tisch. »In meinem Kreis, Genossin Wiemer, kann ich dafür keine Stimmung machen,« sagte sie scharf.
»Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend Frauen haben Sie neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson gewählt, — das macht den Kohl nicht fett!« spöttelte die Angeredete. »Die Männer haben, gottlob, auch noch ein Wörtchen mitzureden!«
Frau Resch kicherte: »Sie freilich meinen immer, Sie haben die Männer am Bändel —!«
Stumm, in wachsender Verblüffung hörte ich der Debatte zu, die sich mehr und mehr ins Persönliche verlor.
»Im übrigen: was ereifern wir uns,« sagte Martha Bartels endlich, während sie sich mit hochrotem Gesicht in den Stuhl zurücklehnte. »Zu allererst werden wir doch Genossin Orbins Urteil hören müssen.«
Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war die anerkannte Führerin der Arbeiterinnen-Bewegung, eine Frau, die ich aus der Ferne schon längst zu bewundern gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit ihrer Rednergabe vermochte sie alles mit sich fortzureißen.
Meine Gäste verabschiedeten sich, kühl und verlegen. Nur Frau Wiemer schüttelte mir kräftig die Hand und zögerte beim Hinausgehen. »Wir reden noch mal miteinander — unter vier Augen,« flüsterte sie.
Enttäuscht — mutlos blieb ich zurück. Tiefes Verständnis, freudige Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit hatte ich erwartet —!
Am nächsten Morgen kam ein Brief von Martha Bartels: »Seit gestern weiß ich nicht, ob Sie wirklich unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen, das kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie mit der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen haben, und deshalb können wir kein rechtes Vertrauen gewinnen. Ich sehe nun, daß man immer unrecht tut, wenn man den schönen Gefühlen der Bourgeoisdamen Glauben schenkt.« Hatte sie zu ihrer Enttäuschung nicht ein größeres Recht als ich zu der meinen? War mein ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Versuchte ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen, damit ich nur selbst fein säuberlich auf dem normalen Mittelweg mich erhalten konnte?
In meinen Hoffnungen und Wünschen sehr herabgestimmt, machte ich mich in den nächsten Tagen auf den Weg, um die Führer der sozialdemokratischen Partei aufzusuchen, bei denen ich mich schon angekündigt hatte.
Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte draußen in der Kantstraße, wo inzwischen das neue Berlin aus der Erde schoß wie eine wildwuchernde Urwaldpflanze. In der Tauentzienstraße, die vor fünf Jahren nicht viel mehr als ein breiter Feldweg gewesen war, reihte sich ein Neubau an den andern, — hohe vier- und fünfstöckige Häuser, mit lauter Wohnungen zu neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum nur her, der so üppig zu wohnen vermochte? dachte ich. Und weiter nach dem Westen zogen sich Straßen und Straßen hinaus, — lange Spinnenarme, die über die Felder griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine schwarze schmale Linie, am Horizont auftauchte. Ratternd und fauchend bewegte sich die Dampfstraßenbahn den Kurfürstendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine gemütliche einstöckige Häuschen zwischen Birkenwäldchen und Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum Opfer gefallen! Und der Riesenbaum, der an der Straßenkreuzung ein Wahrzeichen der Gegend gewesen war hatte einer Kirche weichen müssen. Gut, daß er fiel, dachte ich; wie hätten die Mauern den alten Recken beengt, wie hätte seine trotzige, rauhe Schönheit ihre Fassadenpracht Lügen gestraft. Die Kirche hatte sich noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte sie sich zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt.
In die Kantstraße bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbrücke, im dritten Stock, wohnte Liebknecht. Er empfing mich vor einem alten Schreibpult in seinem winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren und Zeitungen war, so daß dazwischen kaum ein freier Raum zum Treten übrig blieb. Sein hartgeschnittenes Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, der unter buschigen Brauen wie abwesend über einen hinwegsah, den wirren dunkeln Haaren über der hohen geraden Stirn, dem grauen ungepflegten Bart um das breite Kinn und den seltsam schiefstehenden großen Mund, dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken speckig glänzte, das Hemd darunter mit dem weichen halboffenen Umlegekragen, die ausgetretenen Pantoffeln an den graubestrumpften Füßen, — das alles wirkte zunächst wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die Hand, die weich und zart war, — ich mußte ihn wirklich noch einmal betrachten, um zu glauben, daß sie diesem Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich wäre ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erzählte ihm auch von meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er lächelte mit einem gutmütigen Spott in den Augen. »Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat geben?« sagte er. »Kümmern Sie sich nicht um sie, wenn Sie was erreichen wollen. Die sind noch rückständiger als die Männer, können gar nicht anders sein. Wo sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die armen Weiber?! Schon alles mögliche, wenn sie rein aus ihrem proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.«
Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten, es interessierte ihn offenbar nicht; dagegen rief der Name England eine Flut von Gedankenverbindungen in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos bourgeoisen Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns und den Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen Föderation, die allein den Marxismus in England repräsentierten, verkehrt habe. Mit den sprunghaften Übergängen eines glänzenden Geistes, der weder die Fähigkeit hat, auf die Interessen des anderen einzugehen, noch die Fähigkeit, sich in eine Frage zu vertiefen, kam er von da auf unsere auswärtige Politik zu sprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands den offenbaren Weltmachtgelüsten unseres Kaisers gegenüber, auf Rußland, an das wir um so näher uns anschließen würden, je weiter wir von England abrückten, auf den künstlich ausgepeitschten Hurrapatriotismus der Kriegserinnerungsfeiern der Gegenwart, der letzten Endes nur dazu da sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen und die gescheiterte Umsturzvorlage in anderer Form wieder aufleben zu lassen.
Mir war diese Gesprächswendung unbehaglich. Gut, daß ich, ohne aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten die Eierschalen der Vergangenheit noch so fest an mir, daß die Artikel des »Vorwärts« über die Gedenkfeiern an den »brudermörderischen Krieg« mir das Blut in Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit und Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all die mit Orden und Bändern behängten Kriegervereinler, die sich wie die Wilden an der blutigen Unterdrückung eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten. Liebknecht war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art von Chauvinismus ein Fanatiker. »National gesinnt ist meines Erachtens nur, wer das Recht und das Wohl anderer Nationen ebenso zu achten weiß, wie das der eigenen,« sagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte international, während ich nur die Idee der Internationalität kühl verstandesmäßig anerkannte. Ich sprach das aus, und er nickte eifrig: »Natürlich, — das ist der Unterschied, — und der kommt zum großen Teil daher, daß das Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das Vaterland nahmen und die Welt zur Heimat machten. Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der Arbeit über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, ist von Herzen international, und die Hammerstein und Konsorten,« — er lachte boshaft —, »die sich vom Vaterland den Schmerbauch mästen lassen, predigen uns Verruchten Patriotismus!« Er unterbrach sich und stand auf. Ich wollte gehen »Daraus wird nichts, — nun müssen Sie noch bei meiner Frau Kaffee trinken.«
Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau Major X. in Bromberg und bei Frau Hauptmann Z. in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen —, nur daß hier statt der Familienbilder die von Marx, Engels und Lassalle an den Wänden prangten, statt des Stichs der Sixtina Walter Cranes Maifestzug, und ich damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt wurde. Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen Häusern, der Bildung und Lebensform nicht die Haut war, sondern das Kleid. Ihm war ich irgendwer gewesen, ihr: »Frau von Glyzcinski.«
Es dämmerte schon, als ich mit ihm das Haus verließ. Er ging in seine Redaktion, ich in die Ansbacherstraße, wo ich die Eltern aus Pirgallen zurückerwarten sollte. »Und für meinen Plan kann ich auf Ihre Unterstützung nicht rechnen?« fragte ich nun doch noch einmal. Er blieb stehen. »Meine Unterstützung?! Das würde keinem von uns nützen. Überlegen Sie sich's selbst noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterstützung wert ist!«
Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern und Schwester empfing, und auch sie schienen erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die Lippen fest zusammengekniffen, so daß sie nur noch wie ein schmaler, blasser Strich erschienen, der Vater war feuerrot im Gesicht und räusperte sich ununterbrochen, Ilschen hatte verweinte Augen. »Alles ging so gut,« flüsterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer getreten waren, und hielt mich im Flur zurück, »da kam es gestern abend wegen der dummen Hammerstein-Geschichte zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel Walter und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanständig, sagte er, während Onkel es für notwendig erklärte im Interesse der Partei. Schließlich schimpfte Papa — du kannst dir denken, wie —, und Onkel sagte, Papa habe sich wohl bei seiner Tochter, der ›Genossin‹, angesteckt, — ein Wort gab das andere, Onkel zeigte Papa schließlich die Kreuz-Zeitung mit der Notiz über dich — —«
»So, — nun haben wir miteinander zu reden —,« unterbrach meines Vaters vor Erregung rauhe Stimme die Schwester. Es war ein förmliches Verhör ...
»Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch nicht —,« sagte ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit geschlossenen Augen in den Stuhl zurück. Ich wollte fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: »Genug — genug! Mehr will ich nicht hören — mehr nicht!« Dann erhob er sich schwerfällig, ging zum Schreibtisch und setzte ein Telegramm auf: »Baron Walter von Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange nunmehr von dir Ehrenerklärung. Hans.« Ich wollte widersprechen, — des Vaters rotunterlaufene Augen blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm mit bittender Gebärde die Hände —, ich schwieg. War es Feigheit? War es Rücksicht? Oder nichts als schlaffe Ermüdung?
Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, daß die Gartenwohnung auf derselben Etage frei geworden sei. »Wir hätten andernfalls umziehen müssen, nun ersparen wir das, und du ziehst einfach hierher,« sagte der Vater; »dann haben wir Alten wieder unsere beiden Töchter,« fügte er mit einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu und streckte mir über den Tisch die Hand entgegen. Nur zögernd legte ich die meine hinein.
»Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachtest, aber ich habe schon eine Wohnung.« Er brauste wütend auf. Schweigend ließ ich den Wortschwall über mich ergehen.
»Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,« sagte ich dann fest, »meine Freiheit opfere ich euch nicht ...«
Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause. Über die menschenleere Straße schwankten ein paar Betrunkene. Wie fürchtete ich mich sonst vor ihnen, — gleichgültig schritt ich heute vorbei, — meinetwegen hätten sie mit mir tun können, was sie wollten. Ich war ja gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, das einst lebendig war. In meiner einsamen dunkeln Wohnung warf ich mich angekleidet aufs Bett und grübelte stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich eigentlich den Morgen erwarten müßte — und den Tag — und wieder einen Tag, und so in endloser Reihe die ganze Leere des Lebens?!
In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf mir. Die Sonne strahlte durch die grünumsponnenen Fenster, über die lachenden Gärten, — wäre ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich nichts sah, als eine gemalte Landschaft! Von innerer Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, blieb vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf einem halb unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. Ich saß allein vor dem alten verräucherten Kaffee Josty und sah über den Potsdamer Platz hinweg den Menschen nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und unter die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gefühl von wohliger Wärme überkam mich, wenn bewundernde Blicke mich trafen, — ach, und Sehnsucht packte mich, unbändige Sehnsucht nach Lebensfreude.
Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner alten Tänzer; er hatte den schlechtesten Ruf und war doch einer der verwöhntesten Männer der berliner Gesellschaft. Eine aufreizende, schwüle Atmosphäre verfeinerter Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender Blick aus halbgeschlossenen Augen, sein weicher, langsamer Händedruck ließ die Frauen erröten, denen er sich näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender Freund. »Ihre Blässe erhöht zwar nur Ihren Reiz, schönste Frau,« sagte er, »aber im Verein mit Ihrer sylphidenhaften Gestalt« — seine Blicke wanderten förmlich über meinen Körper — »finde ich sie beängstigend. Sie brauchen Sonnenweide wie ein Rassepferd. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich ein paar Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den Grunewald fahre oder nach Wannsee?« Trotz meiner Ablehnung, die nicht sehr energisch gewesen sein mochte, hielt sein elegantes Juckergespann am nächsten Morgen vor meiner Türe. War das wonnig, so in den jungen Tag hineinzurollen; mit geschlossenen Augen vorbei an den öden Feldern des Kurfürstendamms, in den Grunewald hinein, dessen vereinzelte Villen sich rasch verloren, bis zu dem kleinen Försterhaus am stillen See, in dem die Sonne sich, ihrer Schönheit froh, eitel bespiegelte. »Wie Sie genießen können!« sagte Graf Oer, als wir beim Frühstück im Gärtchen saßen. »Und Sie wollen lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist so schön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, — lassen Sie mich Ihr Führer sein —« Ich fühlte seine feuchten, kühlen Lippen auf meiner Hand, sein Knie dicht an dem meinen, — ein unbezwinglicher Ekel schnürte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf, raffte mein Kleid und verließ ohne ein Wort, ohne einen Blick den Garten. Waren Genuß und Gemeinheit Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins Kloster gehen!
Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten und wichtigsten Besuch, den ich im Interesse des Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er lud mich zum Mittagessen ein, »dabei läßt sich am besten besprechen, was Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft interessiert.«
In der Großgörschenstraße wohnte er, einer jener neuen Straßen, die jede Fassadenpracht verschmähte und deren üppiger Blumenschmuck verriet, daß die vielen kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren.
Ein lächelndes Dienstmädchen in blendend weißer Schürze öffnete mir auf mein Läuten an der blank geputzten Klingel. Ein leichter Geruch nach frischer Seife drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das ich betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß sich die Bilder an den Wänden darin spiegelten. Die vollkommenste Einfachheit herrschte hier, jede Spur künstlerischer Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch, Nichtvorhandenes vortäuschen zu wollen. Die kleine, runde Frau, die mich herzlich willkommen hieß, mit der schwarzen Schürze über dem schlichten Kleid, den von Güte strahlenden Zügen unter den glatten Scheiteln, war wie ein Teil dieses Raumes. Sie nötigte mich in den Lehnstuhl neben dem Nähtischchen am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend.
»So eine arme, junge Frau,« sagte sie mitleidig; »ich mußte oft an Sie denken und an Ihre Einsamkeit, — ich wäre längst bei Ihnen gewesen, wenn ich nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erscheinen.« Mir wurden die Augen feucht, — meiner Einsamkeit hatten sich auch die Nächsten nicht erinnert. Mit jener Kunst verständnisvollen Zuhörens, die selbst die beste Erziehung nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des Herzens fehlt, ließ sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und Wirtschaftskümmernissen erzählen. »Was, im Wirtshaus essen Sie —?!« Sie schlug die Hände erstaunt zusammen. — »Kein Wunder, daß Sie so blaß und schmal werden; ordentlich herausfuttern müßte man Sie —«
Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt, die glänzenden Augen gerade auf mich gerichtet, während ein Büschel Haare ihm keck, wie bei einem Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand — zu schwer fast für den schmächtigen Körper — fühlte ich meine Finger umschlossen. »Ich freue mich Ihres Besuchs —,« seine Stimme klang im Zimmer viel weicher und voller als auf der Rednertribüne, »— nicht mehr allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach dem Schriftstück hier —,« er hielt das Programm des Zentralausschusses in der Hand, »— haben wir von Ihnen viel Gutes zu erwarten.«
Er nötigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum mit wenigen gestrichenen Holzmöbeln, blank gescheuerter Diele und musterhafter Ordnung. Wir erörterten alle Einzelheiten meines Plans.
»Sie können mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo die Regierung nicht eine, sondern hundert Lücken gelassen hat. Unsere Beteiligung freilich wird sich wohl nur auf Ratschläge beschränken.«
»Damit ist mir nicht gedient!« rief ich. »Wie können wir in die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter Einblick gewinnen, wenn Sie uns nicht die verschlossenen Türen öffnen.«
»Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!« lachte er. »Ich könnte etwa den Gewerkschaften befehlen, Ihren Bestrebungen Vertrauen entgegenzubringen, oder gar unseren Frauen!!«
Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir je so gut gemundet wie dieses einfache Mittagsmahl. Die besten Stücke wurden mir auf den Teller gehäuft.
»Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht trübselig allein an einer schmuddeligen Wirtstafel sitzt!« sagte Frau Bebel, befriedigt über meinen Appetit. Sie schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein paar besänftigende oder entschuldigende Worte ein, und als er gegen die Junker wetterte, sah sie zuerst ihn, dann mich vielsagend an.
»Ach soo —,« er unterbrach sich ein wenig verlegen, »— Sie gehören ja am Ende auch zu ihnen! — Aber mein Schimpfen ist wahrscheinlich ein sanftes Flötenspiel gegen die Töne, die angesichts der Kreuzzeitungsaffäre in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden. Der Fall Hammerstein, diese Dekouvrierung eines der Edelsten und Besten, kommt den privilegierten Beschützern von Religion und Sittlichkeit gerade jetzt gewaltig in die Quere. Und die Sache ist noch lange nicht zu Ende, — die ganze Kreuzzeitungspartei, die den jungen Kaiser vor ein paar Jahren als Zugpferd vor ihren eignen Wagen spannen wollte, wird daran glauben müssen.« Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend, über die politische Lage und die nächsten Zukunftsaussichten. Er sah überall Symptome für den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft, und auf der anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. »Die Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten sein wird, ist der Anfang vom Ende. Sie appelliert zwar an die stärksten, an die brutalen Instinkte, aber sie führt schließlich mit Notwendigkeit zur Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in die Arme, — gewisser, als alle Agitation von unserer Seite es vermöchte. Selbst ein möglicher Weltkrieg zwischen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt der Revolution.«
Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft zu dieser ans Fatalistische streifenden Auffassung von der Entwicklung zum Sozialismus und warf in diesem Sinn eine bescheidene Frage in die Unterhaltung: »Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zuschauer die Hände in den Schoß zu legen, wenn uns die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos fest steht?«
»Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt! Müssen wir nicht die Menschen für diese Entwicklung vorbereiten?«
»Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck —?«
»Sondern nur Mittel zum Ziel,« rief er lebhaft, »und ihr Wert ist nur von diesem Gesichtspunkt aus zu bemessen!«
»Wie habe ich danach Ihr Interesse für meinen Plan einzuschätzen?« frug ich lächelnd. »Als bloße Höflichkeit etwa?!«
»Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch nur, weil eine gesunde, kräftige Arbeiterschaft, die Zeit hat zum Denken und zum Wirken, die Armee ist, die wir haben müssen.«
Ich streifte mechanisch die Handschuhe über die Finger. Mein Herz schlug in dem raschen Takt der Melodie, die dieser Mann angeschlagen hatte. Der Glaube an die Sache —, das war das Unüberwindliche in ihr. An der Tür hielt mich Bebel noch einmal auf: »Ich rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas im Kreise unserer Genossinnen erreichen wollen, — setzen Sie sich mit Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie zu ihr. Ist sie gegen Ihren Plan, so haben Sie alle miteinander gegen sich!«
Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin, um ihr meinen Besuch anzukündigen; zugleich bat ich sie, in ihrer Zeitschrift, der »Freiheit«, meine Idee zur Diskussion stellen zu dürfen. Sie antwortete umgehend, aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn mein Weg mich über Stuttgart führe, so würde ihr mein Besuch willkommen sein; zu einer Reise, eigens ihretwegen, könne sie mir jedoch nicht raten, da sie zwecklos sein würde; von einer Veröffentlichung meines Plans in ihrer Zeitschrift könne auch keine Rede sein: »... die ›Freiheit‹ ist ein rein sozialdemokratisches Blatt, an dem ich grundsätzlich nur solche Mitarbeiter zulasse, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.« Trotzdem beschloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, um die Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren Leben und deren Persönlichkeit ein wahrhaft vorbildliches zu sein schien. Bebel, den ich in dieser Zeit öfter sah, erzählte mir viel von ihr: wie sie sich mit Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe verbunden habe, ihm nach Paris in Elend und Verbannung gefolgt sei und das schwere Siechtum, das über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte, in seinem Namen Artikel schrieb und mit zwei kleinen Kindern und dem kranken, ständiger Pflege bedürftigen Mann nicht nur das tägliche Brot für alle schaffte, sondern auch imstande war, für die Partei unermüdlich zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser Leistungskraft; meine Schmerzen, meine Kämpfe schrumpften davor kläglich zusammen.
»Ihre Nerven freilich hat sie dabei ruiniert,« fügte Bebel schließlich hinzu.
An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels zu mir geladen. Längst erloschene Gesellschaftsvorfreuden empfand ich wieder in der Erwartung dieser Gäste. Zum erstenmal vermißte ich schmerzlich all die vielen graziösen Geräte, mit denen ich als Haustochter die Festtafel zu schmücken verstand, — ich hatte nicht einmal genug Messer und Gabeln! Schweren Herzens entschloß ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am notwendigen fehlte.
»Du gibst Gesellschaften?« frug Mama erstaunt. »Kaum ein halbes Jahr nach dem Tode deines Mannes?!«
»Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses —,« antwortete ich ausweichend, während die Scham über diese verlogene Geheimniskrämerei mich erröten machte. War es Zufall oder Absicht, daß mein Vater, kurz ehe ich meine Gäste erwartete, zu mir kam und Anstalten machte zu bleiben? In quälender Angst saß ich vor ihm, alle erdenklichen Gründe ersinnend, um ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen. Endlich stand er auf. »Meine eigene Tochter wirft mich hinaus,« sagte er mit einem müden, wehen Ton in der Stimme. »Lieber — lieber Papa! —« ich schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. In diesem Augenblick kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, auf den ich mich so gefreut hatte, war für mich eine Qual.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. Ein unbestimmtes Hoffen, das wie durchleuchtet war von froher Ahnung, erfüllte mich: irgend etwas ganz Ungewöhnliches würde geschehen. Auf dem Bahnhof empfing mich Frau Orbin. Ihre Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir vorgestellt hatte. Ich sah zunächst nichts als eine breite untersetzte Gestalt und einen großen Hut mit zerzausten Federn, der windschief auf ihrem Kopfe saß und ihre Züge beschattete. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, als sie ihn abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des Hotels zu mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um Stirn und Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des Regenbogens spielend, sahen mir gerade ins Gesicht, auf der Stirn, um Nase und Mund gruben sich kleine senkrechte Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung der Wangen in peinlichem Mißverhältnis standen. Ohne alle Höflichkeitspräliminarien begann sie sofort meinen Plan rücksichtslos zu zerzausen. Sie sprach mit nervöser Überstürzung, die Worte jagten einander, als wollte eins das andere verschlucken. »An eine Zusammenarbeit von uns und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken. Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden sein —,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, — »so würde ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. Der politische Kampf ist für uns das A und O. Darum ist jede Harmonieduselei mit bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. Nicht die Gegensätze überbrücken, wie bürgerliche Idealisten und Ethiker wünschen, sondern sie auf das Schärfste betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche Scheidung, — ohne Konzessionen.«
Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und ein feines ironisches Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Das ist freilich nicht immer ganz bequem, aber für Menschen wie Parteien die einzig mögliche Grundlage ihrer Existenz.«
Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. Hätte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen schien der Besuch keinen Zweck mehr zu haben.
In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing sie mich, aber ein unbestimmtes Etwas, sei es die Wahl der Bilder, der Fall der Vorhänge oder nur die ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden frischen Buben hereinstürmten, rotwangig und glänzenden Auges, sah ich hinter der Rüstung der Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war sie! — Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan, die sie so zärtlich umschließen. Die Kinder und die Natur schienen Wanda Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie sprach über Kunst und Literatur mit dem Verständnis eines selbständigen Geistes und der Wehmut unglücklich Liebender. »Das alles ist eingeschlafen, hat einschlafen müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« sagte sie schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den fiebrigen Glanz des Fanatismus.
Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinstürzte, atemlos eine Depesche hin- und herschwenkend, während ihm hinter den Augengläsern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. »Engels — Engels ist tot —,« stieß er mühsam hervor. Mit einer abwehrenden Bewegung der Hände — breiter kurzfingeriger Hände, die aussahen, als hätte der Bildhauer Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und vergessen, sie auszuführen — starrte Wanda Orbin dem Unglücksboten sekundenlang ins Gesicht. Dann warf sie die Arme empor und brach in ein konvulsivisches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen, dachte ich, und schob ihr vorsichtig einen Sessel zu, in dem sie haltlos versank. Inzwischen hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden tauschten miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich um die weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer beängstigender Stille hin und her. Eine Familie war dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte als das Blut: aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entsprang die Tiefe gemeinsamer Trauer um den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß ich dazu gehörte.
Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, — sehr weich, sehr liebevoll. »Sie hätten bleiben dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,« sagte sie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und Kämpfen der letzten Wochen. Ich sah, wie sie lächelte, — nachsichtig wie eine Mutter über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,« meinte sie dann. »Ich weiß nur eins gewiß: ist Ihre Überzeugung erst vollkommen klar und unerschütterlich, so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl, wie Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung zu gelangen, das ist freilich das schwerste. Die Logik der Tatsachen, die Lebensverhältnisse pauken dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die sich der bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der bürgerlichen Ideen abzulegen. Es ist so furchtbar schwer, aus seiner Haut zu fahren, sich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach innen.
Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir jetzt zur Ausführung meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am besten zur Klarheit kommen, und an Rat und — inoffizieller — Hilfe von ihr sollte es nicht fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften in Verbindung, und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern, die infolge der Bewegung, in der sie augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine Unterstützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen Sie unseren Genossen Dr. Heinrich Brandt für sich zu interessieren. Gewinnen Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: er setzt alles durch, was er will.«
Dr. Brandt! — Ich schloß unwillkürlich die Lider, verloren in Erinnerung. »Alle Ströme fließen in unser Meer,« hörte ich eine dunkle klingende Stimme sagen, und flüchtig — ein Traumbild — tauchte ein Mann vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen versanken sekundenlang in den meinen.
Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes Reinhard, den Führer der Konfektionsarbeiter-Bewegung, und an Heinrich Brandt. Reinhard kündigte mir umgehend seinen Besuch an; kurz darnach bestimmte Brandt dafür dieselbe Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, über deren Ursache ich mir nicht so recht klar war, wollte ich Reinhard abschreiben, um den anderen bald und zuerst zu sehen. Über mich selbst errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu verschieben. »Schade,« antwortete er mir, »ich wäre gern gleich gekommen. Vorgestern las ich in der wiener ›Zeit‹ einen Artikel von Ihnen, der mich so entzückte, daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in mir rege wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am selben Morgen Ihr Brief.«
Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke, das Gesicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der Egidyversammlung gesehen hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie festgeklebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen.
»Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig sogar in diesem Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillstand der Sozialreform nicht nur zugab, sondern verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,« begann er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das linke Bein gerade ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. »Wir stehen in der Konfektion seit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine Ruhe läßt — —«
»Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten handelt es sich,« unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß könnte nichts Besseres beginnen, als Sie darin unterstützen.«
Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, und so brauche ich nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß auch nirgends reicheres Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen gelesen habe, würden die berliner nicht nachstehen.«
Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Nicht einmal in der Nacht, wenn ich aus Versammlungen gekommen war, hatte ich so bittere Not gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.
»Unsere Ärmsten schämen sich, — das ist vielleicht der letzte Rest Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit Wochen mache ich fast nichts anderes als Besuche bei den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem alten gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen hoch, ein einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige Küche mit ihrer Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts um elf trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante Damenblusen, für die sie ganze fünf Mark wöchentlich einnimmt.« Reinhard erhob sich, rote Flecken brannten auf seinen Backenknochen, und während er weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin und her. »In einem anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten zwei Schwestern, — junge, bleichsüchtige Dinger, — für die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. Ist die Ehre, die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, — hätte ich ihnen am liebsten zugerufen. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, sah ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlafmädchen; den Mann zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs, die Frau näht Knopflöcher für ganze vier Mark in der Woche,« — klipp — klapp — klipp — klapp, — rascher und rascher schlug Reinhards Krücke den Takt zu der grausen Melodie —; »eine arme Mutter fand ich in einem sonnenlosen Winkel im Norden, sie nähte Hemden, halbfertig lagen sie auf dem Bett, wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. Und, denken Sie nur«, — er blieb stehen und lachte grell auf, »— einen schneeweißen Mantel, bestimmt für nackte Schultern schöner Frauen, sah ich einmal in den Händen einer Syphilitischen —«
»Um Gottes willen — hören Sie auf!« Auch ich erhob mich. »Warum schreien Sie diese Tatsachen nicht auf öffentlichem Markte aus? Warum kleben Sie Ihre Berichte nicht an alle Straßenecken? — Kein Reichskanzler würde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform zu verteidigen.«
»Wir sind dabei, es zu tun,« antwortete er, und seine Sprechweise nahm wieder den Ton der alten sachlichen Ruhe an. »Eine Broschüre, an der ich arbeite, wird allen maßgebenden Persönlichkeiten zugeschickt und unserem diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außerdem, wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative gestellt, Betriebswerkstätten einzurichten, oder einer allgemeinen Arbeitseinstellung gewärtig zu sein. Kommt es dazu, so wird die Öffentlichkeit sich mit uns beschäftigen müssen. Übrigens: —,« er dachte einen Augenblick nach, »wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres Zentralausschusses auf eigene Faust beginnen und mich bei meinen Recherchen zuweilen begleiten würden?«
Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der nächsten Zeit brachte ich fast täglich ein paar Stunden mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die ich noch nie gesehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die Häuser regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht; die Öde des Anblickes nur noch erhöht durch die äußere Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten durch enge Höfe in dunkle Hinterhäuser, die das Licht der Straße nicht mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen ihrer Not enthüllten. Nach Osten, nach Süden führte uns der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt schon preisgegebenen Boden hohe Mietskasernen an zerwühlten, werdenden Straßen standen. Hier, zwischen den feuchten Wänden, hauste das Elend und starrte uns an mit den glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die grausamer in die Seele schneiden als die wildesten Schreie der Verzweiflung.
Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter Laternen kamen und das Licht der Friedrichstadt uns blendend empfing, haftete mein Auge staunend an den glänzenden Spiegelscheiben der Läden und der Restaurants. Prahlend breiteten sich hinter den einen all die Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper schmücken, das Leben bereichern; lachend, scherzend, mit vollen Taschen und glänzenden Augen saßen hinter den anderen die reizenden Frauen, deren einziger Daseinszweck ihre Schönheit zu sein schien, und die Männer, die ihnen huldigen. Wie war es nur möglich, daß die von draußen, aus den grauen Häuserzeilen und den werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leisen Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um all die Pracht zu zertrümmern, das Lachen erstarren zu machen?!
Und in meinem Herzen nistete der Haß sich ein für alle die, die nicht mehr hassen konnten.
Am frühen Morgen des 18. August war es. Eine arme Frau hatte ich besucht, die ich auf einem unserer Wege gefunden hatte. Sie war sterbenskrank, — ach, und wie gern wollte sie sterben, wenn nur die Kinder nicht gewesen wären, die sie fester als alle Arzeneien der Welt ans Leben ketteten. Die durchsichtigen Finger durften sich nicht zum Schlafen friedlich ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die weiße Leinwand fest, um zierliche Namenszüge, stolze Freiherrn- und Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung hatte ich ihr gebracht, — Hoffnung, daß sie bald ruhig werde sterben dürfen. Nun ging ich nach Hause, den Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königsstraße geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich mit sich riß: geputzte Frauen mit jenem aus Neugierde, Aufregung und Nervenspannung gemischten Ausdruck in den Zügen, der gewöhnliche Menschen bei allen großen Ereignissen, — seien es Feuersbrünste oder Hochzeitsfeiern, — charakterisiert, Männer im Sonntagsstaat, irgend eine Medaille oder ein Kreuz auf der Brust, das in diesen Tagen der Freibrief für alles war: Betrunkenheit — man nannte sie Begeisterung —, Roheit gegen Nichtdekorierte, — man nannte sie Vaterlandsliebe. Ich sah um mich: Fahnen flatterten von den Häusern, Straßenverkäufer boten mit krähender Stimme Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel, Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des Nationaldenkmals war heute.
Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte Liebesbriefe, hatte der Vater gestern die Generalsuniform aus ihren Seidenpapierhüllen herausgeholt, hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden selbst mit einem Lederläppchen abgestaubt und war gewiß heute früh, voll Erregung, zum Schloß gefahren.
Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht mehr, ein Zurück noch weniger. Es galt, auszuhalten. Die Galawagen der deutschen Fürsten rollten vorüber in ihrer altertümlich schwerfälligen Pracht, dröhnenden Schrittes rückte die Garde auf den Schloßplatz, hinter ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, Dragoner und im blitzenden Küraß die Gardedukorps.
Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Nacken, der nach klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt der dicken, kleinen Frau neben mir stieg ein süßlicher Schweißgeruch. Mich ekelte vor der Erregung der Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst elektrisierende Musik an meinem Ohre vorüber; wie ein schlechtes Ausstattungsstück empfand ich das bunte Schauspiel vor mir. Unwillkürlich fiel mir das Modell des Nationaldenkmals ein: wie gut paßte es hierher mit seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten, seinen Fahnen, Kanonen, Gewehren und Säbeln und dem theatralisch daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers vierschrötiges Schlachtroß führt. Von seinem künftigen Standort, dem Winkel vor dem Schloß, den man noch dazu dem Wasser hatte abringen müssen, tönten Hammerschläge, Kanonendonner fiel ein, die Luft erschütternd, von tiefen Glockenklängen untermischt.
Glocken und Kanonen, — die führenden Instrumente im Orchester der bürgerlichen Gesellschaft, mit denen sie das Weinen und Klagen der Millionen zu übertönen glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der Tag wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen und die Kanonen vor ihm verstummen werden.
Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer. Wie lange war es her, daß ich nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen hatte, die nur der Ordnung meiner Haare, meiner Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder: schärfer waren meine Züge geworden und schmaler mein Gesicht, meine Gestalt aber war noch immer die eines jungen Mädchens. Ich lächelte: ›Frau‹ von Glyzcinski — und ein Mädchen, ein altes Mädchen sogar von dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt sein, — heute nicht. Ich fühlte wieder, wie ich rot wurde. Daß das Weib in mir sich nicht töten ließ! Wo doch so vieles schon gestorben war!
Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufwärterin hatte ich früh schon nach Hause geschickt, sie war so alt und so häßlich. Dem Besuch, den ich erwartete, wollte ich selber öffnen.
»Gnädige Frau?!« — Eine überraschte, fragende Stimme. Ich unterschied im Dämmerlicht der Treppe und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit dem weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapphut auf dem Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen Kleid mußte ihm nur wie ein Schatten erscheinen. Ich ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes Sonnenlicht durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal über die Schwelle trat. Ich wendete mich um, — meine Hand blieb vergessen in der Heinrich Brandts. »Wir sind uns — keine Fremden —,« stotterte ich verlegen. »Nein, — nein —,« antwortete er und sah mich noch immer an. Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen aus. Ich zuckte zusammen, setzte mich hastig, und steif und förmlich lud ich auch ihn zum Sitzen ein.
»Nein,« wiederholte er, und seine Augen ließen mich noch immer nicht los, während sein Gesicht heller zu werden schien, »— Sie sind mir keine Fremde. Kennen Sie das?« Er zog das graue Heft der Wiener »Zeit« aus seiner Rocktasche. »Im Grunde ein ganz dummer, kleiner Artikel, den Sie da geschrieben haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch steckt dahinter!«
Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten mir die Wangen, seine Stimme erfüllte die Luft um mich mit einem einzigen Wohllaut.
»Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe auch gar nicht abgewartet, bis Sie endlich die Gnade hatten, mich herzubefehlen«, — er lächelte ein wenig malitiös, »Sie haben, wie ich höre, Freund Reinhard den Vortritt gelassen, — ich habe indessen, ohne zu fragen, den Schritt getan, von dessen Erfolg Ihre ganze Sache abhängt.« Ich sah fast erschrocken auf. »Oder sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, daß Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. »Ich schrieb an einen unserer ernsthaftesten und reichsten Sozialreformer und schickte ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener Weise finanzieren wird.«
Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung ungeschickt und hölzern heraus.
»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. »Wenn jemand Dank verdient, so sind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls nichts als sein untergeordnetes Werkzeug.«
Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir seit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenschaft und Haß und Liebe brachen durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung um sie aufgeschichtet hatten.
»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel strebt,« flüsterte er wie zu sich selbst.
Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände fest ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War das ein Traum gewesen, oder hatte er wirklich hier vor mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!
Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder.
»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. »Aber Sie kommen mir vor, wie ein verflogenes Vögelchen, das sich an Scheiben und Wänden den Kopf stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie läßt.«
»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzsichtig genug, mich darin zu bestärken, wohl gar zu bewundern —«
Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« sagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das Manuskript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich reißen. »Verzeihen Sie —«, fest drückte er die Hand darauf, — »das gehört zu meinem Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich zuwandte. »'Londoner Gefälligkeit'! Haben Sie nichts Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen mir ins Gesicht.
»Sie müssen sich selbst bedienen? — Sie öffnen mir immer selbst?! —«
Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.
»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst ein wenig verschleiert klang, wurde klar und fest. »Ich kann mir ein Dienstmädchen nicht halten, und ich muß solche Artikel schreiben, weil ich von meiner Pension nicht leben kann.«
»Verzeihen Sie, — aber wie konnte ich ahnen —« Er sah mir tief in die Augen.
Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß er mich zu einem Spaziergang abholte, sei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Beglückung empfand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die Sozialdemokraten schimpfte, — »lauter Hochverräter, die man hängen sollte«, — so hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester Mantel, den die Freundschaft um mich geschlungen hatte.
Die Freundschaft! — Ich glaubte an sie, — ich wollte an sie glauben, auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten. »Sie müssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner Frau und meinen Buben. Sie ist anders wie Sie, — ganz anders, aber klug und gut, — Sie werden einander verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam aber noch immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach.
Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem schmalen Balkon des Kaffee Klose. In weichem, silbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Straße die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel, zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen Häuserreihen, und es schien, als dämpfte er selbst das Rasseln der Wagen.
»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt ich ihm einen Brief entgegen. »Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf« — Er nickte erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe keine Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich fort, »— sollten Sie auch hier meine Vorsehung gewesen sein?!«
»Und wenn dem so wäre?!«
Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob sie sehr zerbrechlich wäre, nahm er sie in die seine, — eine zarte Hand mit dichtem Geäder und nervösen Fingern.
»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, das die Nähe zweier Menschen zueinander verrät, »glauben Sie, daß ein Tag kommen könnte, an dem unsere Freundschaft uns zwingt, einander ›du‹ zu sagen?«
Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete nicht. Stumm standen wir auf, stumm fuhren wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen wir uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, die Finger erstarrten mir zu Eis.
»Alix —,« wie ein Hauch kam mein Name über seine Lippen.
»Du —,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzschlag lang fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, — dann schlug die Türe, — ich war allein.
Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und der Glanz der Abendsonne wurde zu glühenden Flammen. Wie Gesang lag es in der Luft von lauter Harfen, — meines Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. In allen Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder und stolzer Siegeshymnen sang und jauchzte es: ich liebe.
Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und da, eine andere Sprache zu sprechen als der Mund. Ich war mitten im Packen; schon starrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als sein Weib kam, mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie vor mir stand: sie war hochschwanger.
Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte sie hinein, ihr vorsichtig die Kissen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! — Der Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu sprengen drohte. Nie, — nie hatte er mir von Liebe gesprochen, dachte ich, während ich gleichgültig freundliche Phrasen mit ihr wechselte, nur immer von Freundschaft. Und dieser Frau vor mir mit den großen, breiten Händen und den stechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen — nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was schadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug für mich, die ich gelernt hatte, auf alles Glück zu verzichten?
»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie ruhig, »sonst bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu sehen —.« War das eine Anspielung? Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Übrigens sah ich eben im Hause, wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. Das wäre für alle Teile das beste —, und ich hätte doch auch etwas von Ihnen. Könnte auch von Ihnen lernen, was mir leider noch an Verständnis für die Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; war das echt, was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter und Mißtrauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans Fenster in die Sonne stellen, um wieder warm zu werden, nachdem sie mich verlassen hatte.
»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, ich saß noch beim Frühstück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. »Die Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem Brief, den er brachte und las. »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dahin entschieden, das mir vorgelegte Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine Summe von achttausend Mark jährlich dafür aussetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es später notwendig macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe, Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich erklärten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu spielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die Voraussetzung meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen abweiche, die ist, daß die Leitung der Sache nicht in den Händen von Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung entspringt keinerlei persönlicher Animosität, sondern nur der Erkenntnis, der sich gegenwärtig kaum jemand verschließen kann, daß die Sozialdemokratie zu ruhiger Reformarbeit unfähig ist und die maßgebenden Kreise einer von ihr ausgehenden Bewegung mit Recht ablehnend gegenüberstehen würden.«
Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer und leiser gelesen. »Das nennen Sie eine gute Botschaft?« frug ich kopfschüttelnd. »Gerade heute sah ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und gestern erzählte mein Vater, daß man im Kasino schon die Maßregeln erörtert, durch die die Sozialdemokraten mundtot gemacht werden sollen —«
Brandt unterbrach mich: »Nun — und? Wird Ihre Aufgabe dadurch etwa überflüssig?«
»Gewiß nicht. Aber für mein Gewissen kann es eine größere Aufgabe geben: mich in dem Augenblick der Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die verfolgt werden. Die eigene Überzeugung in die Tasche zu stecken, läßt sich nur so lange entschuldigen, als es keine Feigheit ist.«
»Sie haben recht — wie immer, wenn Ihre erste Empfindung spricht,« er drückte mir die Hand, fest und kameradschaftlich, »und doch möchte ich Sie bitten: überlegen Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze sind bisher nichts als Wünsche und Drohungen, und das klägliche Ende der Umsturzvorlage dürfte kaum zu einer Wiederholung reizen.« — —
»... Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen aus, erhebt feierlichen Protest gegen den Massenmord und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, wie es ihnen gebührt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.« Mein Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der diesen Satz aus der sozialdemokratischen Breslauer ›Volkswacht‹ zitierte. Roh und häßlich, unwürdig vor allem war er. Die geistigen Waffen, die wir führen, sollten blanker und damit auch schärfer sein, dachte ich.
Wenige Tage später veröffentlichten die bürgerlichen Zeitungen in Riesenlettern den Trinkspruch, den der Kaiser am Sedantag ausgebracht hatte:
»... In die große hohe Festesfreude schlägt ein Ton hinein, der wahrlich nicht dazu gehört; eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen; wagt es, die uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub zu ziehen. Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen. Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie, um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns von solchen Elementen befreit.«
Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. »Was haben Sie beschlossen?«
»Die Rotte von Menschen sind meine Brüder und Schwestern. — Ich lehne ab.«
Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des Ronachersaals und verneigte mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende mich an den dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziösen Frauen, deren Toiletten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen zu machen, sondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterstrichen, an den jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, war mir der Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines Vortrags und dieser Umgebung zum Bewußtsein gekommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir gewesen. Operngläser aus Silber und Perlmutter hatten sich auf mich gerichtet, und um das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken und Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein feiner, zarter Nebel geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch und Parfüm.
Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch immer. Ich mußte wohl so etwas wie eine neue Sensation gewesen sein, wie sie in Gestalt von Sängern, Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich zu erscheinen pflegte.
»Ich gratuliere Ihnen —,« sagte eine dunkle Stimme neben mir. Nur ein Mann in der Welt hatte solche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand in der seinen lag, war mir, als stünde ich allein mit ihm hoch auf einer Felseninsel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt.
»Sie in Wien, — meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, — es kam mir absurd vor,« hörte ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den Kreis, der sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, mich begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, der Vorstand der Fabier, der mich zum Essen geladen hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und während mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis, gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu sein.
In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee spät am Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, seinem Schwager, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie, und einem Kreis von Parteigenossen, die mitten in einer Debatte jäh verstummten, als ich eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort empfand. Man stand auf, man begrüßte mich, aber meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben sich.
»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich habe mich so an Ihrem Vortrag gefreut und wünschte nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören können.« »Das hätte ich auch gewünscht, — er wäre dann besser gewesen,« antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie lebhaft. »Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« Mit freudiger Zustimmung schlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. »Aber garantieren kann ich nicht, daß es derselbe Vortrag wird!« Wir vertieften uns in ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick an aber, wo sie der Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeisterten Vorkämpferin der Arbeiterbewegung sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener steifen Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen zu spotten schien. »Sie sollen mal schauen, was in Wien eine Volksversammlung heißt!«
Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder angeknüpft, wo ich den Faden zerrissen hatte. Ich hörte zu.
»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, sich auf Seite der breslauer Hundertachtundfünfzig zu stellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!« rief Brandt, während die dunkeln Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen dem Gegner zornig entgegenblitzten.
»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!« spöttelte Geier. »Die Güter, auf denen du dir die Sporen des Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!« Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir zu. »Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit so uninteressanten Dingen beschäftigen —«
»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« antwortete ich, »mich haben die Verhandlungen des breslauer Parteitags lebhaft interessiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher Seite ich stehe, so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.«
Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von der Mehrheit des breslauer Parteitages abgelehnten Vorschläge der Agrarkommission, als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, als ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, daß eine Partei von der Größe der deutschen Sozialdemokratie die Interessen weiterer Volkskreise vertreten müsse, als nur die der Industriearbeiter. »Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich und warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf zurück. »Du wärst der Erste, die Vorschläge nicht nur zu akzeptieren, sondern selbst zu machen und gegen alle Welt zu verteidigen, oder — wie Schönlank treffend sagte — eine Revision der Vorstellungsweise in der Partei herbeizuführen, wenn du in die Lage versetzt würdest, Landagitation treiben zu müssen.«
Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und der Kellner, der verschlafen an einer Säule lehnte, erschrocken die Augen aufriß und dienstfertig die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade der Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Millionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und laßt Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen! Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch im höchsten Grade. Das Aufrollen dieser schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, — ob die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft sich nach denselben Gesetzen vollzieht wie in Industrie und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Proletarisierung der Bauern oder mit der Vermehrung der ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, — all das noch dazu auf einem seiner ganzen Zusammensetzung nach inkompetenten Parteitag, ist nur geeignet, die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut Teil praktischer Arbeit zum Teufel gehen —«
»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen Resolution Kautsky, die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung nur auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? Im Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden sich nicht mundtot machen lassen,« entgegnete Brandt.
Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß des Parteitages fügen; — die anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen geheimen Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, werden die Parteidisziplin ihrer Rechthaberei opfern.«
Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing an, mich zu beunruhigen, — nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie so erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz entschlossen erhob ich mich.
»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie mein Kommen, aber ich bin sehr müde.« Alles brach auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, als wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen Gassen. Ist das wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte ich fröstelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich erzählte von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen hatte.
»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen machen wollen?!« Brandts Stimme klang grollend, wie ferner Donner, und sein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht; es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist du Frau von Glyzinskis Vormund?« brummte Geier.
»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit —,« flüsterte Brandt, und im raschen Wechsel seines Mienenspiels hatte seine Stirn sich wieder geglättet, war sein Auge wieder klar geworden. Ich senkte stumm den Kopf.
Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte, glitten unsere Hände auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. »Du — wohnst auch hier?!« sagte Geier überrascht.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer und dumpf auf mir, und ich wollte — wollte nicht denken.
Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach Schönbrunn.
Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.
Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die letzten Blätter rieselten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch sich regte.
Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: des Laubes beraubt, reckt sich nackt und kraftvoll das starke schwarze Geäst gen Himmel, ein wundervoller Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter ihm aus. Aber die Gärten, die des Menschen Kunst gestaltet, starren uns an wie der Tod. Sie leben nur, wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen, um ihr natürliches Wachstum betrogenen Ästchen dicht umkleidet, wenn von den Terrassen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Wasser rauscht und springt, und die Sonne sich lachend in den Scheiben der Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, wie große Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, sodaß der Garten voll Freude sogar der schönen Damen in Reifrock und Puderperücke vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz ihrer roten Lippen und dem lustigen Klappern ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten.
Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen blätterlosen Laubengängen und schlafenden Fontänen.
»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg gestern im Schnee hat Ihnen geschadet —.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Roheit hat Sie verletzt?« Ich sah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen wollte, erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war sein Blick. In dem meinen blieb er hangen. Es war wie ein Abschiednehmen.
»Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« kam es tonlos über seine Lippen, »ich muß fort von Berlin — mit meiner Fr ... —,« er stockte, »mit Rosalie —,« verbesserte er sich hastig, »bis — bis die Entbindung vorüber ist. Es ist besser, — besser für uns alle.«
»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen.
Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an diesem Tage? Ich entsinne mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wußte.
Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee mit Geier zusammen. Es kamen noch allerlei Menschen, die ich an meinem Vortragsabend gesehen hatte, sie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns vorüber.
»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er mich in die Zeitung vertieft glaubte, »zum mindesten hättest du nicht im selben Hotel mit ihr wohnen dürfen.« Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. Er schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. »Na, da haben wir's ja,« rief Geier, nachdem er sie rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem kurzen Gruß davon in seine Redaktion.
Ich las. »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: Nachdem seit einiger Zeit die politische Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte und Haussuchungen umfassender Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: ›Es wird hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachstehende Vereine: die sechs sozialdemokratischen Wahlvereine, die Preßkommission, die Agitationskommission, die Lokalkommission, der Verein öffentlicher Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf Grund des §8 des Versammlungs- und Vereinsrechts vorläufig geschlossen sind.‹«
Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen sollte, besuchte ich Geier in seiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm war sein Zimmer gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend schön sein konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner war, phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,« sagte ich, — nichts war ihm widerwärtiger, wie überflüssiges Weibergeschwätz, — »ich möchte in die Partei eintreten, — was halten Sie davon?«
Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich sich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurrbart und zuckte die Achseln. »Bleiben Sie draußen,« antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, — ich zweifle, daß Sie die haben —«
»Und wenn ich Sie hätte?!«
»Dann, — ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der Partei —.« Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, — ich war entlassen.
Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal, nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. Von rechts und links strömten die Menschen herein: junge und alte Frauen in Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig gefaltet, Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf den durchfurchten Gesichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, staunend, fragend, erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige Stufe, die mich über sie emporhob. Sie kauerten zu meinen Füßen, eng aneinandergeschmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzaustem Blondhaar, ein junger Mann mit den klassischen Römerzügen des Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe sich der niedrige Saal zum Dom; als träten die Abgesandten der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte von dieser Minute an meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, — das war dieser Stunde stilles Gelöbnis.
»Genossen und Genossinnen —« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange und die klassischen Römerzüge des Tirolers strafften sich in eiserner Energie.
Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, — dann eine Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewußt.
Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich kaum an und verließ das Zimmer.
»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar — nach England.«
»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie Freunde dort?«
»Niemanden! — Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.«
Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach England —, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich fesselte.
Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr Doktor —,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem vertraulichen Blick.
»Schon gut —,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir ins Schloß.
Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude — Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles Denken begrub?! Allein — allein mit ihm — tage-, wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie wiederkam, würde ich gehen, — aus seinem Gesichtskreis still verschwinden, — und zu ihr würde er zurückkehren, — zu ihr — und dem Kinde ...
Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten —« »Ich komme —«
Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben — seine Söhne aus seiner ersten Ehe — verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge Raubtiere, — bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, — in deinem Zustand!«
Sie lachte.
»Nur heute, — wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie Ölgötzen und nicht lustig seid, — lustig wie ich! — Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten, die sie dafür schon eingekauft habe — »drei seidene Kleider und Hüte dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, — mach' keine entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, — so gern!« —, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu dem ich hin muß,« — ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand — »und der mir helfen wird.«
»Trinken Sie nicht mehr —,« bat ich erschüttert und legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.
»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, — ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und — und ich glaube an Träume!«
»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?« Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halb geschlossenen Augen an ihren Mann.
»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.
»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren Händen, »kommt, — ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar.
»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,« fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf.
Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er will mich umbringen, — mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, — ich mag deine Bevormundung nicht, und deine schlechte Laune. Ich laufe davon —« Und ihr Schluchzen wurde zum Weinkrampf.
Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie nicht das schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich. »Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, — ich kann Ihnen eine empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«
Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich gewiß: Alles — Alles wird gut werden.«
Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür. »Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?« bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« »Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, — wie ganz früher,« meinte Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter —?!« staunte ich.
»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein —« »Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und — und du bleibst bei uns?!«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach seiner ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, sie sei früh gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, den ich liebte — täglich verzehrender, sehnsüchtiger —, und rissen die jungen Seelen dieser Kinder in ihren Wirbeltanz?!
Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid brav, recht brav, daß der Vater sich an euch freut, dann sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie!«
Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergeben ließ, bereitete ich das schönste Fest des Jahres vor. Freude wollte ich um mich verbreiten, lauter überschwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für seine Kinder erbat, und das er mir verwundert gab — er hatte an Weihnachten gar nicht gedacht —, und den Goldstücken, die mir ein paar Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen, Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich mit ihren kleinen blanken Augen immer so lustig anlachte. Am Morgen des Weihnachtstages schloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen und bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig gewordene Glück. Vielleicht wird sie ihm ein einziges frohes Lächeln entlocken! dachte ich.
Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es wurde früh beschert, weil alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand wie immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr vornehm. Und davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. Der Vater hatte sich einmal wieder nicht genug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie nur einer Täuschung ihr Dasein verdankte. Meine wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche Presse ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge ich mich mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespresse schrieb, — ich fing damals an, auch am »Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten —, erschien ohne meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen Artikel in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. »Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin«, — damit entschuldigte er gleichsam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid und den Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit solcher Freude empfing, weil ich allein dessen gedachte, für den sie mich schmücken sollten, — er ahnte es nicht! Nur die Mutter hatte schon hie und da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die Schwester begegnet und hatte uns mit vielsagendem Lächeln begrüßt.
Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen lassen, wollte bei Onkel Walters absagen: »Wenn sie meine Tochter nicht haben wollen, so mögen sie auch auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen.
»Ich bin ja nicht allein«, sagte ich schließlich — sehnsüchtig dachte ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, an den stillen Abend mit ihm —, »ich muß noch zur Bescherung im Kinderheim«, dabei wandte ich den Kopf dunkel erglühend zur Seite.
Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger Weihnachtsbaum funkelte und sprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß an das steigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. »Du — du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr.
Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid gehüllt, erwachte die Erde am nächsten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war verstummt, und Räderrollen und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem Winterteppich. Es war Feiertag.
Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der kommen mußte.
Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu vergießen, hatte es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner Sehnsucht schimmernd gereiht waren, schmückten mir den Nacken, mit Smaragden der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an meinen Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfassen wollten, funkelten, alle Farben und allen Glanz der Welt in sich vereinend, die Diamanten meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, — und die armen kleinen Liebesworte schämten sich ihrer millionenfachen Entweihung und verstummten.
Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend weiter geschoben werden, waren die jenes sonnendurchleuchteten Winters. Die Nacht gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen Lebens voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf starken Flügeln, und mochte drunten riesenhaft die schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend gegen uns recken, — wir sahen sie nicht. — Bis einer kam, der häßlich war und neidisch, und mit Faustschlägen an der Türe uns weckte aus unserem erdenfernen Liebestraum.
Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise gezogen hatten. Mit ängstlichem Gesicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen. »Rohrpost — und Rosaliens Schrift —« Heinrichs Gesicht entfärbte sich. »Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unser Kind soll im Vaterhause geboren werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf sie ein. Ich sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem gestohlenem Glück, wie ich es einst geglaubt hatte, sondern Kampf um den Einsatz des ganzen Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere »Recht« ist nur verschleiertes Unrecht.
Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett liegend, vollkommen ruhig, während die Pflegerin damit beschäftigt war, das Zimmer umzuräumen. »In vierzehn Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach gemessener Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß ich ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln sah sie zwischen uns hin und her. Ich verabschiedete mich so rasch als möglich und nahm mir vor, diese Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu spielen.
Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, — das fühlte ich instinktiv. Aber die Leidenschaft, die mich beherrschte, machte mich taub für die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte kaum die Mittel, um zu leben, wie viel weniger, um zu reisen, — ich war gerade jetzt unentbehrlich in Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich ausbrechen konnte.
Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine Phantasie böse Träume spann: Ich sah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das mir den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte nicht fort!
Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, daß sie zu mir herübersehen konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ, um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniterschwester mit einem ausgemergelten fanatischen Asketengesicht mir von ferne nachschlich. Im Traum sah ich sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen Augen die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im Herzen geschrieben stand.
Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: kleine Weinstuben, stille Konditoreien, wo es nach saurem Wein und altem Kuchen roch und die Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, daß wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu sein, wo reine Luft unsere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über dem See, ein feiner Regen stäubte vom Himmel. Er hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich geschlungen.
»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß den armen Kerl laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.«
Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. »Willst du, daß ich gehe?« frug ich mit Betonung.
Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, um deinetwillen! Und doch, wenn ich mir vorstelle, du tätest es — lieber brächt' ich dich um!« Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. »Wenn das der Tod ist, den ich allein zu fürchten habe, so werd' ich ewig leben.«
»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht —?« »Ja,« lächelte ich, »dein Weib werde ich sein, dein glückseliges Weib!«
»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung willigt, daß sie nicht vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben?«
Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände. Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, das mich zu unterjochen drohte.
»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt sie nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf!«
»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen —«
»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar —«
Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen Kiefern schienen die Wolken zu lagern. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel. An Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns umschlösse wie eine Insel und kein Schiff den Weg zurückfände in die Welt!
»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« begann er nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint mir heute, was ich tat. In zarter Rücksicht hast du, Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, mehr von mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger Ehe, — Jahren steigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander entwickelten, — verließ mich meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst verziehen — sie litt ja wie ich! —, aber daß sie die beiden kleinen Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im Scheidungsprozeß wurden sie mir zugesprochen. Und nun begann ein Leben dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau saß, packte mich die Angst um die Kleinen. Ich sah sie von den unzuverlässigen Wärterinnen unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und dem Bureau hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. ›Ich wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,‹ sagte der, ›aber sie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie ist reicher Leute einziges Kind, ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.‹ Ich war wie elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse nennen, und in der nächsten Stunde schon war ich bei ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es mir, daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhause, wenn ich heimkam. Daß sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher Leute Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate das Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich enttäuscht hätte. Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all ihren Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen haben. Ich ließ es geschehen, daß — daß sie mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Nur daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer lastete die Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Nervenfieber aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag, erklärte mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich war empört, aber viel zu schwach zu energischem Widerstand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging schon am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, um das Aufgebot anzumelden. So wurden wir Mann und Frau —«. Er schwieg. »Und trotz alledem wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise.
»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« antwortete ich und erzählte ihm von meiner Jugendliebe. »Weißt du —« sagte ich zum Schluß träumerisch, während seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit seiner glühenden Sonne und seinen voll erblühten Rosen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im Winter an ihn denken müssen.«
Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand die Johanniterschwester. Wie Fledermäuse flatterten ihre schwarzen Haubentücher im Wind.
An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinsender Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß gnädige Frau so lange fort bleiben würden — bei dem Wetter.« Ich hörte seine Krücke hart und heftig aufschlagen.
»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich —« er legte starken Nachdruck auf dies ›ich‹ — »ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu machen.«
»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Besuch mit einem Worte angekündigt —«
Er lachte besänftigt. »Schon gut — schon gut! Wir wollen uns bei Präliminarien nicht aufhalten. Die Entscheidung steht vor der Tür —, an eine friedliche denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?«
»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche Meinung sich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter stellt, wo einflußreiche Kreise der Bourgeoisie öffentlich für sie eintreten, an einer befriedigenden Lösung verzweifeln, begreife ich nicht.«
»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte verwundert den breiten Kopf. »Weil einigen bürgerlichen Idealisten all das aufgedeckte Elend an die Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die Sentimentalität auf. Immerhin: wir werden bis zum äußersten warten, und —« seine Lippen kräuselten sich höhnisch — »hoffen. Bei der miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung für den Streik auf sich zu nehmen.«
Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meistern der Damenmäntelkonfektion, von der mühseligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächste Zukunft, und empfahl sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als Rednerin überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde brauchen können. Mein Gewissen schlug. Über dem eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, das Geschick der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren Schriften aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter malten, wie ich es oft genug gesehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötzlich entdeckt, daß die Not der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der Ethischen Gesellschaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert. Und ich allein schwieg!
Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich von mir selbst entfernte, desto stärker wurde ich. In einer Reihe großer Versammlungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe schaffen sollten. Ich war in den Feensaal gegangen, wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich noch Einlaß fand, denn auf der Straße schon stauten sich die Menschen. So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunklen Höhlen hervorgekrochen. Und noch nie hatten sich so viel elegante Frauen in ihrer nächsten Nähe befunden.
In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem schönsten Kleid die größte Respektsperson vermutet, drängten sich die Armen schüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten Augen standen auf, um seidenrauschenden Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Neides sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels sprach, schlicht, fast nüchtern, und ihnen die Geschichte ihres eigenen Leides erzählte, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes gedeiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen Tropfen, die in den Kirchen fließen, wenn der Pfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: Zorn, — daß Armut und Religion die Menschheit so um ihre Würde hatten betrügen können, Leid, — daß von dieser Menschen Kampfeslust und Ausdauer Sieg oder Niederlage abhängen würde.
Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen hatte sie der Versammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur verstärkt.
In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis in die Reihen der Konservativen hinein, schien das Interesse für die Heimarbeiter rege zu sein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen Sache willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie zwang mich förmlich, an einer Zusammenkunft teilzunehmen, die am nächsten Tage bei einem bekannten berliner Geistlichen stattfinden sollte.
Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand selbst meinen Vater voller Teilnahme. »Da ist dein Platz, da kannst du was leisten,« sagte er, mir die Hand schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite, wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen Menschenschindern und Ausbeutern, das Handwerk zu legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte die Sitzung, wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung des Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine Erfüllung von dem Einberufer sehr betont wurde.
Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf Anregung der Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um zwischen den Arbeitern und den Unternehmern eine Verständigung anzubahnen. Männer und Frauen der verschiedensten Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beschloß, sich ihm gleichfalls anzuschließen. »Kommt es trotz alledem zum Streik, so schaffen wir eine Hilfskasse,« rief eine lebhafte kleine Dame, deren Energie beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. Man stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle Geschäfte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,« erklärte eine andere, und man überbot sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen zugunsten der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks der westphälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach sich die öffentliche Meinung, soweit sie mir zu Ohren kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber sie tatkräftig zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. Also doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte sich wieder.
Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen fest. Alles andere ist Mumpitz,« sagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit sah ich Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, wie sie unermüdlich nach ihrer eigenen Arbeit treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, sondern erwünscht war. Sie schimpften laut und leise über das Zögern und Warten der Fünferkommission: »Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, bei der wir doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen eine ehrliche Entscheidung auf dem Schlachtfeld.« Die Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.
Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die menschenwimmelnde Friedrichsstadt. Nüchtern wie immer glänzten die Tausende elektrischer Birnen an den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, zum W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von Liebe befruchteten Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen hätte schaffen können. Irrte ich mich, oder waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser sogar um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm an den Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den Absatz deutscher Waren nach England lahmzulegen. Und während Alldeutsche und Antisemiten jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuste im Sack.
Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erschienen waren, gehörten zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie zu beherrschen. Sie wiesen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, sie tuschelten einander die Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der Einladung der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie warfen hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche Begrüßung zu wagen versuchte. Reinhard sprach. Er erläuterte die Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt an. Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde seine Rede. Dann unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: »Bezahlter Agitator —«, das war das Signal für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich röteten, je mehr die straffen Haarsträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, desto lauter, roher, unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er sprach ruhig weiter — von den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man stille, Quasselkopp,« schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillantringen auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen schon, wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, von wo die Kleene da ihren süßen, roten Lockenkopp hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche Jefährdung,« brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein Halten mehr. Man überbot sich in zynischen Witzen. Und die Frauen, die vorhin so kampfbereit, so unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre Taschentücher, einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an. Reinhard schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der allgemeinen Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als es zur Abstimmung gehen sollte, erhob sich einer der Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, der wahre Religion und echtes deutsches Familienleben pflegt und hochhält,« und den »die Sozialdemokratie in ihrer Respektlosigkeit angesichts der heiligsten Güter der Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns angedrohte Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter lassen die Dummen unter den Arbeitern sich gebrauchen. Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« — unter dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz in die Brust und bewegte pathetisch die Arme. »Wir sagen nein und abermals nein und wissen, daß wir trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung, immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, — und wenn wir sie von den Hottentotten nehmen sollten.«
Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie Martha Bartels, von einer Schar lebhaft gestikulierender Frauen umgeben, erregt auf ihn einsprach. »Es ist kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor Entrüstung. »Wir müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist, — in allen Kreisen findet der Streik Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,« wehrte er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel zwischen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten Damen aufheben können. Wenn England die deutsche Konfektion boykottiert, so können wir einpacken.«
Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann es bedenklich zu gären; es gab Leute, die schon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der Streik aus, — in Berlin zögerte man noch immer, scheinbar um dem Vermittelungskomitee Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in Wirklichkeit aber, um die Entwickelung der Dinge in England abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum mindesten an einen wirtschaftlichen. Endlich liefen, so zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären die Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung an die kämpfende Arbeiterschaft, das völlige Scheitern der Einigungsversuche mitgeteilt.
Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission zusammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die Streikerklärung als unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen zu den Versammlungen eingeladen, mein Name stand unter denen der vierzehn Referenten.
Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, als es draußen zweimal heftig klingelte. Der Vater! — »Dein Name steht auf den Litfaßsäulen unter lauter Sozialdemokraten,« brauste er mich an.
»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du selbst hast mich ermuntert.« Er ließ mich nicht ausreden. »Nicht um ein ungesetzliches Vorgehen zu unterstützen, — du mußt deinen Namen augenblicklich zurückziehen —«. Er stierte mich an mit dem wilden Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, du würdest dich bei ruhiger Überlegung meiner schämen müssen.« Er umklammerte mein Handgelenk. »Soll ich mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem keuchte, die Augen traten aus den Höhlen.
»Ich kann mein Wort nicht brechen, — auch mir selbst gegenüber nicht,« flüsterte ich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, meine Hand stieß er von sich, faßte sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wortlos, der Türe zu. Ich hörte sie zufallen, — eine zweite knarrend sich öffnen, — heftig ins Schloß zurückschlagen; ich lief ans Fenster: ein alter Mann ging über den Hof, sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, — aber der starre Nacken bewegte sich nicht. Schluchzend brach ich zusammen.
»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte den Vater fortgehen sehen und war, alle Vorsicht vergessend, zu mir geeilt. »Wirst du heut abend sprechen können?!« »Gewiß, — nun bin ich ja ganz — ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir war, als läge mein Herz zu Eis erstarrt in meiner Brust. Selbst der Geliebte kam mir plötzlich fern und fremd vor.
Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen, eiserne Entschlossenheit beherrschte mich. Zu einer Riesenkraft wollte ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, von einem unbeugsamen Willen beseelt. Und ich richtete die Paläste der Unternehmer vor ihren Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die seidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, an denen der Schweiß der Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer gefangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte: schon war die Luft erfüllt vor unsichtbarem Sprengstoff. Und nun sprach ich von der kommenden Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen Krieges zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem Reichtum; sprach von alledem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer sein würde, und doch nur darum von unschätzbarem Werte sei, weil es sie geistig und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis zu Ende zu führen. »Eure Sache ist die Sache der ganzen Arbeiterschaft. Jede Schwäche von euch ist ein Verrat an ihr ...«
»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die Tribüne verließ. »Prachtvoll« — versicherte mir ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. Ich sah fragend um mich: erstaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts. Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten Zügen der Frauen. »Was hat sie gemeint?« hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?« »Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie nicht« — »ob wir gleich in die Betriebswerkstätten kommen?« — Mir sank der Mut. Heinrichs Lob — er hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten — schien mir von Mitleid diktiert.
Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. Mitten in der Nacht fuhr ich entsetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich. Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben drang helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten sich hastig hin und her. Gellende Schreie klangen über den Hof.
Jetzt — jetzt wand sich das unglückselige Weib, das ich betrogen hatte, in gräßlichen Schmerzen, — und das Kind — meines Geliebten Kind! — kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht von drüben malte gespenstische Gestalten in mein Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es griff mir in den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs — wuchs, erfüllte den ganzen Raum — die Wohnung — das Haus — die Welt. »Ich bin die Schuld — deine Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des Weibes drüben ...
»Es steht gut — Mutter und Kind sind wohl —« Heinrich stand vor mir, leichenblaß; »aber du —« er sah mich erschrocken an, wie eine schwere Krankheit lag die Nacht hinter mir, — »wenn du jetzt schon zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!«
»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres —«
Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. Wenn ich früh erwachte, müde, als hätte ich kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde jenes große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich die Flucht ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieses Hauses, wenn die Not der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, sich zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.
Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen betreffend, zur Verhandlung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch kein preußischer Minister zu denken gewagt hatte — daß eine Arbeitseinstellung berechtigt sein kann —, das erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen Volksvertretung angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher sein, eine neue Ära sozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand nicht, warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte. Im ganzen Reich wurde für die Streikenden gesammelt. Neben den Bureaus der Streikkommission, in denen Streikkarten ausgestellt und Unterstützungsgelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke zur Verteilung kamen.
Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit stellten sich in den ersten Tagen die Streikenden ein. Von Unterstützung wollten sie nichts wissen, nur ihre Karten ließen sie sich geben.
»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges Mädel, und ihre Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer haben uns für sich hungern lassen, nun hungern wir mal für uns selber —« und, ein Liedchen trällernd, war sie wieder draußen. Selbst auf den Gesichtern alter müder Frauen lag ein stilles Leuchten. Ein halbwüchsiger Bengel, der in Begleitung seiner Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd streichelten ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu kommen ooch janz andere Zeiten!«
Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom »Meester« erzählten sie einander, der mit der »Ollen« händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz anders soll die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht Tage ins Land jehen, denn werden sie zu uns bitten kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein. »Wir werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte zähneknirschend ein anderer hinzu.
Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die unsicher und ängstlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze, drängten sich um die Zahlstellen; das morgens angehäufte Geld, das mir unerschöpflich schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten Lippen. Die Witze verstummten. Finstere Entschlossenheit lag in dem Schweigen der Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren unter ihnen. Eingesunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen sprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand nach dem Gelde aus. »Schämst du dir nicht!« schrie einer einmal eine hübsche Brünette an, mit Rosen auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat noch so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?!« Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte es empörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut nicht bis zum Äußersten ging.
Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten Scharen bis auf die Straße hinunterstanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht bezwungen hätte. Viele schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie wagten kaum den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten. Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. »Erreichen wir's?« flüsterte fragend der eine, »geben sie endlich nach?!« der andere. Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen füllten sich langsamer; der aus rührseliger Sentimentalität entstandene Enthusiasmus bürgerlicher Kreise verpuffte wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten aus; sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit der deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerste Grenze erreicht.
Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte wich nicht mehr von seinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute.
»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitschenschlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief, als sicheren Lohn ihres Ausharrens in Aussicht gestellt! Würden sie mir jemals wieder vertrauen können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten werden wir fallen lassen müssen —.« »Gerade das?! Die Hauptsache!« rief ich. »Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Ausbeutung der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« — »Gerade das. Wir wollen froh sein, wenn sich der Lohntarif durchsetzen läßt und der Reichstag sein Versprechen einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.«
Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt, und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!« rief einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die Taschen —,« brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäusten auf den Zahltisch: »Betrüger seid Ihr, — Ausbeuter, — schlimmer als die Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, die das Geld abzählten. »Wir haben nichts mehr —,« flüsterte einer der Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, »— es war ein Ansturm ohnegleichen.« Ich lief die Treppe wieder hinab, sprang in die nächste vorüberfahrende Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei eine beträchtliche Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung stand, — es war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden Erde verschwinden würde, — und fuhr zurück, so rasch der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau stauten sich die Menschen. Ein paar Polizisten hielten mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen und versuchte mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, daß de erster Jüte fährst?« schrie mich eine rohe Stimme an, und eine Faust stieß mich in den Rücken. Ein paar Burschen, die nach Fusel rochen und mit den Konfektionsarbeitern sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten, überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich versuchte, mir mit ein paar Ellbogenstößen freie Bahn zu schaffen, während meine Hände die Geldtasche angstvoll umklammerten. »So loof doch, loof — wir werden dir Beene machen,« gröhlten sie und ich fühlte ihre Fäuste wieder auf meinem Rücken. Ich schrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten Gesichtern umgeben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.
Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.
In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden Wendung: ein Teil der Zwischenmeister, empört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle Schuld an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten gemeinsame Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, die nunmehr ernstlich in Gefahr standen, die Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber andererseits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu wissen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerstandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die Fünferkommission der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte nicht, auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung zu treten. Im Bürgersaal des berliner Rathauses, vor einem vielhundertköpfigen Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Erhöhung der Löhne und die Gegenseitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die Durchführung der Lohntarife waren. Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr.
Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In öffentlichen Versammlungen sollten wir das Ende des Streiks verkünden. Ich versuchte, mich frei zu machen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin Glyzcinski,« sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. »Wie kann ich diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« wandte ich ein. »Darüber mögen Sie denken, was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig, »hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir alle.« Flüchtig fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß ich wenigstens nicht in demselben Saal, vor denselben Menschen sprechen mußte. Weit in den Osten, in die Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, »es ist das Hauptquartier der Anarchisten.«
Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Versammlung. Wir hatten uns in der Zwischenzeit nur immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo Rosalie schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand unsere Angst um sie. Das Wochenbett war normal verlaufen; sie nährte den Kleinen und schien seelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein ausdrucksvolles Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte mich. Aber soviel ich auch in ihn drang, er meinte, es sei nichts, gar nichts geschehen, ich solle lieber an meinen Vortrag denken, als über die Ursache seiner schlechten Laune nachgrübeln.
Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In allen Händen sah ich weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregt gerötete Gesichter. Bei der Wahl des Bureaus siegte der Führer der Anarchisten mit riesiger Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es fast wie eine Erleichterung —, »nun werden sie mich gar nicht reden lassen,« flüsterte ich Heinrich zu. Aber schon stand der junge blonde Mann mit den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer höflichen Handbewegung machte er mir neben sich Platz.
Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen Empfindung, meinen innersten Gedanken folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der musterhaften Leitung des jungen Anarchisten, der die Ruhe immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Gesicht, auf dem meine Blicke immer wieder haften blieben —, ich verlor den Faden, verwirrte mich, wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterstützung zu erwarten seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen und die Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, zu zeigen, daß es sich von keiner Seite knebeln lasse, daß es den Kampf nicht nur fortsetze, sondern ausdehne, bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe, dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In jedem Wort, das er aussprach, brannte das Feuer seiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Resolution wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung des Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang ließ man mich hinaus. Man hätte mich sonst vor den Insulten der fanatisierten Menge nicht schützen können.
Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen Millionen waren nichts als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger —, das war alles.
Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte tat mir wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte ich. Eine große Hoffnungslosigkeit hatte sich meiner bemächtigt.
»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte Heinrich, auf dessen Arm ich mich müde stützte. »Ich hatte heute eine böse Szene mit Rosalie. Sie will in den Süden — auf Monate — mit mir. Um unsere Ehe wieder herzustellen, wie sie sagt. Ich weigere mich, brauchte lahme Ausreden, die sie durchschaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor, daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende Mutter, nicht schone.«
Er blieb aufatmend stehen.
»Und du?!«
»Ich versprach ihr jede Rücksicht, — nur mit ihr reisen könne ich nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, auch mit dir. Zwei Tage hat sie mir Zeit gegeben.«
»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.«
Ich zwang mich zur Ruhe, — seinetwegen.
Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf der Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der für ihn vielleicht des Einsatzes nicht wert sein würde, hatte dem Kinde schon im Mutterleibe den Vater gestohlen!
Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose Angst es den schützenden Vater im Himmel suchen ließ. Aber durfte ich beten — ich! —, selbst wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich auch im ruhelosen Auf- und Abwandern mich wandte: der Vater, der einst einen braven Offizier seines Regiments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Gesetz der Pflichterfüllung stand; — aber lugte nicht neben ihr aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich leise. O, daß ich den Kopf in ihrem Schoß vergraben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein Absolve te hören dürfte!
War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster auf. Klang nicht ein Ruf zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgerissenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf —
»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! Halb bewußtlos sank ich in seine weitgeöffneten Arme.
»Sie willigt in die Scheidung.«
An einem jener norddeutschen Apriltage, wo Frühling und Winter einander wie Feinde vor dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen, die Sonne auf hellen Plätzen Sommergrüße vom Himmel sendet und daneben der feuchtkalte Wind triumphierend durch schattige Straßen fegt, ging ich zum Abschiednehmen zu den Eltern.
Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn verlassen hatte, war ich nicht mehr bei ihnen gewesen. Selbst die notwendigen geschäftlichen Auseinandersetzungen, die sich an den Tod einer Verwandten und der mir und meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft knüpften, hatte mein Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er mich vor meiner Abreise noch einmal sehen wollen.
Er empfing mich ernst und gemessen. »Du siehst schlecht aus,« sagte er dann und ein liebevoll besorgter Blick strafte seine äußere Strenge Lügen. Ich wußte es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft erschöpft; ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des Fernseins von Berlin während des bevorstehenden Scheidungsprozesses. »Die Erbschaft kommt dir wirklich zustatten,« fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem Umfang er recht hatte!
Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und doch war mir das Herz so voll: ich allein wußte von uns allen, wie weit ich mich mit diesem Abschied von ihnen entfernte, — vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern gesagt; — in der Temperatur, die zwischen uns herrschte, erfror es, noch ehe es über die Lippen kam.
»Es ist mir nicht recht, daß du allein in die Welt hineinreist,« sagte mein Vater, als ich schon an der Türe stand, »Ihr Jungen denkt anders darüber, — Einfluß habe ich keinen mehr, — ich kann nur hoffen, daß du dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.« Seine Augen ruhten forschend auf mir. Ich reichte ihm stumm die Hand: »Lebewohl, Papa —« Ich zwang meine Stimme, nicht zu zittern. »Lebwohl,« antwortete er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht mehr.
Die Mutter begleitete mich auf den Flur.
»Hast du etwas besonderes zu schreiben,« sagte sie mit Betonung, »so lege stets einen besonderen Zettel dem Brief an mich bei, damit ich ihn Hans ohne Schaden zeigen kann.« Ich hatte die Empfindung, daß mein Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die Straße mit mir.
»Du, Schwester, ist es wahr, daß Dr. Brandt sich deinetwegen scheiden läßt?!« flüsterte sie hastig mit glänzenden Augen. Aufs peinlichste überrascht starrte ich sie an. Sie preßte mir stürmisch die Hand: »Du, — das ist furchtbar interessant! Freilich —« und nachdenklich kaute sie an der Unterlippe — »mit Papa werden wir wieder aushalten müssen!«
Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zurück. Fröstelnd zog ich den Mantel fester, der Wind zerrte daran und warf mir eiskalte Tropfen ins Gesicht.
Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den Zug bestieg. Er hatte seine Söhne in Pension, Rosalie und den Kleinen mit der Pflegerin aufs Land gebracht.
»Es gab wieder eine Szene,« erzählte er, »ihre innere Stimme, an die sie nun einmal glaubt, hat ihr gesagt, daß du mich unglücklich machen würdest. Aus Mitleid wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite sie mir mit dem Pathos einer Kassandra, ich würde noch einmal kniefällig um ihre Liebe betteln. Und als auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei dunkle Andeutungen über Zeugenaussagen im Prozeß, und die Pflegerin lachte mich dabei so impertinent an, daß ich grob wurde.«
»Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gefürchtet,« sagte ich trübsinnig.
»Mein armer, kleiner Angsthase!« lächelte er, halb ungeduldig, halb belustigt. Im Lexikon seiner Gefühle hatte das Wort »Furcht« keinen Platz gefunden. »Du bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir nicht bisher schon über alles Erwarten Glück gehabt, und du willst verzagen — gerade jetzt, wo wir dem Frühling entgegenfahren?«
Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm zurück, der mich umschlang, und sah still den weißen Flocken zu, die vor den Fenstern tanzten, und den in dunkeln Schleiern schwer herabhängenden Wolken, die der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut des Geliebten zu wissen, seinen starken Schultern aufzubürden, was ich allein nicht hätte tragen können.
Auf dem Brenner glänzte die Sonne über frisch gefallenem Schnee, aber von den Bergen stürzten schon frühlingsfroh die entfesselten Wasser. In Gossensaß, wo die Bergwände sich noch einmal finster zusammenschoben, braute wieder der Nebel um dunkle Fichten und winterstarres Gebüsch, hinter Franzensfeste jedoch stand das breite Tal in blühendem Lenzkleid und öffnete die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an seine warme Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von allen Höhen weiße Kirchlein mit spitzen Fingern hinauf zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel stand. Auf den knorrigen Ästen alter Obstbäume saßen junge lustige rote und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht vor dem grauen Alter der Ruinen, der nüchternen Heiligkeit der Klöster, fluteten in blauen Kaskaden die süß-sehnsüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die Mauern, vom Liebesspiel buntschillernder Käfer umtanzt.
Im brixener Gasthof zum Elefanten machten wir Rast. Nur das riesige Bild des Rüsseltiers, dem er seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die Zeit, wo Kaiser und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr hielten. Jetzt saßen nur wenige unscheinbare Leute in dem niedrigen, dunkel getäfelten Gastzimmer. Sicher: hier kannte uns niemand. Aber kaum saßen wir vor der Schüssel, die verheißungsvoll nach gut österreichischer Mahlzeit duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat, Heinrich freudig begrüßend. Umsonst, daß dieser die abweisendste Miene machte, den Fremden weder nötigte, Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner Freude, einen Bekannten zu treffen, besorgte er das ohne weiteres selbst; er hielt mich für Heinrichs Frau und kündigte uns mit vielem Geräusch die Bekanntschaft seiner Familie an. »Wir werden nicht bleiben können,« sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, »es sind Berliner.« Ich zuckte die Achseln. »Diesmal bin ich die Mutigere von uns beiden. Mir ist nichts so gleichgültig als der Klatsch.«
»Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt,« brauste er auf.
In aller Frühe am nächsten Morgen fuhren wir weiter bis nach Trient. »Hierher kommt keiner unsrer Landsleute,« hatte Heinrich gesagt. Und in der Tat: in den großen Palasträumen des Hotel Trento sprachen selbst die Kellner nur ein gebrochenes Deutsch. Ob wir uns hier ein paar Wochen würden ausruhen können? Wir hatten sehr das Bedürfnis danach.
Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz mit dem ehernen Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete sich seine schwarze Silhouette gegen den blauen Himmel ab, zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der Berge eingerahmt. Aber der Platz zu seinen Füßen mit ein wenig Rasen und ein paar kleinen immergrünen Büschen sah im gelben Licht der Sonne öde aus.
Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuser mit verwaschenen Farben und trüben Fenstern, Paläste dazwischen mit verblichenen Fresken, Höfe mit alten ausgetrockneten Brunnen und Säulengängen, unter denen zerlumpte Wäsche hing, stolze wappengekrönte Tore mit Firmenschildern aus Blech und Anzeigen aus Papier benagelt und beklebt; ein Dom, geschmückt mit den zierlichsten romanischen Galerien, die hohen Portale von säulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem ausgetretenen Estrich, zwischen den Grabmälern edler Geschlechter, ein paar alte Weiber, die kniend den Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit zahnlosem Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, sie beherrschend, der prächtige Renaissancebau des alten fürstbischöflichen Schlosses, ein unvergleichlicher Rahmen üppiger Hofhaltungen, — eine Kaserne heute. In der dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die Würdenträger des fürstbischöflichen Stuhls in roten und violetten Gewändern beim Gesang des leise plätschernden Wasserstrahls die kunstvollen Lettern pergamentgebundener Bücher zu lesen pflegten, saßen Soldaten und putzten Gewehre; in den hohen Sälen, von deren gemalten Decken die Götter des Olymps auf die tafelnden Priester des Gekreuzigten einst lächelnd herniedersahen, standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, an den Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche prächtige Bilder schlummern, hingen in Reih und Glied Käppis und Tornister.
Wir gingen schweigsam zurück. In den Gassen lärmten ein paar Kinder: Mädchen mit seidenen Schleifen im Haar und zerschlissenen Röckchen über den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor den Wirtshäusern auf dem schmalen Trottoir saßen in schäbiger Eleganz junge Leute, die lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen. Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebenssamen, den sie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumlosen Straßen warfen nur sengende Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und Bettler haben sie daraus vertrieben.
Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit vier Pferden davor entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein steinerner Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender wurde die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und Glockenblumen, um die elendesten Hütten leuchteten in rosiger Pracht die Mandelbäume. In Caldonazzo, einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren Himmel auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. Unter der Laube im Obstgarten der Trattoria, die von gelben Rosen überwuchert war, wurde uns gedeckt. Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein kleines Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene Kohlen, setzte noch eine blaue Vase mit weißen Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es ganz, ganz still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit keinem lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände schlangen sich ineinander, fester zog mich sein Arm an seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.
Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir standen auf. Vor der Tür meines Zimmers blieben wir stehen, stumm, mit herabhängenden Armen, unsere Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute Nacht!« — er berührte mit den heißen Lippen nur meine Fingerspitzen.
Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die laue Luft und trug die süßen Gerüche der Wiesen auf ihren Flügeln. Ich preßte die Zähne zusammen, um nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins Fleisch, um mit dem Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitschte.
Draußen im Garten knirschte der Kies, — das Weinlaub am Fenster bewegte sich, — schlich nicht ein Schatten leise vorüber? — O, warum kommst du nicht, — sind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie Perlmutter glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was geht mich die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden Tales umschließen die meine! Und die Menschen? Da doch niemand ist, als ich und du! Und die Vergangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? Nichts ist unser als dieser Frühlingsnacht zauberische Gegenwart! — —
Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde und einsam. Wir trafen uns in der Rosenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen auch auf seinen Zügen.
Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit unserer trüben Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs Rechtsanwalt: »Frau Brandt verlangt Schlüssel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung nach Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das Telegramm war uns von Bozen nachgesandt worden und trug das Datum von vorgestern. »Ich muß nach Berlin — sofort —. Sie kann alles zerstören,« knirschte Heinrich, »und du — du Arme?!« »Zunächst begleite ich dich, — alles weitere besprechen wir unterwegs.«
In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche des Kutschers pfiff über die schweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen. Unterwegs bekam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und Heinrichs angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. »Wirst du weiter können?« Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich soweit, um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis —. »Bis alles gut ist, mein armer Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher wäre, daß du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, — für mich ist der Kampf ein Kinderspiel —« Der Triumph des Sieges blitzte schon aus seinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abschied. Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der Mutter mit einer Beilage in verstellter Schrift: »Diesen anonymen Wisch bekam ich soeben. Ich habe ihn, Gott Lob, vor Hans verstecken können. Da aber Wiederholungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich sind, und ich von deinem Anstandsgefühl doch noch so viel erwarte, daß der Inhalt dieses Schriftstückes eine Verleumdung ist und Dr. Brandt nicht mit dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, daß er uns seine Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise dokumentiert ...«
»Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, »du stehst, wie notwendig es ist, daß wir das Opfer dieser Trennung bringen. Es wird die letzte sein!«
Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast scheint's, als freutest du dich, daß du fort mußt!«
»Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den Weg legen. Mir wäre bange geworden vor der Größe meines Glückes, wenn sein Besitz keine Opfer kosten würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir nahmen Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen.
Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog ich am selben Abend noch ein. Von meinem Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen dunkeln Fichten am klaren Bach. Stundenlang saß ich hier in wachen Träumen. Zuweilen folgte ich dem stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es mußte ein heller Tag sein, sonst fürchtete ich mich und sah, wie einst als Kind, hinter jedem Baum Gespenster lauern. Abends stieg ich nach Salern hinauf und saß zwischen dem alten Gemäuer der Ruine bis breite Bergschatten das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen der Dolomiten fern am Horizont aufglühten wie verlöschende Fackeln.
Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann las ich wieder und wieder seine Briefe und suchte zwischen den Zeilen, was er aus Schonung verschweigen mochte: »Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten, und ich sehe an den Mienen der Leute, was sie erzählt —«, sie suchte Zeugen gegen mich; der Preis der Scheidung würde die Verhinderung unserer Heirat sein! »Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis« —, sie suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum Vater gehen, ihm erzählen, — und er ertrüge es nicht, so nicht, — er würde Heinrich vor die Pistole fordern!
Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters Briefe waren erregt, aber nur über die Ereignisse des Tages: die Verurteilung Hammersteins wegen Urkundenfälschung zum Zuchthaus, »ein Menetekel für den Adel, dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt und dabei unabweisbar dem Schwindel verfällt,« den Austritt Stöckers aus der konservativen Partei, »dieses tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer verdammten Manier der Veröffentlichung von gestohlenen Privatbriefen auf dem Gewissen haben,« über die in seinen Jubiläumsreden stets deutlicher zutage tretenden Weltmachtgelüste des Kaisers, »die uns vom erprobten geraden Wege altpreußischer Sparsamkeit und dem bewußten Sichbescheiden auf den angestammten Boden und seine Bearbeitung in die Politik abenteuernder Seefahrer hineinreißt.« Ich mußte mein Erinnerungsvermögen immer erst mühsam auf die Welt außer mir einstellen, wenn seine Briefe Antwort heischten.
Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, den ich in Erwartung erfüllter böser Träume zitternd öffnete. »Deine Liebe soll noch eine harte Probe bestehen,« schrieb er. »Rosalie will sich nur unter der Bedingung scheiden lassen, daß ich ihr mein ganzes Vermögen gebe. Es ist an sich nur klein, wie Du weißt, aber es ist alles. Wirst Du stark genug sein, einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir nur seine Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen Willen, Dir trotz alledem ein glückliches Leben zu erkämpfen?... Antworte mir nach reiflicher Überlegung. Aus Deiner Hand würde ich jedes Geschick ohne Murren empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein sagen mußt. Das Glück, das Deine Liebe mir schenkte, war schon so groß, daß ich Dir auch dann noch dankbar bleibe...« Ich lächelte, von einem Alpdruck befreit; so viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht einen Augenblick des Besinnens gab es für mich. »Gib, was sie fordert,« telegraphierte ich. Aber noch immer schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage später verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Vermögen übertraf. Und als der Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich Wucherschulden machen müsse, wenn er ihren Wunsch erfüllen solle, sagte sie ruhig: »Mag sein, — aber sonst lasse ich die Scheidung nicht zu.« Sie war unersättlich. In meinen nächtlichen Träumen sah ich sie: groß, dunkel, mit der Schleppe, die wie eine Schlange hinter ihr her raschelte, und den weißen Raubtierhänden.
Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend fuhr ich nach München. Die Stunden schlichen, die Zeiger an der Uhr wollten nicht von der Stelle rücken. Ich hörte, wie das Leben draußen verstummte, die letzten Pferde müde zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn verklang. Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie die ersten Marktwagen im Dämmerlicht grauenden Morgens über das Pflaster ratterten und die Tritte der Bäckerjungen straßenweit zu verfolgen waren; wie das Räderrollen allmählich anschwoll zu einem brausenden Ton, und kein einzelner Schritt unter den vielen mehr zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die über mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige Wesen, die mit meinem Herzen Fangball spielten.
»Frei!« — Ich hatte das Telegramm dem Boten aus der Hand gerissen, — ich starrte das Wort an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer ertrug ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und selbst als der Himmel sich über mich spannte, war mir's, als müßte es sein blaues Gewölbe zersprengen.
Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. »Nachdem Dein heimlicher Wunsch, Du emanzipationslüsterne Frau, eine freie Ehe zu schließen, an meinem reaktionären Eigensinn endgültig zu Schanden wurde« schrieb er neckend, »muß ich unserer altmodisch ordentlichen Verbindung auch eine bürgerliche Grundlage schaffen.«
Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte, meinem übervollen Herzen Luft zu machen. Ein Bettler stand an der Ecke mit einem Plakat vor der Brust: »Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe,« ich drückte ihm ein Goldstück in die Hand, was ihn so verblüffte, daß er seiner Stummheit vergaß und ein Mal über das andere ein »Vergelt's Gott« stammelte. Vor allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die Maisonne zärtlich über Spitzen und Schleier strich. Und das Schönste, was ich sah, war nur gerade schön genug, um mich für ihn zu schmücken.
Meines Lebens hohe Zeit stand vor der Türe; königlich sollte sie empfangen werden. Niemand durfte ihr begegnen, der Trauergewänder trug. Keines Menschen Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem ich sie begrüßen wollte. Und im geschliffenen Kristall des Pokals sollte sich nur die Sonne spiegeln.
Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz zusammen. Ich sah sie in der dunkeln Wohnung hinter den schweren Vorhängen, die immer an den Winter glauben ließen. Würde mein Glück hell genug sein, um hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei ihnen war. Würde mein Glück stark genug sein, sie zu zerstreuen?
An einem hellen Morgen, über den der Himmel leuchtete wie ein geheimnisvoll gleißender Opal, trug ich ein weißes Kleid und Rosen im Gürtel, die lauter Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe senkten, schwer von Schönheit. Ich wartete des Geliebten. Durch die vielen Scheiben der Bahnhofshalle funkelte und sprühte das Morgenlicht und malte tanzend helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben, wenn der Tag noch herrscht, standen die großen, runden Bogenlampen über dem hastenden Leben. Hin und her strömten bunte Menschenschwärme. Reisefieber, das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der Tagesarbeit entgegenstrebt, lachende Hoffnung, die in die Arme der Liebe verlangt, bange Angst, die vor der Fremde zittert, malten sich in den vielen Gesichtern. Die Züge brachten und empfingen sie in unaufhörlichem Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die Augen auf das helle riesige Bogenrund gerichtet, in das die großen schwarzen Schlangen fauchend untertauchten, und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer, brausend hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder majestätisch hereinwälzte, zwei zischende Garben weißer Wasserdämpfe —, sie stand. Lauter Schatten liefen und drängten an mir vorüber, ich sah nur ihn, — und er zog mich in die Arme, ganz fest —, alle Rosen fielen mir aus dem Gürtel, und streuten ihre Blätter um uns, glutrote ...
»Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?« »Irgendwo zwischen hohen Bergen, im Walde, wo der Dompfaff uns traut —«
»Und wann, — wann?« heiß flüsterte seine Stimme an meinem Ohr.
»Still muß es um uns sein, ganz still, dann wird die Stunde kommen, der wir gehorchen müssen ...«
Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde, meines Vaters Schwester. Vielleicht, daß sie sich für uns gewinnen ließ, daß ihr Einfluß den Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof trennten wir uns, er ging ins Hotel, mich führte ihr Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das schöne Haus mitten im blühenden Garten. Mit ungewohnter Zärtlichkeit empfing sie mich: »Du hast mir etwas zu sagen, Kind? Fürchte dich nicht —, du weißt, ich habe viel an dir gut zu machen.« Ich fürchtete mich doch, — aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte, so wußte ich: das Herz würde ihr darum nicht bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die Verständigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich erzählte, daß ich verlobt sei. Ich verschwieg nicht, daß er sich hatte scheiden lassen, — um meinetwillen. Aber von der ersten Ehe erzählte ich nichts, und nichts von dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren worden war. Ich bekannte ehrlich, daß er, wie ich, Sozialdemokrat von Gesinnung sei, aber ich betonte, daß seine Tätigkeit allein auf neutralem wissenschaftlichem Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die, wie ich wußte, für sie von ausschlaggebender Bedeutung war: »In welcher Lage ist er?« — da log ich: »In der besten —« Was ging das alles die anderen an?! Mein Leben war es, für das ich allein die Verantwortung trug. Nur dem Vater wollte ich es leicht machen, und die Mutter sollte sich nicht grämen, und mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen!
Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige, fast hochmütige Zurückhaltung der »Frau Baronin« gegenüber imponierte ihr. Sie schrieb noch am Abend einen langen Brief an den Vater. Und am nächsten Mittag kam seine telegraphische Antwort: »Tief gerührt über die Liebe, mit der du Alix in deinen Schutz nimmst, versage ich ihr nicht den Segen ihrer schmerzbewegten Eltern.«
Heinrich reiste nach München zurück, — es wäre ja nicht passend gewesen, ein Brautpaar beieinander zu lassen! — ich blieb noch, um in ein paar Tagen mit Freunden, — wie ich vorgab, — nach Tirol zu gehen. Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der Mutter zuerst. Sehr liebevoll, aber doch voller Sorge. »Ich danke Gott und der lieben Klotilde,« schrieb sie, »daß Dein Vater die große unerwartete Sache so aufnahm und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer wird und er noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben. Wenn nur seine Gesundheit aushält, um die ich oft sehr besorgt bin, besonders bei so großen Erschütterungen ... Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche, zärtliche Art, ihrem Papa alles recht gut und schön darzustellen, ihre Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... Um Deines Vaters willen bitte ich Dich, Deine Verlobung wenigstens solange geheimzuhalten, bis er bei Klotilde in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am leichtesten wird beruhigen können. Auf diese Weise entgeht er am besten dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider nicht fehlen wird ... Mir ist das Herz so übervoll, daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum Besten ...« Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich erfuhr, daß er wußte, was ich ihm schonend verschwiegen hatte. »Wenn Du älter geworden sein wirst,« hieß es darin, »so wirst Du verstehen, daß ich nicht Dein Glück stören will, sondern nur mit der Erfahrung eines Mannes, der am Ende seines Lebens steht, da kein Glück sehe, wo Du seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt mußte bei mir und Mama zuerst um die Erlaubnis zur Verbindung mit Dir nachsuchen, es mußten mir ganz klar die äußeren Verhältnisse dargetan werden, die zur Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt Dir bietet. Von alledem ist nichts geschehen, und ich bin und bleibe der vor Gott und den Menschen für Dich verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt jeder öffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich Vertrauen zu einem Manne haben, der zweimal geschieden ist? Ich kenne die Gründe nicht, kann also nur bei meinem theoretischen Urteile bleiben, daß es ihm zweimal nicht gelungen ist, seine ihm ›bis der Tod uns trennt‹ angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt hinzu, daß selbst roheste Naturen Pietät dafür haben, wenn dem Manne eben von seiner Frau ein Kind geschenkt worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung zu wählen, ist gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter ist mir zu schade, als daß ich ruhig zusehen könnte, wenn sie in solche Verhältnisse verwickelt wird ...«
Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich war viel zu empfindlich, besonders gegenüber Angriffen auf den Geliebten, als daß ich mich wenigstens äußerlich hätte beherrschen können. Mein strahlendes Glück hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine Eltern lebten und dachten. Ich empfand als bittere Kränkungen, was von ihrem Standpunkt aus sorgende Liebe war. »Ich begreife nicht, daß Du scheinbar gar nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden muß,« schrieb Mama in Beantwortung eines meiner Briefe, »willst Du denn durchaus nicht die Wirklichkeit sehen? Muß ich ganz deutlich werden und dir sagen, wie selbst Dir wohlwollende Menschen über Dich den Kopf schütteln? Du ahnst wohl gar nicht, was und wie man über Euch spricht! Und jetzt erwähnst Du wie etwas Selbstverständliches, daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen lassen. Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur an das Aufsehen, und was das für ein Licht auf uns alle werfen würde! Wir wollen der Welt gegenüber betonen, daß Du mit unserem Segen heiratest —, hier würde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng über Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in irgend einem stillen Ort Süddeutschlands, wohin ich und Ilse zur Trauung kommen werden, und überlegt vor allem, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr Euch dann fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es besser sein, solange der gemeine Klatsch über Euch nicht verstummt ist. Ich habe auch an Deinen armen Vater zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und dem jede neue Aufregung erspart werden muß ...«
Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, die eine Heirat an anderem Orte bereiten würde. Wir hatten längst beschlossen, uns ohne alles Aufsehen trauen zu lassen und gehofft, daß die Eltern angesichts der vollzogenen Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht kümmern würden. Im nächsten Brief meiner Mutter schrieb sie: »Du erwähnst nur der standesamtlichen Schwierigkeiten, also wollt Ihr wohl die Kirche umgehen, — wenn Du mir das noch antust, dann wäre es besser, wir sehen uns nie wieder, denn das kann ich nicht überwinden, das würde ich nie verzeihen, und Vater, Schwester und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was Ihr damit tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todesstoß ...«
Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck berliner Zeitungen in die Hände fielen. Sie brachten mit mehr oder weniger hämischen Randbemerkungen die Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner Verlobung. Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: »Was zu erwarten war, ist geschehen: alle Zeitungen beschäftigen sich mit Dir und ziehen meinen guten Namen in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen, daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die Arme geworfen hast ... Du nahmst die Gewohnheit an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, nie an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du unser Kind, und wir tragen an Dir mit, gleichgültig welches die Bürde ist, die Du uns auferlegst. Wenn eine Tochter frank und frei erklärt, sie gehöre zur Sozialdemokratie, so bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich bin alt und gebrechlich, meine Tage sind gezählt, aber ich bin notwendig für Deine Mutter und Deine Schwester. Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man mich ehrengerichtlich belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben. Daß die Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet, wenn die adlige Tochter eines allgemein bekannten Generals sich zu ihr bekennt, das begreife ich, es ist ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenwärtigt, daß diese Rotte unheimlicher Kreaturen von den Pfennigen der Arbeiter sich mästet, die um so reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten wird, was uns heilig ist, der muß am Rande der Verzweiflung stehen, wenn er die eigene Tochter unter ihnen weiß ...« Ich antwortete nicht. Wie viel besser wäre der offene Bruch gewesen, als daß ich, vom Verstande unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über Unüberbrückbares zu schlagen versucht hatte. Ich hatte nicht wehe tun wollen —, litten die Eltern jetzt nicht mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung befallen glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben wäre?
Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den Geliebten. Stille Wehmut dämpfte die Freude, mit der ich Heinrich empfing. Vor lauter Glück bemerkte er meine Stimmung nicht. »Ich bringe dir ein schönes Geburtstagsgeschenk,« rief er, mich zärtlich umarmend. »Herr Charles Hall, der Deutschamerikaner, von dessen sozialpolitischen Interessen ich dir oft erzählte, hat sich bereit erklärt, meine Zeitschrift zu unterstützen. Siehst du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die bürgerliche Grundlage unserer gut bürgerlichen Ehe! — Dürfen wir nun nicht Hochzeit feiern?!« fügte er leiser hinzu. Ich schüttelte den Kopf und hing mich fest an seinen Arm: »Laß mich erst wieder froh werden, mein Heinz!«
An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach St. Jodok, einem kleinen Bergnest, das die Brennerbahn fauchend umkreist. »Morgen fruh scheint d' Sunn,« versicherte der Führer, mit dem wir über unsere Pläne verhandelten, und so beschlossen wir, noch am Nachmittag zur Geraerhütte zu gehen. Es war ein einförmig düsterer Weg durch die Wiesen des Valser Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern, auf die der Nebel tief hinunterhing, und dann die Anhöhe hinan auf steinigem Pfad, von schwarzgrauen Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken verloren. Und in der Nacht tobte der Wind um die Holzhütte, und der Regen klatschte an die kleinen Fenster, daß ich mich fröstelnd in die Decken hüllte und eine undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. »Schön wird's,« sagte er mit unerschütterlicher Sicherheit. Wir traten hinaus, dicht vermummt, wie zu einer Winterreise. Fast wäre ich schwindelnd zurückgewichen vor dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete: wie auf einer Insel im Wolkenmeer standen wir. Unten im Tal lagen die Nebel dicht geballt, nur hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie lange schwarze Arme, die, kaum daß sie unsere Höhe erreichten, verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir stiegen aufwärts, Schritt vor Schritt, lange Serpentinen bis zum Alpeiner Ferner. Frischgefallener Schnee deckte ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da glänzte das Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, — geheimnisvoll lockende Gräber. Kein Leben ringsum; selbst der Sturm war verstummt, unhörbar versanken unsere Füße im Schnee. Mich grauste. War es nicht das Reich des Todes, das wir betreten hatten?
Da begann der Himmel über uns sich rosig zu färben; noch einmal sah ich hinab in das Nebelmeer der Tiefe, dann stieg ich, so rasch meine Füße mich tragen konnten, um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam.
Und sie war da. Glühend in junger Liebe, als küsse sie die Erde zum erstenmal. In der heißen Umarmung ihrer Strahlen ward die keusche Braut zum Weibe, das sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu gehüllt hatte, und auch die letzten weißen duftigen Hüllen zerriß sie. In ihrer prangenden Schöne stand sie vor ihm, die schimmernde weiße Stirn stolz gen Himmel gehoben, den schneeigen Busen rosig überhaucht von dem Gruß dessen, der sie erlöste.
Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen einander die Gedanken von den stummen Lippen. Auf dem Weg durch die Nacht und empor bis hierher, hatten wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, zusammengedrängt in wenige Stunden. Nun aber war es vorüber. Der Gipfel war unser. Und über das Schneefeld hinab, der Sonne zu, lag eingebettet in grüne Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock, dessen Spitze rote Alpenrosen schmückten und weiße Edelweißsterne, wies ich hinab. »Dort will ich Hochzeit halten,« flüstere ich. Da hob mich der Liebste jubelnd hoch empor, und miteinander sausten wir über den Schnee in die Tiefe.
»Arg verliabt san's,« brummte der Führer gutmütig, als wir aufatmend unten standen.
Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikushütte. Ein paar junge Männer, Studenten mit blondem Kraushaar und blitzenden Augen, saßen um den Tisch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit lauter Frohsinn. Seil, Steigeisen und Eispickel lagen neben ihnen; die verstaubten Stiefel und die braunen Gesichter bewiesen: sie waren echte Höheneroberer. Solche Söhne will ich haben —, zog es mir durch den Sinn, als spräche es aus unbekannter Tiefe meines Wesens.
Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel, senkte sich die Nacht in das Tal. Von Wiesen und Wäldern ein starker Duft füllte unsre braune Kammer. Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch keinen Staub getragen hatten, flüsterten in den Fichten vor dem Fenster. Da bin ich sein Weib geworden ...
Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer und brütete unten in gewitterschwangerer Hitze auf den jungen Anlagen des Lützowplatzes. Unruhig wanderte ich von einem Raum in den anderen, rückte auf dem mächtigen Doppelschreibtisch, den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten machen lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine Stiefsöhne waren, noch ein wenig in den Vordergrund, ging in ihr Zimmer mit dem blumengeschmückten Balkon, von dem aus der Blick geradeaus weit über die dichtbelaubten Bäume am Kanal schweifen konnte und rechts die Straße hinauf bis in die grüne Tiefe des Tiergartens, strich mechanisch die Bettdecken glatt und steckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die Kinder überraschen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich nebenan vom reichbesetzten Vespertisch geholt hatte. Immer wieder zog ich die Uhr: gleich mußten sie kommen, schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um sie am Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief durch unser Schlafzimmer mit seinen hellen Möbeln und meergrünen Vorhängen auf die breite Loggia hinaus: von hier würde ich sie zuerst entdecken, wenn sie vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich musterte erwartungsvoll alle Menschen. Von der luftigen Höhe meines vierten Stockes glichen sie aufgezogenen Puppen, wie sie die Händler um Weihnachten auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf der Kanalbrücke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem Pudel spielt.
Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen Tuch? Richtig: es war der kleine, schwarze Hans, der dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich hatte doch rechtes Herzklopfen. »Du wirst sie lieb haben, meine Kinder,« hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein »Ja« war aus vollem Herzen gekommen. Nun aber war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen —, würden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht wie einer Feindin begegnen? Würde all meine Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie Heinrichs Söhne waren, ihr Mißtrauen besiegen können?
Sie stürmten die Treppe hinauf. »Fein, daß du jetzt die Mama bist!« rief Wölfchen. Hans sah mich nur groß an und kramte in seinem Rucksack nach einem halbverwelkten Alpenrosensträußchen, das er mir mitgebracht hatte. »Ihr müßt recht brav sein, damit Ihr so eine gute Mama verdient,« sagte Heinrich. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht loben, — jetzt, da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich hatte ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als sie besaßen. Sie waren vergnügt, selbst Hans wurde gesprächig; und als ich sie zu Bett brachte, waren sie ganz von selbst zärtlich zu mir geworden.
»Ich danke dir, Alix,« sagte Heinrich mit warmer Betonung. »Noch hast du zum Dank keine Ursache,« antwortete ich. Mir war seltsam beklommen zumute.
Als wir schlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die Tür zum Zimmer der Kinder, — es hatte mir in den acht Tagen seit unserem Einzug als Ankleideraum gedient —, erschrocken fuhr ich zurück: »Bist du's, Mutter?« rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die Türe wieder ins Schloß; auf Zehenspitzen schlich ich ins Bett. »Liebste — Einzigste!« flüsterte Heinrich und zog mich in seine Arme. Noch waren wir in den Flitterwochen unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte. Heute aber wehrte ich dem Geliebten mit einem ängstlichen Blick auf die Tür, — kaum daß ich seinen Kuß zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein. Zehnjährige Knaben sind hellhörig.
Am nächsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. Ich hatte mich überzeugt, daß sie ganz neu eingekleidet werden mußten, auch die Schulbücher galt es anzuschaffen. In recht gedrückter Stimmung kam ich nach Hause; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein Portemonnaie gerissen. Siebenzig Mark, — das war der ganze Rest meiner Erbschaft; auf unsere Reisen, auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen; Heinrich hatte schließlich auch noch den ganzen Haushalt der geschiedenen Frau mitgegeben, und es war nun nötig geworden, alles Fehlende zu ersetzen. Gewiß: ich hätte weniger ausgeben können —; ich hatte an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim zu schaffen, das ihrer würdig war. Glückselig hatten wir in den Tag hineingelebt; nun erst schien das Alltagsleben anzufangen, ganz nüchtern, ganz prosaisch, mit seinen täglichen kleinen Forderungen und seinen persönlichen Sorgen, in deren Schwüle der Altruismus so leicht verdorrt und der Egoismus üppig emporwuchert. Mir sank der Mut: wie würde Heinrich, der, wie es schien, an die Unerschöpflichkeit meiner Kasse ebenso fest geglaubt hatte wie ich, die unerwartete Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch, — dem ersten Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige Studenten stets irgendwo draußen gegessen, — nicht gerade redselig. Gut, daß die Buben so viel zu erzählen wußten!
Als wir uns am Schreibtisch allein gegenübersaßen, Korrekturen und Manuskripte vor uns, bekannte ich Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich ganz entgeistert an. »Aber das ist doch nicht möglich!« sagte er schließlich und strich sich mit der Hand über die heiße Stirn. »Du hast dich bestehlen und betrügen lassen —«, fuhr er dann los mit einem Ausdruck und einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen ließen. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater ausgesehen, wenn ich vor dem Ausbruch seines Zorns verängstigt aus dem Zimmer entfloh. Mir stürzten die Tränen aus den Augen. »Und nun weinst du auch noch, — als ob damit geholfen wäre —« rief Heinrich aufgeregt. Ich drückte mein Taschentuch vor die Augen, stand auf und riegelte geräuschvoll die Schlafzimmertür hinter mir zu. Ich hörte, wie er die Entreetür krachend ins Schloß warf. Es war die erste, ernste Differenz in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen Schritten unten über den Lützowplatz gehen sah, war mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn, ohne Rücksicht auf die Verwunderung der Menschen, zurückgerufen, wenn meine Stimme ihn erreicht haben würde. Nun stand ich weit hinausgelehnt auf der Loggia und winkte mit dem Tuch, das noch feucht von meinen Tränen war. Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem Korb voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich, als er in ihre Nähe kam. Zögernd ging er an ihr vorüber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er der alten Frau alle Rosen aus dem Korbe nahm, und den Weg hastig zurückging, den er gekommen war. In diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe hinab, ihm entgegen. Wir sanken einander in die Arme. »Verzeih mir, Geliebte, verzeih!« flüsterte er. »Was sollte ich dir zu verzeihen haben ...!«
Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall um einen Vorschuß zu bitten; vierundzwanzig Stunden später depeschierte er: »Anstandslos bewilligt. Sei ohne Sorgen.«
»Nun müssen wir doch wohl ein paar Besuche machen,« meinte Heinrich seufzend, ein paar Tage später, »bei meinem Bruder, bei August, bei dem Alten —«
Wir gingen zuerst zum »Vorwärts« in die Beuthstraße, in dessen Redaktion mein Schwager tätig war, Dunkle, schmierige Steintreppen führten hinauf. Nur spärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, vor deren Fenstern ein großes Fabrikgebäude mit dem Rattern seiner Maschinen und den grauen Gestalten, die sich eilig hin- und herbewegten, als ständiges Menetekel für die Vertreter der Arbeiterschaft drüben aufgerichtet schien. Zwischen Haufen von Büchern und Zeitungen saß mein Schwager, blaß und abgespannt.
Er war immer überarbeitet, denn zu seiner redaktionellen Tätigkeit lastete er sich stets noch tausend andere Dinge auf.
»Du interessierst dich ja für die Konfektionsarbeiter,« wandte er sich an mich, »Reinhard und ich bereiten eine Enquete vor. Man muß die Öffentlichkeit immer wieder mit der Nase auf die Dinge stoßen. Berlepsch ist abgesägt, die Konfektionäre haben ihr Wort gebrochen, ohne daß ein Hahn darnach krähte, jetzt gilt's wieder Spektakel machen, sonst ist's ganz und gar aus mit der Sozialreform.« Ich sicherte ihm freudig meine Hilfe zu. Und mit jener nervösen Unruhe, die stets das Zeichen geistiger Überreiztheit ist, schnitt er in der nächsten halben Stunde ein Dutzend anderer Gesprächsthemen an, um schließlich von seinem Bruder bei der Frage des Vorwärtskonflikts festgehalten zu werden, der gerade die Gemüter in der Partei erhitzte und die Gegner sehr beschäftigte, die überall hoffnungsvoll Unfrieden witterten.
»Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,« erklärte Heinrich kategorisch. »Zuerst in der Ironisierung der Quarckschen Vorschläge und dann in der unwürdigen Behandlung des alten Liebknecht.« »Was verstehst du davon?« brummte Adolf.
»Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel wie du. Und Quarcks Vorschläge liefen darauf hinaus, den Gewerkschaften eine intensivere Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu legen. Darin hat er recht. Sie sind wichtiger, als leichtsinnig begonnene Streiks.«
»Die Regierung würde auf unsere schönsten sozialpolitischen Kongresse pfeifen, und die Folge wäre nur eine Verwischung des Klassencharakters der Bewegung« — Adolf redete sich in steigende Erregung hinein; jede Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum Streit auszuwachsen; — »selbst einen verlorenen Streik, der sie trotz alledem stärkt, weil er die Erbitterung steigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher Sozialreformerei vor. Und was den Alten betrifft —, ich möchte sehen, was du tätest, wenn du mit ihm in der Redaktion säßest!« — »Mich zanken — höchst wahrscheinlich! Aber nicht vor der Öffentlichkeit!« Ich hielt den Augenblick für kritisch und stand auf. »Übrigens habe ich noch was für dich, Schwägerin,« sagte Adolf und begann seine sämtlichen mit Papieren vollgestopften Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich der Zeitungsausschnitt, den er suchte.
Ich las: »Zur Palastrevolution im Vorwärts — cherchez la femme! Wir erhalten von authentischer Seite folgende interessante Aufklärung über die tieferen Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen ihren Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, alias Fräulein Alix von Kleve, heiratete kürzlich Dr. Brandt, einen der Vorwärtsredakteure. Ihr brennender Ehrgeiz, der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei in die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige anzettelte. Eine Dynastie Brandt dürfte die Dynastie Liebknecht nunmehr ablösen.« »Verlogenes Pack!« knirschte Heinrich. Adolf lachte. »Beruhige dich,« sagte er zu ihm, »wir bringen heute schon eine Berichtigung —« »Und wir gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte die Spitze abzubrechen.«
Adolf hielt uns noch einmal zurück: »Ich rate euch dringend, den Besuch zu unterlassen. Der Alte kümmert sich freilich um keinerlei Geklatsch, aber Frau Natalie erzählt in allen Parteikaffeekränzchen Räubergeschichten über euch, die sie von deiner geschiedenen Frau gehört haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als Leo.« »Leo?!« wiederholte Heinrich überrascht. So hieß jener Freund, auf dessen enthusiastische Schilderung hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht hatte. »Das weißt du nicht?!« staunte Adolf. »Jedem, der es hören oder nicht hören will, zählt er haarklein deine Sünden auf: daß du Rosalie gezwungen habest, nach England zu gehen, um hier — na, sagen wir: ungestört zu sein, daß du sie selbst im Wochenbett nicht geschont, sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung durch unaufhörliche Quälerei erpreßt hättest und sie, kaum daß sie aufstehen konnte, mit dem Säugling aus dem Hause getrieben hast.« Heinrich war außer sich. Einer seiner besten Freunde war Leo gewesen, und er verurteilte ihn, ohne ihn gehört zu haben!
Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem Lützowplatz sah ich Frau Vanselow uns entgegenkommen. Sie bemerkte uns, stutzte und bog hastig in einen Nebenweg ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie zum Schutz, meinen Arm durch den seinen. »Mach dir nichts draus, Schatz. Es ist alles Gesindel! Du stehst zu hoch, als daß es dich verletzen könnte.« — »Und dich?!« fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß sich die Lippen und schwieg.
Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche Begegnungen: Kein Zweifel, meine alten Gefährtinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung wollten mich nicht mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem Kopf vorüber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus den Zeitungen von den Vorbereitungen zum internationalen Frauenkongreß, den einzuberufen ich im Frühjahr noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir das Referat über die Arbeiterinnenfrage fort genommen hätte, das mir seit Monaten übertragen worden war. Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern. Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: »Wir glaubten nicht, daß Sie noch Wert darauf legten, geschieht es dennoch, so können wir Sie natürlich nicht hindern.«
Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei Bebels nicht ohne Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu unserer Hochzeit ein Glückwunschschreiben erhalten hatten. Vielleicht war das nichts als eine Höflichkeit gewesen; ich fing an, mißtrauisch zu werden, und etwas wie Verbitterung bemächtigte sich meiner. Um so freudiger war ich überrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich willkommen hieß. Vor Rührung und Dankbarkeit wäre ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn ich in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus bewundert hatte, — von dem Augenblick an, wo er mir mit einem freundlichen: »Nun sind Sie ganz die unsere« kräftig die Hand schüttelte, verehrte ich ihn um seiner Menschlichkeit willen.
Ich beklagte mich über die Behandlung durch die vielen anderen, — selbst durch Parteigenossen. »Sie wundern sich noch, daß Ihre Geschichte so viel Staub aufgewirbelt hat?!« sagte Bebel. »Da kennen Sie unsere männlichen und weiblichen Philister schlecht! In der Theorie läßt man sich allerlei bieten, aber in der Praxis — nein, das geht doch nicht! Wo bliebe da die Moral!! Meine Frau und ich haben schon schwer für Sie kämpfen müssen —«
»So laß doch, August, — das erzählt man doch nicht!« wehrte Frau Julie errötend ab, während ich ihr dankbar die mütterlich-weiche Hand drückte.
»Warum denn nicht?« meinte er. »Es ist besser, Brandts sind orientiert, als daß sie täglich aufs neue unangenehm überrascht werden.«
»Ich hörte, daß Leo sich sehr feindselig benimmt?« fragte Heinrich.
»Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon herumgestritten, so daß er mich schließlich fragte, ob ich ihn für einen Philister hielte, was ich bejahte. Daß Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, war bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten. Bei den Frauen müssen Sie sowieso darauf gefaßt sein, daß sie von einem wahren horror ergriffen sind. Im Mittelalter hätten sie Sie als Hexe verbrannt, heute werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf hundert Federn gespießt.«
»Und da läßt sich gar nichts machen?« Meinem Mann schwollen die Adern an den Schläfen. »Warten Sie's ab, daß ist der einzige Rat, den ich geben kann. In vier Wochen stürzen sich die Raubtiere auf irgendeinen anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist, fliegen zu wollen.«
Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte freimütig, was wir durchgemacht hatten. »Arme, junge Frau — arme junge Frau,« wiederholte sie immer wieder und streichelte mir die Wange.
»Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie ist,« sagte er — »Sie müßten statt dessen in Drachenblut baden! Aber eins wird Sie trösten: die Arbeit in der Partei. Damit werden Sie schließlich auch die bösesten Zungen zum Schweigen bringen.«
Wir schieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu gekräftigt und voll Hoffnung. Als wir ein paar Tage später zu Bebels geladen wurden, sah ich diesem Ereignis mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft freier Geister, die die höchsten Ideale der Menschheit vertreten — meine Sehnsucht, seit ich denken konnte —, würde sich bei ihnen zusammenfinden: unsere Gefährten auf dem Weg in die Zukunft.
Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir an jenem Abend über die gastliche Schwelle traten. Es verstummte jählings, sobald die Türe vor uns aufging. Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich unwillkürlich. Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen. Auf dem Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe. Neben mir saß eine große, dicke Dame, die sich nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng geschnürt war. Sie war selbstbewußt wie anerkannte Schönheiten, warf ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte mich sehr gnädig. Ein Herr mit einem schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel glänzte, rückte ihr mit seinem Stuhl immer näher und schlug sich bei jedem Witz, den er erzählte, schallend auf die Schenkel. Er versuchte, auch mich ins Gespräch zu ziehen. »Sie sind ja, Gott Lob, auch eine vorurteilslose Frau,« sagte er und zwinkerte vertraulich mit den Augen. Ich wandte mich ostentativ zur anderen Seite den Damen zu, die Frau Bebel an den Tisch führte. Aber die Unterhaltung blieb an den oberflächlichsten Phrasen kleben. Dazwischen hörte ich mit halbem Ohr das Gespräch der beiden neben mir. Seine Witze wurden immer eindeutiger, in irgend einer Friedrichsstraßen-Bar mochte er sie nicht anders erzählen. Endlich ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben Bebel. Man sprach über die lieben Mitmenschen genau wie bei den »sauren Möpsen« schrecklichen Angedenkens, die ich in den verschiedenen Garnisonen meines Vaters hatte mitmachen müssen, und an Stelle von Regiments- und Manövergeschichten über interne Parteiaffären. Da ich nichts von ihnen verstand, konnte ich die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung machte, kicherten sie unaufhörlich. Die Hausfrau ging von einem zum anderen, um zum Essen zu nötigen. Ich fing an, mich zu amüsieren, — nicht mit den Gästen, sondern über sie, — und schämte mich doch wieder, daß meine Beobachtung so kleinlich an lauter Äußerlichkeiten kleben blieb. Ich wußte doch von vorn herein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte ich mir doch wohl vorgestellt.
Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit, um meines Nachbarn Ansicht über den bevorstehenden Frauenkongreß einzuholen. Eine Notiz in Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben. »Die Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum Kongreß abzulehnen,« hieß es darin.
»Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen, ohne Rücksicht darauf, wie Frau Wanda sich stellt,« sagte Bebel und warf mit einer lebhaften Bewegung die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Ich befinde mich mit ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten Taktik und der oft recht gehässigen Art, mit der sie die bürgerliche Frauenbewegung bekämpft. Sie käme mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie über die Resolutionen schrieb, die hier in vier großen Versammlungen zwischen der zweiten und dritten Lesung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?«
Ich nickte: »Mich hat überhaupt gewundert, daß von seiten der sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah. Das Bürgerliche Gesetzbuch hätte zu einer großen Protestbewegung Anlaß genug gegeben!«
»Sicherlich!« bekräftigte er, »und statt den gegebenen Anlaß zu benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschluß an den Protest der bürgerlichen Damen ab —, nicht etwa wegen dem, was darin steht, sondern wegen dem, was nicht darin steht! Mich amüsiert der Vorgang besonders deshalb, weil ich selbst den Resolutionen, die Frau Vanselow mir schickte, ihre letzte Form gegeben habe.«
»Sie scheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauenbewegung zu halten, als ich, die ich aus ihr hervorging,« meinte ich lächelnd.
»Die Distanz verändert immer das Urteil,« antwortete er. »Ich mache mir aber keinerlei Illusionen, finde nur, daß es taktisch richtiger gewesen wäre, die Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung des Reichstags für uns auszunutzen, als sie so plump, wie Frau Wanda es tat, vor den Kopf zu stoßen. Die Frauen haben tatsächliche Fortschritte gemacht und sind mit ihren männlichen Parteigenossen, den Liberalen, nicht in einen Topf zu werfen.«
Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das sie seit dem Konfektionsarbeiterstreik für die Arbeiterinnenfrage an den Tag legten. »Auch auf dem Kongreß wird sie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen breiten Raum einnehmen.«
»Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift —, das werden Sie sich hoffentlich nicht verhehlen,« warf er ein. »Im übrigen ist das natürlich die schwächste Seite der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen ja darüber tüchtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme der christlich-sozialen Frauen jüngerer Richtung verstehen sie nicht einen Deut von ihr.«
Christlich-sozial, — das war das Stichwort zur Verallgemeinerung des Gesprächs. Göhre hatte eben sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante eine Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die sich um ihn gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war eine schon fast vollendete Tatsache. Man stritt mit steigender Lebhaftigkeit über ihre Ansichten, über die Bedeutung, die sie für die Sozialdemokratie haben könne.
»Nichts als ein Unterschlupf für die Möchtegern- und Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit den Jahren nach rechts abschwenken,« sagte der mit dem schwarzen Bart und zog ihn schmeichelnd durch kranke, blutleere Finger »Es wird unsere Sache sein, ihnen die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,« hörte ich Heinrichs Stimme. »Sie sind immer ein Ideologe gewesen, lieber Brandt,« antwortete ihm eine andere, »sollten wir uns um eine Handvoll Intellektueller die Beine ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren sind?!« »Gerade um die Millionen zu gewinnen, brauchen wir eine solche Handvoll —,« entgegnete Heinrich.
»Dafür lassen Sie nur ruhig die Verhältnisse sorgen,« sagte Bebel lebhaft, »sie werden uns schneller, als ihr alle glaubt, die Massen zutreiben. Noch ein paar Jahre Flottenrummel, einige Reden von S. M..«
»Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate mehr haben —, oder meinst du wirklich, wir sprängen dann schon mit beiden Beinen in den Zukunftsstaat?!« Der mit gutmütigem Spott gesprochen und bisher fast immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine rasch entzündliche Begeisterung, die Bebels Worte ganz anders ergänzte, wirkten die seinen wie ein kalter Wasserstrahl. Anderen schien es ähnlich zu gehen, das Gespräch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand auf. Nach ein paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Eßtisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten; keine der anwesenden Frauen schien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden nicht berührt. Nur die große, dicke Frau, deren Schönheit und Geist mir inzwischen irgendwer gepriesen hatte, stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade vor mich hin und fragte: »Wie denken Sie über Ibsen?« Die anderen richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund schienen sie über mich zu tuscheln, und ich fühlte ihre Blicke, die musternd auf mir ruhten.
Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft machen. »Das sind ja alles Philister —,« brach ich los, »vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin hätte ich nichts anderes erwartet.« Heinrich lachte.
»Glaubst du, die politischen Ideale könnten aus ihren Vertretern gewandte Salonhelden machen?«
»Das nicht. Aber freiere Menschen.«
»Darüber dürften Generationen vergehen. Die Gewohnheit ist wie eine Haut und läßt sich nicht auf einmal abziehen. Du mußt unsere Genossen bei der Arbeit kennen lernen, nicht beim Souper.«
Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf lud uns ein, der Sitzung der Gewerkschaftskommission beizuwohnen, in der die Vorschläge Dr. Quarcks erörtert werden sollten. In einem Lokal der Kommandantenstraße fand sie statt. Durch die enge Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und süßlichem Schnaps roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein paar verkümmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen endlosen Todeskampf führten, ging es in die große, hölzerne Veranda, deren spärliche Gasflammen die dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten. Gegen hundert verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten vertreten, fast lauter ernste, ältere Männer im Sonntagsrock, die Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug vor sich; nur zwei Frauen unter ihnen: Martha Bartels und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber während Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich hastig aus der Reihe schob und meinen Gruß frostig und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer freundlich entgegen und zog uns an ihren Tisch. »Haben Sie die Bartels gesehen?« flüsterte sie mir zu. »Sie hat den Moralkoller, wie alle alten Jungfern.« Mühsam drängte sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch die Reihen, um uns die Hand zu schütteln. »So kann ich Ihnen noch persönlich gratulieren,« sagte er herzlich, »und uns dazu, weil Sie nun ganz Genossin sind.«
Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, die mir die Wichtigkeit der Sache zu überschätzen schien, wandte er sich gegen die Vorschläge Quarcks. Erst allmählich hörte ich das Leitmotiv aus seiner Rede heraus: den Gewerkschaften die Beratung und Beschlußfassung sozialpolitischer Fragen überlassen, hieße den Frieden zwischen Gewerkschaft und Partei gefährden, hieße den Parteitagen, die sich bisher allein damit beschäftigt haben — »den Bedürfnissen und Interessen der deutschen Arbeiterklasse vollständig entsprechend« —, Sonderorganisationen gegenüberstellen, in die der Einfluß bürgerlicher Sozialreformer einzudringen imstande sein würde. Die folgende Diskussion verschärfte noch den Eindruck, den ich gewonnen hatte.
Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil sie mir eine Vorahnung dessen gaben, was mir bevorstehen mochte. »Ein Mensch, der in seiner bürgerlichen Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, — lauter alte erprobte Gewerkschafter, — auf neue Wege führen,« sagte der eine unter dem Applaus der Anwesenden. »Erst soll er, wie jeder Arbeiter auch, in die Schule gehen, ehe er das Maul aufreißt.« — »Eine Sozialpolitik, wie Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts als jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im Grunde noch gehört,« rief ein anderer. »Wenn er mit seiner bescheidenen Parteistellung nicht zufrieden ist, dann hätte er lieber gleich sagen sollen: für einen so großen Mann wie mich muß eine Extrawurst gebraten werden, statt seine Wünsche hinter die Forderung eines Zentral-Gewerkschaftsbureaus zu verstecken,« meinte ein dritter Redner, dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht leuchtete. Erhob sich die Debatte über persönliche Gehässigkeiten hinaus, so stand auf der einen Seite die geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem Eifer den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen Macht durch die Gesamtheit der Partei gelegt wissen wollten und den Gewerkschaften den internen Kampf um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse als alleinige Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr Wenigen, aus deren Worten die Unzufriedenheit mit der praktischen Gegenwartspolitik der Partei leise herausklang, und die vom Einfluß der Gewerkschaften auf die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform erhofften. Ganz nebenbei erwähnte auch jemand, daß unsere Vereinsgesetzgebung den Gewerkschaften aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik einen Strick drehen und die Organisierung der Frauen unmöglich machen könnte. Keiner ging weiter auf diese Bemerkung ein, auch die Frauen schwiegen, ich war zu schüchtern, um in diesem Kreis für mein Geschlecht eine Lanze zu brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend, um die Vorschläge unausführbar zu finden.
Ich fühlte mehr, als daß ich verstand: unter diesen Männern, die so eifrig debattierten, die alle so selbstverständlich nur ein Ziel im Auge hatten, das Wohl ihrer Klasse, schlummerten Gegensätze, die irgendwann und -wo an die Oberfläche würden treten müssen.
Wir gingen noch zusammen ins Kaffee: Reinhard, der Schwager, die beiden Frauen und wir. Martha Bartels hatte sich erst durch Reinhards langes Zureden dazu bewegen lassen. »Wir müssen doch unsere Enquete besprechen,« hörte ich ihn noch sagen, als sie sich uns näherte. Ida Wiemer stieß mich mit dem Ellbogen an und schob dann vertraulich ihren Arm in den meinen: »Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, daß Sie nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.«
Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels war fast die einzige, die die Motive meines Schritts hätte richtig beurteilen müssen. Sie blieb steif und zurückhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug, ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich während des Streiks bewährt hatten, zur Arbeit heranzuziehen. »Niemals!« rief sie leidenschaftlich. »Wir werden ihnen doch nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft vermitteln, die sie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die Christlich-Sozialen vor allem gehen nur auf den Gimpelfang aus!« Es war, als ob ich Wanda Orbin sprechen hörte. Aber ich konnte nicht anders, als ihr recht geben. Halb mißbilligend, halb verwundert sah Frau Wiemer, die andrer Ansicht war, mich an, und beim Weggehen sagte sie mit einem gereizten Ton in der Stimme. »Sie stellen sich auf ihre Seite — nach allem, was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!« Die Reihe, zu staunen, war jetzt an mir: »Hier handelt es sich um die Sache, — nicht um die Person!«
Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich sehr unwohl. War es der Tabaksqualm, den ich nicht vertragen konnte, war es die feuchte Nachtluft, — ich kam nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und warf mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Nachtlämpchen an. Es glühte auf dem Tisch wie ein verirrter Stern, — und die meergrünen Wände waren wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote Glas der Lampe rosige Wölkchen malte. Heinrich nahm mir die Schildpattkämme aus den Haaren —, mein Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe aus und rieb meine eiskalten Füße zwischen seinen Händen, von denen wohlige Wärme mir durch den ganzen Körper strömte. »Ist dir jetzt besser, mein Schatz?« fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner Stimme. Ich sah ihn dankbar an —, dabei blieb mein Blick über seine Schulter hinweg an einem Bilde haften; ich hatte es selbst dorthin gehängt, ich wollte es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen gelächelt, als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt — in glückseligem Erschrecken preßte ich beide Hände aufs Herz —: glänzte nicht in den tiefen Dichteraugen des lockigen Ganymed von Watts ein Funken lebendigen Lebens? Ich sank in die Kissen zurück, Tränen strömten mir aus den Augen, — war's möglich, daß ich vor der Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht stand?!
Am nächsten Morgen kam die Ärztin. Sie lachte über die Erregung, mit der ich sofort und ganz sichere Auskunft von ihr haben wollte, und sagte nichts anderes als: »Vielleicht!« Ich klammerte mich an dies Vielleicht, ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, ob es sich nicht doch in ein Gewiß verwandeln könnte. Allerhand gespenstische Vorstellungen quälten mich: als hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müssen, eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als könnten ihre Raubtierhände das Fünkchen Leben zerdrücken. Mein Mann wurde heftig und schalt meine Torheit, wenn ich von meinen Ängsten sprach. So war ich denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine Freundin, — oder eine Mutter —, dachte ich oft.
Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen zurück. »Ich muß Euch, ehe Hans wieder in Berlin ist, allein sprechen,« schrieb sie und kündigte ihren Besuch für denselben Tag an. Ich war nicht ganz ohne Furcht: sie hatte es doch wohl übel genommen, daß wir ihr Anerbieten, bei unserer Hochzeit zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten. Zuerst würde sie darum ein bißchen steif sein, aber dann —, sie würde doch fühlen müssen, wie es um mich stand! Mit ausgestreckten Händen ging ich ihr entgegen, — ich sehnte mich nach einer Mutter! Aber sie übersah sie, — vielleicht weil der Flur dunkel war. Und sie atmete rasch und war sehr rot, — vielleicht weil die Treppe sie überanstrengt hatte. Sie sah sich gar nicht um in unserem Zimmer, — und ich hatte es ihr zum Empfang mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschmückt.
»Willst du nicht ablegen?« fragte ich zaghaft.
»Nein,« antwortete sie schroff und setzte sich auf den äußersten Rand des großen Lehnstuhls, der sonst selbst den Fremdesten zwang, sich behaglich in seine Polster zu lehnen. »Ich komme nur, um eins zu erfahren, das über unsere künftigen Beziehungen entscheidet —« die ruhige kühle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte sprechen hören. »Meinen brieflichen Fragen seid Ihr ausgewichen, mir ins Gesicht hinein könnt Ihr nicht lügen: seid Ihr kirchlich getraut?« Noch härter als das ihre klang jetzt mein »Nein«. Aus der Tiefe meines verletzten Gefühles kam es. Die Mutter hatte ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im Gesicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklammernd. »So ist eure Ehe ein Konkubinat, und du bist seine Mätresse,« schrie sie mit gellender Stimme. Ich fühlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen begann und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog.
»So nehmen Sie doch Rücksicht auf Alix' Zustand —, schonen Sie ihr Kind!« rief Heinrich, mich fest umschlingend, da er sah, wie ich schwankte. Sie schien einen Augenblick Atem zu schöpfen, dann lachte sie schneidend: »Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je geschont?!«
Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zu Bett. »Ist sie fort?!« flüsterte ich und sah angstvoll fragend auf den Geliebten. Er nickte.
»Für diesmal ist es nichts!« sagte die Ärztin ein paar Stunden später. In meinem Blick muß meine ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie streichelte mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte tröstend: »Um so sicherer wird es das nächste Mal sein!«
Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte ich gegen den Schmerz zu kämpfen. Es schien fast, als sollte die Waffe, die so oft unüberwindlich zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie aus den Händen lassen, er hätte mich sonst wieder in seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine Kongreßrede vor und studierte alles, was über die Lage der Arbeiterinnen irgend erreichbar war; ich arbeitete mit den Kindern und frischte heimlich längst vergessene Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu können, ich versuchte, der Köchin die alten Kochkünste beizubringen, die ich einst zu Hause gelernt hatte.
Wanda Orbin überraschte mich eines Morgens dabei. »Was, Sie können kochen?!« lachte sie. »Ich kann, — ja,« antwortete ich, »aber ich sehe, daß die Ausführung meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner Köchin das Feld wieder räumen müssen —.« »Das wird für beide Teile das Beste sein. Ich hab's zwar auch jahrelang tun müssen, bin aber dafür nicht als Generalstochter aufgewachsen.« Ein leiser Spott lag in ihren Worten. »Sie werden überhaupt noch viel lernen müssen, Genossin Brandt!«
»Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu,« antwortete ich kühl.
»Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand ihren Namen auf dem Kongreßprogramm —, Sie müssen ihn zurückziehen!«
Überrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer Vorgesetzten gesprochen. »Warum?! Bebel hatte gegen meine Teilnahme nichts einzuwenden!«
»Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive, vor allem die Frauenbewegung. Die Genossinnen haben beschlossen, die Aufforderung zu offizieller Beteiligung abzulehnen.«
»Ich weiß,« entgegnete ich; »im Frühjahr aber, zur Zeit, als ich das Referat übernahm, bestand dieser Beschluß noch nicht. Ich würde meinen Rücktritt, so kurz vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um so weniger zu entschuldigen wäre, als ich selbstverständlich mein Thema auf Grund meiner politischen Überzeugung behandeln werde und es für dies Publikum sehr nützlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen zu lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen Frauenbewegung in die Arme liefen — die Lehrerinnen, die Handelsangestellten, die Beamtinnen —, gehören ihrer ganzen Lage nach zu uns. Wir können sie nur gewinnen, wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen —«
Frau Orbin unterbrach mich. »Sie irren. Diese Leute kommen für uns zunächst gar nicht in Betracht. Und wenn Sie wirklich durch Ihre Überredungskünste« — sie schürzte wieder spöttisch die Lippen — »zwei oder drei gewinnen würden, stünde der Nachteil, den Ihre Teilnahme an einer bürgerlichen Veranstaltung zur Folge hätte, gar nicht im Verhältnis zu diesem minimalen Gewinn.« Ich sah sie fragend an. Sie stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb dann dicht vor mir stehen.
»Sie sind eben erst die Unsere geworden,« sagte sie mit einer Art mütterlicher Freundlichkeit, »Sie sind Aristokratin, — Gründe genug, um Ihnen mißtrauisch zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, von der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und nun wollen Sie noch als einzige, — gegen unseren Beschluß, — an diesem einseitig feministischen Kongreß teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen nicht. Und wenn Sie dabei mit Engelszungen den Sozialismus verkündigen würden, sie hören Sie nicht, — sie sehen darin doch nichts anderes, als daß Sie eben noch zu jenen gehören. Ich habe gestern Ihretwegen einen schweren Kampf gehabt: die Genossinnen weigern sich unbedingt, Sie zur internen Arbeit zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung unter unseren Beschluß Ihre Zugehörigkeit zu uns dokumentieren.« Sie zögerte und sah mich erwartungsvoll an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir beide Hände auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Sie sind in die Partei eingetreten, um für sie zu wirken; wollen Sie sich aus Rücksicht auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen? Haben die Damen das um Sie verdient ...?« Sie machte abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie Frau Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich nicht grüßen zu müssen, wie Frau Schwabach mit hochmütig erhobenem Kopf an mir vorüberging. Aber hatte ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das Referat nicht erzwungen, — konnte ich unter diesen Umständen daran denken, zurückzutreten? Vor allem aber: entsprach es meiner Überzeugung?
»Sie mögen in allem recht haben, — nur in der Hauptsache nicht: in Ihrem Beschluß. Würde ich Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum mindesten als ein Schwächling erscheinen, wenn ich mich ihm fügen wollte wider besseres Wissen und Gewissen?!« sagte ich. Auge in Auge standen wir uns gegenüber. Sie ballte die kleinen breiten Fäuste, aus ihrem Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben es wie mit einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte, daß kein Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine sie überragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade auf.
»Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie gelernt zu haben!« rief sie aus. »Auers Worte kann ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in Frankfurt vor zwei Jahren seinen aufsässigen Landsleuten diente: ›Das gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, daß er sich sagt: Esel seid ihr zwar, aber ich muß mich fügen‹. Mögen Sie uns meinetwegen für Esel halten — der Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl ein Recht dazu! —, wenn Sie aber zu uns gehören wollen, so haben Sie Ihre Person der Allgemeinheit unterzuordnen.« Jetzt war die untersetzte, kleine Frau doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte die heiße Stirn an die kühle Fensterscheibe; — sie sollte nicht sehen, wie schwer es mir wurde, mich zu unterwerfen. Aber sie folgte mir.
»Genossin Brandt —,« aus ihrer Stimme war der schrille Ton wieder verschwunden, der an den Kasernenhof erinnerte, — »wir haben uns alle opfern müssen —« Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Züge waren weich geworden. »So will ich Ihnen nicht nachstehen,« antwortete ich. In ihren Augen leuchtete es auf wie Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich in neue unsichtbare Fesseln schlüge.
»So, — und nun soll Ihnen eine goldene Brücke gebaut werden,« damit zog sie mich neben sich aufs Sofa. »Wir erlassen Ihnen den offiziellen Rücktritt, aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur zur Verfügung steht, zu einer Erklärung Ihres Standpunktes und überbringen dem Kongreß unsere Einladung zu den Volksversammlungen, in denen die Arbeiterinnenfrage in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, der ihrer Bedeutung allein entspricht. Sie müssen es ja selbst schon als eine skandalöse Zumutung empfunden haben, daß man Ihnen dieselben fünfzehn Minuten zugestand, die man so welterschütternden Fragen wie den Volksküchen oder den Kleinkinderschulen auch gewährt hat —«. Ich bejahte, ohne recht hinzuhören, sie sprach weiter, wie ein unaufhörlich knarrendes Wasserrad, immer rascher, ohne Absatz. »Den ersten Vortrag in unseren Versammlungen übernehmen Sie,« — damit war ihr Redestrom endlich versiegt. Wir verabschiedeten uns. An der Treppe blieb sie noch einmal stehen: »Ich hätte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben morgen eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es wird für sie angenehmer sein, wenn ich Sie einführe.«
So war ich also aufgenommen — endgültig, aber zu einer rechten Freude darüber kam ich nicht. So sehr sich mein Nachgeben begreifen und entschuldigen ließ, so notwendig es vielleicht in der gegebenen Situation für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei nicht los, einen Wortbruch begangen zu haben. Was mir zuerst wie eine Erleichterung schien: die »goldene Brücke«, — kam mir nun vollends wie eine Täuschung vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr.
Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand damals noch immer im Zeichen des Köller-Kurses. Ihre Bildungsvereine waren unter den nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen mußten sich wiederholt polizeilichen Haussuchungen unterwerfen, jede Korrespondenz mit Gesinnungsgenossinnen, die man auffand, genügte, um sie als staatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu setzen. An der Frauenbewegung blieb daher der Charakter revolutionären Geheimbündlertums, den die Partei als solche mehr und mehr abstreifte, noch lange haften. Für die Zusammenkünfte, die notwendig waren, bedurfte es der größten Vorsichtsmaßregeln, und nur ein kleiner Kreis vertrauenswürdiger Frauen wurde dazu eingeladen. Die Sitzung, zu der wir gingen, Frau Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in der Linienstraße statt. Wir vermieden es, durch das Lokal zu gehen — »hier gibt's überall Spitzel,« meinte meine Gefährtin —, und bogen in den dunkeln Torweg ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe hinauf und standen einen Augenblick zögernd vor einer Tür, durch deren Schlüsselloch ein schwacher Lichtschein drang. Ich bemühte mich, hindurch zu sehen. »Drinnen ist niemand,« sagte ich, »eine Photographie hängt an der Wand, — ein Mann mit schwarzem Bart und weißen Locken.« — »Marx!« rief Wanda Orbin, »so sind wir richtig.« Wir durchquerten den fensterlosen Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und traten in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine Petroleumlampe hing von der geschwärzten Decke; mit einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle Gegenstände im Zimmer, — die schmutzigen Vorhänge, die fettigen Zeitungen, die rotgewürfelte Tischdecke, das alte Klavier im Winkel —, förmlich imprägniert zu sein. Und dazu hatte der frische September draußen den Rest stickiger Sommergroßstadthitze hier hereingedrängt. Die Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte saßen, schwitzten. Ich wurde vorgestellt. Mein verbindliches Lächeln begegnete unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst als Wanda Orbin mit ungewöhnlicher Wärme von mir sprach, meinen Entschluß, dem Kongreß eine Erklärung abzugeben, statt den angekündigten Vortrag zu halten, mit großem Nachdruck herausstrich, klärten die Mienen sich auf. Eine kleine runde Frau, die neben mir saß, streckte mir die arbeitsharte Hand entgegen: »Na, sehen Se mal, det is scheen von Ihnen!« sagte sie laut mit feucht schimmernden Äuglein. »Ruhe, Genossin Wengs!« rief die Bartels vom Tischende hinunter und trommelte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. Man versuchte parlamentarisch zu verhandeln, aber es entspannen sich immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die Kassenverhältnisse eines der aufgelösten Vereine wurden erörtert. Da man Bücher und Protokolle aus Angst vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen pflegte und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde eilig verbrannt worden war, so fehlte es an den nötigen Unterlagen, um zu einem tatsächlichen Ergebnis zu gelangen. Es kam zu einer heftigen Debatte. Die arme Frau, die Kassiererin gewesen war, wurde laut und leise der Unredlichkeit geziehen —, sie hätte unbedingt noch vier Mark haben müssen und behauptete schluchzend, nichts zu haben.
»Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt gemacht hab,« heulte sie, »soll ich nu noch als Diebin dastehn. In Zukunft macht Euren Dreck alleene!« Und hinaus war sie. Immer drückender wurde die Luft. Das Fenster durfte nicht geöffnet werden, man hätte uns vom Hof aus hören können. Ich erstickte fast in dieser Atmosphäre. Die anderen schienen an sie gewöhnt zu sein, niemand beklagte sich. »Wir müssen unbedingt die beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute noch erledigen,« erklärte schließlich Wanda Orbin, nachdem man sich schon zwei Stunden um lauter persönliche Dinge hin- und hergezankt hatte. »Ich bitte daher ums Wort zur Frage des bürgerlichen Frauenkongresses.« Man schwieg, und sie fuhr fort, indem sie nochmals den Standpunkt der Genossinnen begründete, — mit einer Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine Volksversammlung zu überzeugen. Machte sie eine Pause, so gab Martha Bartels das Signal zu allgemeinem Applaus. »Wir sind in der vorigen Sitzung mit unserer Besprechung zu keinem Abschluß gekommen. Ich frage die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen des Kongresses einzugreifen, überlegt haben, und wie sie sich dazu stellen?« Mit dieser mich nicht wenig überraschenden Frage, schloß sie ihre Rede. Alles blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von einer zur anderen. »Wir sind wohl alle einer Meinung,« meinte sie dann, »und können ohne weiteres zur Abstimmung schreiten.« Ich hatte bisher mit keinem Wort in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mißbilligend an, als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte die Stirne. »Ich habe der Sitzung nicht beigewohnt, in der Sie, scheint's, die Angelegenheit schon hinreichend besprochen haben,« sagte ich, »mir fehlen daher, um zu einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. Ich möchte mir deshalb nur die Frage erlauben, ob es nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung am Kongreß abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion zu beschließen?« Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur Ida Wiemer, die neben mir saß, stieß mich unter dem Tisch heimlich an und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda Orbin, vom Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet, die grundsätzliche Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung auseinander zu setzen. »Es hieße das Prinzip des Klassenkampfes preisgeben,« sagte sie, »wenn wir mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam unternehmen wollten, aber es gehört zum Klassenkampf, daß wir in der Debatte ihnen geschlossen gegenüber treten.« »Niemand hinderte uns, in selbständiger Rede dasselbe zu tun —«, warf ich noch einmal ein. Meine Worte gingen im allgemeinen Geschwätz, das wieder entfesselt war, verloren. Wanda Orbin hatte alle Stimmen auf ihrer Seite, — auch Ida Wiemer. »Wenn man nicht mittut, wird man gehenkt —,« flüsterte sie mir sich entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung. »Wir kommen zum nächsten Punkt der Tagesordnung: Parteitag,« sagte Martha Bartels, die den Vorsitz führte. »Genossin Orbin hat das Wort.« »Der Parteitag in Gotha ist für uns ganz besonders bedeutungsvoll,« begann sie; »die Frauenagitation steht auf der Tagesordnung. Es ist infolgedessen wünschenswert, daß viele der tätigen Genossinnen als Delegiertinnen anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben der theoretischen Schulung zu Worte kommt. Unsere Resolution ist Ihnen durch die ›Freiheit‹ bekannt; es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie nichts Neues bringt, sondern nur das bewährte Alte zusammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch drohen uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung einer besonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre Verfasser sind mit unserer ›Freiheit‹ unzufrieden. Es ist notwendig, daß die Berliner Genossinnen klipp und klar dazu Stellung nehmen.« Nun entwickelte sich etwas wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels voran, lobten die ›Freiheit‹ in allen Tönen, Frau Wiemer allein sprach mit dem Wunsch nach etwas populäreren Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den Frau Orbin dadurch entkräftete, daß sie erklärte, die ›Freiheit‹ sei gar nicht für die Massen bestimmt, sondern nur für die Führerinnen. Man war darnach ausnahmslos entschlossen, jede Änderung ihres Inhalts und jeden Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als ich bemerkte, man möge wenigstens dafür sorgen, daß, als wichtiges Mittel unserer Agitation, die allgemeine Parteipresse der Frauenfrage einen breiten Raum gewähre, lachte alles. »Da kennen Se unsere Männer schlecht,« meinte die dicke Frau Wengs neben mir, »die wollen von uns rein jar nischt wissen.« »Die mehrschten erlooben den Frauen nich, daß se in ne Versammlung jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un Strümpe stoppen,« rief eine andere und ein allgemeines Klagelied über die Männer hub an; erst die energische Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder her: »Es ist zwölf Uhr, — wir müssen zu Ende kommen.« »Jotte doch, schon zwölwe, un ick habe soo'n weiten Weg,« jammerte Frau Wengs und erhob sich. Ein paar andere, die schon lange auf ihren Stühlen hin und hergerückt waren, sprangen auf. »So bleiben Sie doch fünf Minuten, Genossinnen,« kommandierte Martha Bartels, »wir müssen doch die Delegiertinnen zum Parteitag noch bestimmen.« Frau Wengs ging eilig zu ihrem Stuhl zurück, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde drückte sich in den Mienen aller aus. Die Bartels fuhr mit erhobener Stimme fort: »Vorgeschlagen sind Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.« Ein eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. »Hat jemand andere Vorschläge?!« Sie sah drohend umher. Ein Dutzend Frauen meldeten sich auf einmal. »Immer dieselben!« — »Laßt doch ooch andere drankommen!« — »Die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen werden natürlich übergangen —!« schrie und lärmte es durcheinander. »Ick schlage die Jenossin Brandt vor —,« rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen sahen mich an, — mißtrauisch, feindselig. Ich hatte die Situation rasch erfaßt. »Ich danke der Genossin Wengs für ihre Freundlichkeit,« sagte ich, »aber ich fühle mich noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich solch einen Ehrenposten annehmen könnte.« Wanda Orbin nickte mir, sichtlich erleichtert, zu: »Nun aber schnell zur Abstimmung, — wir versäumen ja noch die Pferdebahn! — Ich denke, wir bleiben bei unseren Vorschlägen —« Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung geschlossen, als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen Gruppen auseinander, — lauter feindliche Lager, wie mir schien. Wanda Orbin legte ihren Arm in den meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie drückte mir herzlich die Hand, als wir Abschied nahmen.
Mein Mann erwartete mich im nächsten Kaffee. »Das hat aber lange gedauert,« meinte er. »Wenn die Bedeutung Eurer Beschlüsse der Länge der Zeit entspricht, die Ihr darauf verwandt habt —!« Ich lachte, aber es war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den Ereignissen die komische Seite abgewinnt und sich dadurch über sie erhebt. Heute würde mich der Humor im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen hätte. Es war alles so eng gewesen, so drückend, — wie die schmutzige Stube und die eingeschlossene Luft in ihr; kein großer Gesichtspunkt war zutage getreten. »Wir Genossinnen sind immer einig,« hatte Wanda Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich für Einigkeit halten, was nichts war als die Beherrschung armer Frauen kraft ihres Willens und ihrer Intelligenz? »So wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus zu brechen,« sagte Heinrich. — »Nachdem ich mich ihm selbst schon unterworfen habe?!«
Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses hinauf. Seit vier Tagen verhandelte der Frauenkongreß in dem festlichen Bürgersaal vor einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde, immer mehr aus Interesse kam. Es war zwar im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei der jede Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raschem Galopp vorzuführen hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: Die Frauen konnten reiten. Heute war der Tag der großen Sensation: Die Arbeiterinnenfrage stand auf der Tagesordnung; man erwartete eine Schlacht zwischen den bürgerlichen Frauen und den Proletarierinnen, und auch mir persönlich galt ein Teil der allgemeinen Spannung, — der Frau, deren Roman von Mund zu Mund ging, der Renegatin. An der Türe stand Egidy, mein alter Freund. Er drückte mir die Hand: »Ich bin erst eben nach Berlin zurückgekehrt. Sonst wäre ich schon bei Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim alten.« Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den überfüllten Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider raschelten, Stühle wurden gerückt, Köpfe wandten sich nach mir um, man flüsterte meinen Namen. Eine Gruppe russischer Studentinnen, an denen ich vorüber mußte, klatschte stürmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine scharfe Stimme zur Ruhe. Die Genossinnen begrüßten mich; die erwartungsvolle Erregung, in der sie sich befanden, steigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben sich. Ich blieb trotzdem befangen und suchte mit den Augen meinen Mann, als müßte ich mich wenigstens mit den Blicken an ihn klammern.
Eine Österreicherin sprach zuerst über die Ergebnisse der Wiener Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie war eine überzeugte Sozialdemokratin. Die fünfzehn Minuten reichten aus, um ein ergreifendes Bild schrecklichen Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht! Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation der Frauen in wenigen scharf-umrissenen Sätzen; in langer Rede hätte sie kaum mehr sagen können.
»Frau Alix Brandt hat das Wort«, — tönte jetzt die heisere Stimme der Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand auf und zwängte mich durch die Stuhlreihen, am dichtbesetzten Tisch der Presse vorbei. »Sie wissen« — »Scheidungsprozeß« — »Verhältnis« — »Unglaublich«, — flüsterte es. Mein Blut begann zu sieden. Ich stand auf der Tribüne; — am Vorstandstisch zischte jemand, aus einer Ecke des Saales klang Beifallsgeklatsch und Getrampel. Das Zischen wurde stärker. Sekundenlang kämpften beide Laute miteinander, — die Vorsitzende rührte sich nicht. Helle Empörung bemächtigte sich meiner, — jetzt war ich bereit, ihnen meine Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig, indem ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutschen Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, sich an den Arbeiten des Kongresses durch Delegierte zu beteiligen. »Für sie, die auf dem Boden der Sozialdemokratie stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der sozialen Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gut gemeinten Bestrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht lösbar. Ich selbst teile diese Auffassung vollkommen.« Meine Stimme hob sich und wurde schärfer; zu schneidendem Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen. »Wer vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend mit der Frauenfrage, — wohl gemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, — beschäftigt, der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.« Stürmische Choruse unterbrachen mich, die der Beifall der Genossinnen vergebens zu ersticken suchte. »Mit anderen Worten: wer es nicht tut, ist ein Dummkopf oder ein Heuchler?!« schrie eine der Damen vom Pressetisch zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit spöttischer Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen meinen Worten klingen sollte. Die Unruhe wuchs, ich mußte lauter sprechen, um durchzudringen. »Die Wertschätzung und das Verständnis der bürgerlichen Frauenbewegung für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts deutlicher charakterisiert, als durch die Tatsache, daß man mir zu einem Vortrag über sie, die die größte Masse des weiblichen Geschlechts umschließt, und die entrechtete und unglücklichste, dieselben fünfzehn Minuten gewährt hat, wie etwa der Damenfrage der Mädchengymnasien. Ich verzichte daher auf meinen Vortrag...«
Die Zuhörer schrieen und tobten, ein paar Männer sprangen auf die Stühle und drohten mir mit erhobenen Armen, in größter Erregung schwang die Vorsitzende unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes Klagegeheul die Melodie zu der Begleitung brüllender Stimmen zu sein schien. Endlich verschaffte ich mir wieder Gehör:
»In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen worden sind, soll den Teilnehmerinnen des Kongresses Gelegenheit geboten werden, die Arbeiterinnenbewegung kennen zu lernen. Nicht als ob wir des frommen Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen für uns gewinnen zu können. Zu tief eingewurzelt ist der jahrhundertelang genährte Klassenegoismus, zu einschneidend in das Leben und Denken gerade der abhängigen Frau sind die Interessen ihrer Klasse, als daß sie sich so leicht davon losreißen könnte. Aber vielleicht wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es ein größeres, ergreifenderes Elend gibt, als das der unbefriedigten, berufslosen Töchter Ihrer Stände; daß außerhalb Ihrer Kreise ein Kampf gekämpft wird, der ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; daß der Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung nur dort zu finden ist, wo Männer und Frauen ihre vereinten Kräfte für das eine große Ziel einsetzen: Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und moralischer Knechtschaft ...«
Ich stieg vom Podium. Es war ein Spießrutenlaufen. Die eleganten Frauen Berlins, die in ihren schönen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt hielten, hatten ihre ganze gesellschaftliche Haltung verloren. Sie zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehandschuhte Fäuste erhoben sich in bedrohlicher Nähe. Aber schon war Heinrich neben mir und reichte mir den Arm. Ein paar Schritte weiter umringten mich die Genossinnen, Wanda Orbin schloß mich stürmisch in die Arme.
Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten Damen um den jüngsten Philosophen Berlins geschart; er war ein Freund meines Mannes. »Sie haben Gift gespritzt,« schrie er mir zu. Mit einem Blick voll Zorn und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächsten Augenblick trat mir Egidy entgegen. »Sie haben sich schwer versündigt,« sagte er, seine blauen Augen funkelten zornig.
An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich noch einmal rückwärts sehen, über die Menge hinweg in den festlich glänzenden Saal: Von der Decke herab flutete das Licht in Strahlenbündeln; es schimmerte weich auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige blutdurchflossene Adern in die Säulen von rotem Granit, es funkelte prahlend auf goldenen Gesimsen, und dem grauen Herbstabend draußen wehrten die hohen farbigen Bogenfenster den Eintritt.
Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab auf die schmutzige Straße.
Am Südende der Friedrichstraße, wo das Licht spärlicher wird, lag der alte Tanzsaal, in dem ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar Höfe, die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenster erhellten, führte der Weg. Sie waren schwarz voll Menschen. Auf den ausgetretenen Stufen der Holztreppe bis zum Saal war ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Ein paar stämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenstößen den Weg. »Die berliner Arbeiter wollen Sie alle sehen, Genossin Brandt,« sagte der eine. Ich senkte den Kopf. Wie ich mich freute! Über den Massen, die den Raum erfüllten, in den wir endlich gelangten, lagerte Tabaksqualm und Menschenschweiß in schweren, dunkeln Nebeln. Das Licht von den verstaubten Kronleuchtern drang nur trübe durch den grauen Dunst. Rußgeschwärzt war die niedrige Decke, von den Wänden bröckelte der Kalk, blinde Spiegelscheiben warfen gespensterhaft verzerrt das Bild der Menschen zurück, die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen zu einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell gemalte Kulissen einen Wald von Palmen darstellen sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf an Kopf. Siedende Hitze stieg von ihr auf, daß der Atem mir sekundenlang stockte.
»So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine Mauer,« sagte Ida Wiemer, die den Vorsitz führte. Der graubärtige Polizeileutnant schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich kann nur einen kurzen Vortrag gestatten,« sagte er, »wenn ich nicht die Versammlung auflösen soll.« »Genossen,« rief Ida Wiemer so laut sie konnte in den Saal, »macht den fremden Kongreßdelegierten Platz, die heute unsere Gäste sind —.« Eine Anzahl Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber die Scharen, die die Türen belagerten, versperrten den Weg. »Das ist lebensgefährlich,« wiederholte der Polizeileutnant und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Fangen Sie an und machen Sie's kurz, — ein anderes Mittel gibt's hier nicht.«
Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach gegen jene landläufigen Vorwürfe, durch die die Gegner der Sozialdemokratie sie tödlich zu treffen glauben: Die Zerstörung der Familie, die Propagierung der freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen Umsturz. Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche Not es ist, die das Familienleben zerstört, wie aus derselben Not die käufliche Liebe wächst, die nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die wir als die einzige Grundlage echten Familienglückes den Menschen erobern wollen; wie es die Kirche ist und der Staat, die die Religion Christi vernichtet haben, wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von denen vorbereiten wird, die mit Flinten und Säbeln drohen, die der wehrhaften Jugend befehlen, auch auf Vater und Mutter zu schießen, die den Ruf hungernder Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein paar Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven beantworten. Ich sah nichts mehr; zwischen mir und den Menschen da unten hingen dichte Schleier. Aber ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit gesteigerten Sinnen ihr Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren Beifall, wenn ich von ihren Kämpfen sprach, ihren hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft gedachte, die unser sein wird.
Ich schwieg erschöpft, — jetzt erst fühlte ich, wie der Kopf mir brannte und der Atem nach Luft rang. Hundert Hände streckten sich mir entgegen, als ich zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdrängte mich. Dank, — Vertrauen, — Liebe las ich in ihren Mienen. Ein paar Frauenrechtlerinnen gingen mit steif erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich lächelte. Wie hatte ich mich nur je über ihre Feindseligkeit grämen können?! Ich kam nur langsam vorwärts. Mit lauter Fragen und Bitten wurde ich aufgehalten: »Nicht wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?« — »In unserem Kreis?« — »In meiner Gewerkschaft?« Und immer wieder sagte ich freudig ja. Die hier glaubten an mich und erwarteten von mir, daß ich ihnen etwas sein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder warm und hell geworden.
Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach Haus. Am Kanalufer raschelten die gelben Blätter uns zu Füßen und tanzten wie goldige Schmetterlinge in der feuchten Herbstluft.
»Warum die Menschen trauern, wenn die Blätter fallen?« sagte ich. »Sie machen doch nur den jungen Trieben Platz!« Mein Liebster küßte mich. »Du, was denken die Leute?!« rief ich lachend und lief ihm davon. »Die Wahrheit!« sagte er, mich einholend, und preßte mir die Hände mit einem starken Griff zusammen. »Daß wir ein Liebespaar sind!«
Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom Leibe, in denen der Dunst des Saales noch hing. Das rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine Augen suchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Auch an diesen Frühling glaubte ich wieder.
Goldener Herbst! Ein königlicher Verschwender bist du. Deiner Geliebten, der Sonne, gibst du in brennenden Farben zurück, was sie an Sommerglut der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu gering, um es mit dem Glanz deiner Liebe zu überschütten. Auf die ödesten Mauern zaubert dein Blick jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem armen Sand märkischen Bodens lockst du der Sonnenblumen tropische Pracht hervor und lehrst sie, ihr Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. Unter deinem Hauch reifen die Früchte, und schwer von Segen neigen sich die Äste vor dir. Von entblätterten Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden über die Wiesen und schüttelt von den alten Eichen die Hoffnung kommender Jahre.
Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüssiges Silber, läßt du in Nächten untergehen, die tief und dunkel sind, ein zukunftschwangeres Geheimnis.
Nicht wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen — schämig errötend und demutsvoll — empfing ich dich. Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, meinen Anteil an deinem Reichtum, Fürst des Jahres. Und, siehe, aus meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine Seele wurde zu deinem Saitenspiel, mein Schoß zum Tempel des Lebens — — —
Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. Er duldete nichts Dunkles. Aus den Kammern vertrieb ich allen Staub der Vergangenheit, aus Kisten und Kasten alles, was moderte. Ich badete meine Augen, daß sie klar und hell wurden und die Welt ihnen in einem Glanz erschien, wie sie ihn nie vorher gesehen hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel zerstreut, so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner Seligkeit. Ich ging der Sonne nach. Auch den verlorensten ihrer Strahlen fing ich auf und barg ihn in der Schatzkammer meiner Seele.
Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind!
Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue Leben unter meinem Herzen hatte von mir Besitz ergriffen. Ich träumte nicht mehr meine engen Träume, die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte nicht mehr meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen nur bis zum Friedhofstor des eigenen Daseins spannte. Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über mein Gesichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung baute, verband die Zeit mit der Ewigkeit.
Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte meinen Körper wie der Gläubige den Schrein, der das Allerheiligste birgt. Und meiner Seele Eingang hüteten goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes traf jeden bösen Gedanken, ihren Speeren entging kein niedriges Gefühl. Denn mein Körper und meine Seele nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes durfte in ihnen sein.
Ich wünschte mir einen Sohn. Einen, der ein Führer und Vorkämpfer werden könnte. Aber die Erfüllung dieses Wunsches schien mir fast zu viel des Glücks. Und so dachte ich auch der Tochter — einer, die ein Vollmensch und darum ein echtes Weib sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed vor meinem Platz auf unserem großen Schreibtisch und neben ihm ein süßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt von Gainsborough. Ich sah von einem zum anderen, und tief in mein Herz prägten sich die holden Kindergesichter. Mein Mann brachte mir täglich frische Blumen für sie. Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt ihrer ein neues Bild mitten auf den Schreibtisch. Es war Meister Dürers furchtloser Ritter, der seelenruhig, im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus gerichtet, an allen Schrecken des Daseins vorüberreitet.
»Laß kommen die Höll, mit mir zu streiten, ich will durch Tod und Teufel reiten —,« ist sein Wahlspruch. »Wenn's ein Bub wird,« sagte der Liebste, »so soll's so einer sein.«
»Du hast recht,« antwortete ich und drückte ihm zärtlich die Hand, »ich habe schon zu viel an das Kind und zu wenig an den Mann gedacht,« dabei wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, die mich umgaben, und zeigte stolz die ersten winzigen Hemdchen, die daraus entstanden waren. Mein Mann hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. »Du nimmst einer armen Näherin das Brot und hast selbst weit Besseres zu tun,« war seine Ansicht gewesen. Aber zum erstenmal hatte ich ihm widersprochen und meinen Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines Kindes Körper berühren sollten, durften keine Kummertränen fallen; Mutterliebe mußte die Nadel führen, Mutterträume sich mit jedem Stich hinein verweben. Nun kam es freilich vor, daß ich im Übereifer stundenlang über der Arbeit saß und vernachlässigte, was ich sonst zu tun hatte. »Das muß anders werden, Heinz,« sagte ich laut und faltete die Leinwand zusammen. »Auch um des Kindes willen darf ich die Welt außerhalb unserer vier Wände nicht vergessen, die doch auch seine Welt sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda Orbin —,« ich reichte ihn meinem Mann hinüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte; »sie beklagt sich, weil ich zu wenig für die ›Freiheit‹ schreibe; hier sind eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, — ich war nahe daran, sie ablehnend zu beantworten —«
»Und hier,« unterbrach er mich, »habe ich Bücher, die deiner Besprechung harren. An den Artikel, den du mir für mein Archiv versprochen hast, will ich schon gar nicht erinnern —«
Ich stand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen Wohlbefindens. »Du wirst ihn bekommen! Ich verstehe nicht recht, warum so viele Frauen jammern, wenn sie guter Hoffnung sind. Ich fühle Kraft für zwei!«
Und mit Feuereifer stürzte ich mich in die Arbeit, die ich nur stundenweise unterbrach, um frische Luft zu schöpfen.
Ich sollte mir täglich Bewegung machen und vermied den nahen Tiergarten, weil ich den Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein Herz würde sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und ich wollte mich jetzt nicht grämen. So fuhren wir denn fast immer in den Grunewald und wanderten um die stillen Seen, die zwischen entlaubten Bäumen und schwarzen Kiefern dem Winter entgegenträumten, oder gingen auf den gepflegten Wegen der jungen Kolonie, all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die Mietskasernen auf dem Kurfürstendamm aus der Erde wuchsen. Sie waren anders als die, die noch vor wenigen Jahren entstanden waren, — heller, freundlicher. Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen Sprüche über den Türen verschwanden mehr und mehr. Die Zeit wurde selbstbewußter und schämte sich der erborgten Formen vergangener Jahrhunderte. Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend Häuser, die aus lauter Originalitätssucht absurd geworden waren. Aber auch das war im Grunde nichts anderes, als der tolle Ausbruch überschäumender Jugendkraft, und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte ich an Goethes Wort: Es ist besser, daß ein junger Mensch auf eigenem Wege irre geht, als daß er auf fremdem recht wandelt.
Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem Häuschen stehen, das aus dem Märchenbuch ins Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach hing schützend über den von rotem Weinlaub dicht umsponnenen Wänden, hinter kleinen blitzenden Fenstern hingen weiße Vorhänge, auf den braunen Holzaltanen blühten noch rote Geranien, und davor auf dem glatten Rasenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den bunten Ball in die helle Herbstluft. »Wenn doch mein Kind wie dieses in Wald und Garten wachsen könnte,« dachte ich. »Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, dir und dem Kinde,« sagte Heinrich im gleichen Augenblick. Ich lachte ein wenig gezwungen. »Wie sollte das möglich sein, wo unsere Mietwohnung für uns schon zu teuer ist!« »Wenn wir Zinsen statt Miete zu zahlen hätten —,« meinte er nachdenklich; »Hall hat in dieser Weise schon mancher Familie die Möglichkeit verschafft, im eigenen Häuschen und im Freien zu wohnen!« Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denselben Gedanken weiter spann.
Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große Gesellschaft junger Radler ein; ihre blanken Räder blitzten, knapp und elegant schmiegten sich die Sportanzüge neuster Mode um die schlanken Gestalten. »Ist das nicht —,« rief ich unwillkürlich, und mein Herz klopfte rascher, aber schon wandte das reizende Mädchen, das dicht an mir vorbei geflogen kam, dunkelerrötend den Kopf zur Seite. »Ilse, — kein Zweifel,« antwortete Heinrich. »Und sie grüßt mich nicht einmal!« Tränen verdunkelten mir den Blick. »Wollen wir umkehren?« frug mein Begleiter sanft und zog meinen Arm fest durch den seinen. »Nein,« entgegnete ich und versuchte zu lächeln; »sie kann ja nichts dafür, die Kleine! Sie darf mich nicht kennen.«
Unten vor dem Wirtshaus standen die Räder. Wir wollten gerade links einbiegen, den Weg nach Paulsborn, der für uns so reich war an Erinnerungen, als Ilse, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich stürmisch.
»Sei nicht böse, Schwester,« rief sie atemlos und zog mich tiefer in den Wald hinein. »Sie würden mich zu Hause verraten, wenn ich dich gegrüßt hätte.« Zärtlich streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und drückte ihr kleines Händchen, das immer noch so weich und zart war, so unfähig zuzupacken und festzuhalten.
»Die Eltern wollen nichts von mir wissen?« fragte ich zaghaft.
»Wir reden viel von dir, Mama und ich,« antwortete sie, »aber vor Papa dürfen wir deinen Namen nicht nennen. Trotzdem weiß ich, daß er sich bangt nach dir,« fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich erschüttert war. »Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab; wenn wir über den Lützowplatz fahren, läßt er deine Fenster nicht aus den Augen.«
»Und Mama, sagst du, spricht von mir?!«
»Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber jetzt ist sie ruhig. Es quält sie nur, glaube ich, daß sie nicht weiß, ob — ob —,« sie errötete, ein forschender Blick glitt über meine Gestalt.
Heiß strömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches Glück überkam mich, und alles Erinnerungsweh verschwand vor ihm. »Grüße Mama,« sagte ich weich, »und sage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.« Ihre Hand löste sich aus der meinen, ein Schatten schien über ihre Züge zu huschen, etwas Fremdes stand auf einmal unsichtbar zwischen uns. »Ich muß fort, — sie suchen mich sonst, — lebwohl — —!« und schon war sie wieder jenseits der Straße.
»Verstehst du das?« fragte ich meinen Mann, der die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn neben uns gestanden hatte, und sah ihr kopfschüttelnd nach. »Nein,« sagte er, »sie scheint mir aus Widersprüchen zusammengesetzt, deine Schwester.«
Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenseitig bei einem verstohlenen, sehnsüchtigen Blick nach dem weinumsponnenen Häuschen mit dem tiefen Dach darüber. Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben hinter den zugezogenen weißen Vorhängen schlummern mochte? Und ich träumte, während wir heimwärts fuhren, offenen Auges einen gar süßen Traum.
Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei den Knaben saß, um ihre Arbeiten zu beaufsichtigen, fühlte ich stärker als sonst, wie wenig ich sie eigentlich kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht vor, daß ich sie dort allein ließ; ich wußte nicht, was sie hörten und sahen, welchen Einflüssen sie inmitten der verdorbenen Großstadtjugend unterliegen mochten. Und doch, nicht möglich wäre es gewesen, so große Jungen auf Schritt und Tritt unter Aufsicht zu halten.
Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, sie klagten sich häufig gegenseitig bei mir an, — das einzige Mittel, wodurch ich etwas von ihnen zu erfahren bekam. Hätte ich doch ihr volles Vertrauen besessen! Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für sie stand ich nicht einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte noch. Je erfolgloser mein Bemühen gewesen war, ihnen näher zu kommen, desto unbegreiflicher war es mir, daß die Mutter sich hatte von ihnen trennen können. Ein Kind bedarf der Mutter, die es besser versteht, als es sich selbst verstehen kann. Tiefes Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber ein noch tieferes fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal mußte sie getroffen haben, daß sich ihr Herz so hatte verhärten können? Heinrich sprach nicht gern von ihr; und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens in bezug auf die Erziehung der Kinder im Einvernehmen mit ihr zu handeln, hatte er schroff und ärgerlich als einen ganz törichten und zwecklosen zurückgewiesen. Ich hatte ihn trotzdem ausgeführt — heimlich, um ihn nicht zu ärgern. Da wir aber im Überschwang unseres jungen Eheglücks einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig zu öffnen, so las er ihre Antwort: ein paar kühle hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin gegenüber der Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich böse geworden, und — was mir am tiefsten in die Seele schnitt — traurig dazu. »Ich kann alles vertragen,« hatte er gesagt, »nur eins nicht: daß du unehrlich bist mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können, sonst ist unsere Ehe keine mehr.« Seitdem hatte ich die kaum begonnene Korrespondenz wieder abgebrochen, und die Brücke zum Herzen der Kinder, auf die ich gehofft hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich sie würde gewinnen können.
»Erzähl uns was,« bettelte Wolfgang wie immer, wenn er aufatmend die Schulbücher zuschlug. »Gleich!« antwortete ich lächelnd, und ging hinaus, um mit dem Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen.
»Was meint ihr wohl, was das ist?« fragte ich und hielt ein kleines Hemdchen hoch, sodaß das Licht der Lampe rosig hindurchschimmerte. Sie rissen erstaunt die Augen auf. »Eurem Brüderchen oder eurem Schwesterchen gehört es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln gesehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde sie aufnimmt, und weich und warm einhüllt, damit der Winter ihnen nichts Böses tun kann, so wachsen im Frühling junge Bäumchen daraus ... Und ein Vogelei kennt ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin, wie eine weißliche Flüssigkeit. Wenn's aber eingebettet im Nestchen liegt, und die Henne es mit ihrem Leib bedeckt, dann entwickelt sich zuerst die gelbe Dotter und aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er groß genug ist, zerbricht er das Ei und ist da! Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß wir uns des großen Wunders gar nicht mehr bewußt werden, — eines Wunders, das viel unfaßlicher ist, als wenn der Storch die kleinen Kinder brächte, wie man es früher zu erzählen pflegte.« Ich machte eine Pause; meine Zuhörer rührten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut aufzusehen. Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich begegnen würde. »Euch ist vielleicht auch einmal das Märchen vom Storch zu Ohren gekommen,« fuhr ich leiser fort, »es ist dumm und albern! Die Wahrheit ist tausendmal schöner: wie die Eichel im Schoß der Erde, ruht der Menschensamen im Mutterleib, und wie das Vögelchen sich entwickelt, so entwickelt sich das Kind, nur daß die Menschenmutter das Ei unter dem Herzen trägt, bis es zerspringt und das junge Leben geboren wird.« Ich schwieg wieder; es war so still, daß ich hätte meinen können, ich wäre allein im Zimmer. »Weil ich euch lieb habe, euch beide —,« flüsterte ich und senkte den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände hielten, — »darum mag ich euch nicht belügen, darum will ich euch anvertrauen, was mein glückseliges Geheimnis ist: ich werde auch ein Kind bekommen!«
Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel hören, wenn sie den Stoff durchstach. Endlich sah ich empor. Die Köpfe gesenkt, mit dunkelroten Wangen saßen die Knaben vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus Wolfgangs hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren es verhaltene Tränen, oder war es am Ende gar — Spott? Hans rutschte vom Stuhl auf die Erde und machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine zu schaffen. Ich wußte nur zu gut, wie verdorbene Kinder das Geheimnis des Lebens ihren Schulkameraden zu erklären pflegen: mit lüsternen Augenzwinkern, mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es so erfahren?! Mir stieg die Schamröte bis unter die Haarwurzeln. Oder hatten sie, während ich sprach, ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden, daß ich sie nicht so würde lieben können wie mein eigenes Kind? Ich seufzte tief auf. So war auch das vergebens gewesen; statt eine Schranke einzureißen, hatte ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun an mit doppelter Zärtlichkeit; ich suchte ihre Wünsche zu erfüllen, noch ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu überwand ich nicht.
Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir vorging. Er hätte mich mißverstehen, hätte glauben können, daß ich seine Bitte, die Kinder lieb zu haben, nicht zu erfüllen vermöchte, — dachte ich. Auch war er den Kindern gegenüber oft so reizbar, daß ich Mühe hatte, ihn zu besänftigen. Das Verlangen, mit mir allein zu sein, äußerte er zuweilen in einer, wie mir schien, für die unschuldigen Buben empfindlichen Weise. Ich lenkte ein, — ich deckte zu, — ich versteckte mein eigenes Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte wie das seine. Wie viele warme Worte und heiße Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie ein holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe schmücken, wagten sich vor den fremden Augen der Kinder nicht ans Tageslicht. Auch über das Glück meiner Mutterhoffnung mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen.
Wir lebten damals ganz still. Von geselligem Verkehr war selten die Rede. Wir scheuten noch immer unliebsame Begegnungen, und unsere Zurückhaltung, die mir als Hochmut ausgelegt wurde, steigerte nur unsere Isoliertheit. Es kam vor, daß wir im Theater zwischen lauter alten Bekannten saßen und uns doch wie auf einsamer Insel mitten im Meer befanden. Man musterte uns neugierig, man tuschelte über uns, man grüßte bestenfalls, und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um den Menschenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht merken zu lassen.
Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines Mannes Zeitschrift: Nationalökonomen, Juristen und Politiker aus aller Herren Länder, die er mit dem ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu bringen gewußt hatte, und die, — mochten sie sonst in ihren Ansichten noch so weit auseinander gehen, — unter seiner Führung gemeinsam am selben Strange zogen.
»Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!« sagte mir einmal einer von ihnen, nachdem er sich nach langer Debatte doch wieder unterworfen hatte, halb ärgerlich, halb bewundernd. »Meist erdrücken die Autoren den Redakteur, er nimmt dankbar, was ›bewährte Mitarbeiter‹ ihm bringen und ist eigentlich nur ihr Geschäftsführer. Ihr Mann aber zwingt uns in seinen Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er will, so müssen wir alles andere stehen und liegen lassen, uns hinsetzen, die Feder ergreifen und den gewünschten Aufsatz schreiben.«
Ich freute mich jedesmal dieser Gäste; denn mochten sie von Rußland oder Frankreich, von England oder Italien kommen, — eins war ihnen gemeinsam: Tatkraft und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte sich einer über diese innere Einheit, wenn er sagte: »Wir sind Leute mit der Devise ›Ja, also!‹, im Gegensatz zu der älteren Generation der kathedersozialistischen Nationalökonomen, die die Männer des ›Ja, aber!‹ gewesen sind.« Sie zogen die Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis und traten rückhaltlos auf Seite der Arbeiter in Fragen des Arbeiterschutzes. In ihnen sah ich starke Verbündete der Sozialdemokratie, und es schien mir kein Zweifel, daß die Logik der inneren Entwicklung und der äußeren Geschehnisse sie schließlich zu ihren offenen Parteigängern würde machen müssen.
Aber noch eine andere Tatsache unterstützte meinen Glauben an den Fortschritt sozialer Erkenntnis: die Gründung der nationalsozialen Partei.
Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und getauft worden; sie hatte im Rausch der Festesfreude freilich den Mund sehr vollgenommen, wie das nun einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt: »Wir stehen als Erben vor der Türe der Sozialdemokratie,« hatte Göhre erklärt. »Wir stellen uns an die Spitze der Arbeiterbewegung, denn die Zeit der Sozialdemokratie ist um,« hatte Sohm ihm sekundiert. Aber solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse mit einem übertriebenen Pathos rügte, statt über sie zu lächeln, wogen leicht gegenüber dem Handeln dieser Männer und Frauen: sie anerkannten die Gegenwartsforderungen der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei aller Betonung nationaler Gesinnung, in bewußtem Gegensatz zur Regierung, die die sozialen Pastoren maßregeln ließ, — zum Kaiser, der ihre Bestrebungen für sträflichen Unsinn erklärte.
Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts und links wie Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik in Hamburg. Hatte wenige Jahre vorher die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die gräßlichen Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet, so zeigte sich jetzt, daß selbst ihr Schrecken nicht imstande gewesen war, die Brutstätten des Todes aus der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig Prozent ihrer Bewohner dicht zusammengedrängt in winzigen Räumen und engen Gassen, — zu fünft in einem Zimmer, zu neun in zweien! Und zu diesen gehörten vor allem die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit, die sie oft Tag und Nacht nicht los ließ, nicht genug verdienten, um sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskräfte sammeln zu können. Der Eindruck der Tatsachen, die der Streik enthüllte, war ein ungeheurer, und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten und einen Kampf um ein paar Groschen mehr Lohn zu einem Kampf um ihre Macht erweiterten, empörte jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks nahm die Öffentlichkeit Partei für die Arbeiter, geführt von den jungen sozialpolitischen Professoren und der nationalsozialen Partei. Das waren, so schien mir, Symptome für das Erwachen eines Geistes, der nicht mehr zu bannen sein würde. Und die Haltung der Gegner bekräftigte meine Auffassung: Kleine Nadelstiche, wie die Ausweisungen englischer Arbeiterführer, die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen waren, — schroffe Erklärungen der Reichsregierung gegen die Streikenden, — von ihr unwidersprochene Aussprüche, wie die des alten Reaktionärs Kardorff im Reichstag: »Ich freue mich, daß man von den bedenklichen Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen ist,« — Wünsche eines Stumm und seiner Gesinnungsgenossen, die zur Bekämpfung staatsgefährlicher Umtriebe eine Änderung der Vereinsgesetze forderten, — waren das alles nicht Zeichen der Angst und der Schwäche? Und war nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen sozialpolitischen Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewußtes Eingeständnis schwindenden Einflusses? Erfüllt von seinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der Vorstellung, die Tradition und Erziehung den Fürsten unauslöschlich einprägt: daß das Volk ihnen gegenüber im Verhältnis des Kindes zum Vater steht, hatte er ein sozialer Kaiser sein wollen, indem er der Arbeiterschaft als Geschenk brachte, was ihm gut schien für sie. Als sie es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt Gnaden zu erbitten, sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, — da wurde der in seiner Autorität verletzte Fürst zum zürnenden, strafenden Vater. Und derselbe Kaiser, der 1890 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte die Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter.
Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor Tondern, der ein stiller Gelehrter irgendwo an einer Provinzuniversität geworden war, und den ich für unsere Sache fast schon aufgegeben hatte. Er war zur Zeit des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann hatte ihn für das Archiv zu einer Arbeit darüber aufgefordert. Statt aller Antwort kam er selbst, ganz erfüllt von dem Erlebten.
»Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf unsere Bildung, unsere alte Kultur ein,« sagte er, »und müssen angesichts solcher Kämpfe beschämt eingestehen, daß wir mit all dem lumpigen Rüstzeug ihren Forderungen gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, während die in Elend und Unwissenheit Aufgewachsenen sich wie Helden bewähren. Sie hätten nur sehen sollen, wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum steinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur Seite standen. Da steckt ungebrochene Jugendkraft —« Er brach seufzend ab.
»Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser bürgerlicher Kreise nicht auch dafür?« fragte ich.
Er schüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewordenen roten Haarsträhnen flogen. »Immer noch die alte Optimistin!« murmelte er. »Zu einem guten Teil haben Sie freilich recht —« fügte er dann laut hinzu. »Der Streik hat die Verschlafenen aufgerüttelt, hat die sozialpolitischen Probleme wieder in den Fluß der Diskussion gebracht, hat die brennende Feindschaft, die der Generalstab des Kapitals, das heißt das Kapital in seiner bedrohten politischen Machtsphäre gegen die freie Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, — und das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen Geist nur heilsam sein.«
»Diese Feindschaft muß aber auch mehr und mehr zu uns herübertreiben,« entgegnete ich.
»Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich unserer Haltung nach der frankfurter Tagung der Ethischen Gesellschaft? — Seitdem hat sich für uns nichts verändert. Wir sind sogar nur noch fester an die Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen Gesellschaft geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen größer und anspruchsvoller wurden. Eine Ausnahme, wie Sie, bestätigt nur die Regel. Marx hat keine größere Wahrheit ausgesprochen als die, daß die gesellschaftliche Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann.«
Er stand auf. »Ich muß eilen, — meine Frau wartet auf mich,« sagte er hastig, und strich sich gleich darauf mit einer verlegen ungeschickten Bewegung den roten Bart. Ich verstand. Es war gewissermaßen nur ein Geschäftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde ich nicht verwöhnt! Er schüttelte meinem Mann die Hand: »Sie bekommen den Aufsatz in spätestens vierzehn Tagen.« Dann wandte er sich abschiednehmend zu mir: »Sie dürfen mir auch die Hand geben. Meine Stellung zu Alix Brandt ist genau dieselbe geblieben wie zu Alix von Glyzcinski.«
Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich sah ihm mit gespannter Erwartung entgegen, denn ihm war ein Buch vorausgegangen, das ihn wie ein Herold mit Fanfarenstößen angekündigt hatte. Ein schmaler roter Band war es nur, aber das Wort »Sozialismus« prangte in goldenen Lettern darauf, und sein Inhalt war nichts anderes als eine Verteidigung der Lehren von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten ordentlichen preußischen Universitätsprofessors hatte sich der Verfasser wohl auf immer verscherzt, aber eine Zuhörerschaft hatte er sich erobert, aus der für die Sache des Sozialismus eine große Gefolgschaft werden mußte.
Mein Mann lächelte über meinen Enthusiasmus, er spielte sogar ein wenig den Eifersüchtigen, als ich zum Empfang dieses Gastes ganz besondere Vorkehrungen traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schmückte und eine Flasche Wein besorgen ließ, — zum erstenmal seit unserer Hochzeitsfeier.
Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung, die ich als Kind besonders häufig gehabt hatte: daß mir derselbe Mann in derselben Situation schon einmal begegnet war; selbst die gleichgültige Begrüßungsphrase und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt, ehe er sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich verwirrt und überließ Heinrich die Unterhaltung, dann musterte ich den Gast, und dabei verwischte sich das Gefühl langen Bekanntseins wieder, ähnlich wie ein Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir über ihn nachdenken. Diesen großen, tiefbrünetten Mann mit den lebhaften braunen Augen und der hochgewölbten Stirn hatte ich gewiß noch nie gesehen. War es Sympathie, die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete dicke Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit zeugten, die großen Hände mit den breiten Fingerkuppen und den abgebrochenen Nägeln widersprachen der vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese Mischung von Roheit und alter Kultur prädestinierte ihn vielleicht gerade für die Rolle eines Führers der öffentlichen Meinung, die er, unserer Ansicht nach, zu spielen bestimmt war.
In einer Rede, die von Geist und Wissen sprühte, setzte er meinem Mann die Ideen auseinander, die er in einer Abhandlung für das Archiv zusammenfassen wollte. »Wir müssen der Sozialpolitik die Krücken nehmen, die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings Rassenhygieniker ihr glaubten geben zu müssen, um sie dem von ihnen willkürlich gesteckten Ziele entgegenhumpeln zu lassen. Sie kann und muß auf eigenen Füßen gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die Autonomie des sozialpolitischen Ideals, das nicht nur nicht ethisch, nicht religiös, nicht rassenhygienisch, sondern diesen Idealen direkt entgegengesetzt sein kann.«
»Das sei Ihnen in bezug auf das religiöse Ideal zugegeben,« warf mein Mann ein, »aber das ethische, das rassenhygienische?! Die ›Befreiung des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet‹, ist doch wohl ein ethisches Postulat!«
Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: »Bleiben Sie mir mit der Zukunftsmusik des Erfurter Programms vom Leibe! Sie könnten ebenso gut die ›Versöhnung der Klassengegensätze‹, die die Ethiker unter den Nationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe zuschieben, predigen. Nein: wir stehen im Klassenkampf, wir müssen in diesem Kampf Partei ergreifen, und zwar nicht für die Schwachen nach christlicher Auffassung, sondern für das höchst entwickelte Wirtschaftssystem, für die den wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierende Klasse, das heißt auf Kosten der anderen.«
»Mit anderen Worten: für das Proletariat?« fragte ich. Er wandte sich mir zu.
»Gewiß: für das Proletariat, soweit seine Ideale sich mit dem Ideal der Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen Vollkommenheit, und,« — er betonte scharf den letzten Satz, — »soweit sie sich dauernd mit ihm decken werden. Denn es ist einerseits in dauerndem Fluß begriffen und ist andererseits kein absoluter Endzweck, sondern nur ein Mittel zur Verwirklichung höherer Zwecke. Das wirtschaftliche Leben ist die Schranke, in der unser ganzes Dasein, auch in seinen höchsten Äußerungen, eingeschlossen ist. Wir müssen sie erweitern, so rasch als möglich, ohne Rücksicht auf die Bedenken empfindsamer Seelen, um zu Licht und Luft zu gelangen.«
»Und mit diesen Ansichten können Sie es verantworten, außerhalb unserer Partei zu stehen!« rief ich aus. Er schien erstaunt.
»Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch, daß ich es verantworten kann!« meinte er langsam. »Oder glauben Sie, ich würde mehr erreichen, wenn ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen mich getraute, dem Votum Ihres Parteitages unterwerfe?!«
»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete ich. »Wie reimt sich Ihre Abneigung gegen die Partei mit diesem Buch zusammen,« — ich hielt ihm den roten Band entgegen, — »mit Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit der Bewegung?«
»Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten: Ist die Zugehörigkeit zur Bewegung abhängig von der namentlichen Einschreibung in einen Wahlverein? Ist es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, als was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die Partei kann für unsereinen nur individuell gelöst werden. Ich zum Beispiel würde in dem Augenblick flügellahm werden, wo ich in der Gesellschaft aushalten müßte.«
»Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment, wo Sie sich durchsetzen, wo Sie Einfluß gewinnen würden, hätten Sie die Kraft Ihrer Flügel in doppeltem Maße wieder —,« mischte sich mein Mann ins Gespräch.
»Sie überschätzen mich, lieber Freund. Über gewisse Dinge komme ich nicht hinweg. Sie wissen, mein ›Sozialismus‹ hat einen ungeahnten Erfolg; ich brauche mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig nicht gekränkt zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir — mir, der ich den Sozialismus verteidige! — von einem Teil Ihrer Presse zuteil geworden ist, hat mir die ganze Gesellschaft auf lange verekelt!«
Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn wenige Minuten vorher erfüllt hatte, und der morosen Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und Haltung sprach, war so verblüffend, daß wir verstummten. Aber Romberg forderte uns zur Antwort heraus:
»Sie mißbilligen meinen Standpunkt?« Fragend sah er von einem zum anderen.
»Ganz und gar!« antwortete ich heftig. »Glauben Sie, daß wir um der schönen Augen der Parteigenossen willen Sozialdemokraten geworden sind, — oder der Partei entrüstet den Rücken kehren würden, weil ein paar Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, nicht den Personen.«
»Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und den Personen läßt sich in Wirklichkeit nicht durchführen,« sagte er, sichtlich verletzt. »Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß eine Sache durch eine bestimmte Personengruppierung rettungslos verloren geht, und ich bin der Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, die Ihre Sache diskreditieren.«
»Wenn Sie dieser Ansicht sind, müßten Sie erst recht in die Partei eintreten, um die Sache, die doch auch die Ihre ist, vor solchen Einflüssen zu retten!«
Er biß sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang. Dann ließ er sich, wie ermüdet, in den Lehnstuhl fallen und sagte langsam: »Sie mögen recht haben, — auf Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zugrunde gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre Partei groß gefuttert hat, auf gleich und gleich verkehren müßte. Übrigens,« er lächelte ein wenig, »Sie sind ja erst seit vorgestern ›Genossin‹, — wir wollen unser Gespräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und Sie, mein lieber Brandt, sind doch auch nur im Nebenberuf ›Genosse‹. Wenn Sie Ihrer Frau beistimmen, warum treten Sie nicht in die politische Arena?«
Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, ehe er antwortete. »Ich habe nicht Ihre Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Ansicht nach, eine wichtige Voraussetzung ist, wenn man in der Partei Wertvolles leisten will. Das Archiv ist mein Brotgeber. Es könnte seine wertvollsten Mitarbeiter verlieren, wenn sein Redakteur politisch hervorträte. Sonst, — lieber heute als morgen würde ich ein tätiger Parteigenosse sein!«
Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen hören; eine tiefe Unbefriedigung enthüllte sich mir, eine Seite seines Wesens, die sich selbst dem durchdringenden Blick meiner Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte den Gedanken daran nicht los werden und vergaß fast unseres Besuchers darüber.
Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches Gefühl überkam mich: die seine lag, so groß sie war, schwach und leblos in der meinen. Menschen ohne Händedruck waren mir immer unsympathisch gewesen. Und doch zog dieser Mann mich an.
»Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin ein wenig genießen?« fragte er. »Wir armen Provinzler müssen uns mit Großstadtluft auf Monate versorgen, wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.« Wir verabredeten allerlei, und er ging.
»Nun?!« fragte Heinrich, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte.
»Ein interessanter Mensch, ob ein Kämpfer?!« antwortete ich nachdenklich. »Aber was interessiert mich dies Problem, wo mein eigner Mann mir eins aufgegeben hat!«
Er zuckte lachend die Achseln: »Kümmere dich nicht darum, Schatz, es ist doch zunächst unlösbar.« »Du würdest wirklich gern politisch tätig sein?« drängte ich unbeirrt. »Wäre es dir willkommen?« fragte er statt der Antwort. Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich sah den Geliebten an der Stelle, die ich Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter an Schulter im Kampfe stehen. »O wie schön wäre das!« flüsterte ich.
Die nächsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch. Er war von einer fast kindlichen Genußfähigkeit, dabei voller Interesse für Kunst und Literatur, in allem das Gegenspiel des typischen deutschen Professors.
Berlin war damals reich an neuem Leben für den, der es zu finden verstand. Denn die Oberfläche trug noch immer das Stigma geschmackloser Alltäglichkeit. Mein Instinkt war doppelt wach; meine Sinne schienen geschärft für alles Werden, und meine Hoffnung umschlang mit üppigen Ranken jede neue Erscheinung.
Wir sahen Gerhart Hauptmanns »Versunkene Glocke«, die zum erstenmal zur Aufführung kam. Alles stritt um des schönen Märchens eigentlichen Inhalt und riß ihm im Streit grausam die Schmetterlingsflügel aus. Den einen erschien es als das tragische Bekenntnis eigener Schwäche: denn die im Tal gegossene, für die Höhe bestimmte Glocke Meister Heinrichs stürzte vom Berge hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um droben ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn nach sich ins Grab. Den anderen war es nichts als ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter der ›Weber‹ floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin das immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das den Glockengießer emporzog, auch als er an seiner Schwäche sterben mußte, ich sah die Sonnenpilger, die den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle aus den toten Händen nahmen.
Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester ist, die aus unserer nüchternen, auf praktisch-greifbare Ziele gerichteten Zeit hinwegverlangt in reichere, blühendere Gefilde, wo die arme gehetzte Seele nicht mehr zu dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen noch unbekannten Künstlerschaft die Hand zu führen. Wir sahen Gläser, deren zart schimmernde Blumenkelche in Märchenfarben strahlten, und Teppiche, auf denen die ganze Fülle des Frühlings ausgestreut erschien. Wir kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder enthielt, deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. Staunend stand ich vor dem schönsten, das sie bot: einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den Gestalten Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Gebärde steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die Farben waren eine Hymne des Lebens: das Rot jauchzte, das Blau verging in zärtlichen Melodien, wie ein mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen.
Achselzuckend ging die Masse an alledem vorüber. Auch die beiden Männer, die mich begleiteten, waren mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur eine, die schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit zu schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein, was der Menschenknospe in meinem Schoß zur Nahrung dienen konnte.
»Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin werden konnten,« sagte Romberg beim Abschied, »mit Ihrem starken Kulturbedürfnis, ihrem Schönheitsdurst!«
»Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu werden,« antwortete ich. »Auch den Seelenhunger der Massen nach höheren Lebenswerten möchte ich stillen helfen.«
»Sie haben kaum einen —,« meinte er wegwerfend.
»Dann ist meine Aufgabe doppelt groß: ich muß sie hungrig machen — —«
Mein Zustand hinderte mich zunächst nicht an der Parteitätigkeit. Ich hielt Versammlungen ab, solang es ging, obwohl die schlechte Luft sich mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte die Sitzungen der Frauenorganisation regelmäßig trotz der ekelerregenden Düfte der Lokale, in denen sie stattfanden. Wenn die Polizei, die uns ständig auf den Fersen war, gewußt hätte, wie wenig welterschütternd die Fragen waren, über die wir debattierten, sie würde uns ruhig unserem Schicksal überlassen haben. Seitdem Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien zwar auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund geöffnet zu sein, aber was sie vorbrachten, das drehte sich meist um die kleinlichsten Dinge. Derselbe Zank, derselbe Neid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt hatte, fand sich auch hier, nur daß er sich in gröberen Formen äußerte. Ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn ich nicht allmählich Einblicke gewonnen hätte, die mir die Dinge in anderem Licht erscheinen ließen.
Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war eine, die tagaus, tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt ging, um, wenn sie todmüde heimkam, von dem betrunkenen Mann mit Schlägen oder zudringlichen Zärtlichkeiten empfangen zu werden; — sollte sie nicht verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie einen braven Gatten hatte, auf ihre alten Tage in die Fabrik zurückgekehrt war, weil sie nur auf diese Weise ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums ermöglichen konnte; — sollte sie die glücklicheren Mütter nicht beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so schwer erkaufen mußten? Und ein verblühtes Mädchen war zwischen uns, die ihrer gelähmten Mutter ihre ganze Jugend hatte opfern müssen, — war's nicht begreiflich, daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn ich sprach?
Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie war vor drei Tagen ihres siebenten Kindes genesen, und ich fand sie schon wieder hinter dem Waschfaß. War es erstaunlich, daß sie reizbar war? All diese Frauen standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkwürdiger, daß sie sich dabei die Kraft, den Opfermut, die Begeisterungsfähigkeit erhalten hatten, die es ihnen möglich machte, ihre spärliche Freizeit, ihre ihnen so bitter nötige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen? Sie leisteten das äußerste, was sie leisten konnten; es war nicht ihre Schuld, daß es trotzdem so wenig war.
Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. Mein alter Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit tauchte wieder auf. Wenn man mit Hilfe der Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten der Frauen dabei beschäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit dadurch befreien könnte? Frau Wengs war nach dem Parteitag zur »Vertrauensperson für ganz Deutschland« gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die Frauenbewegung, daß sie, die kaum Zeit hatte, eine Zeitung zu lesen, für die das Schreiben eines Briefes eine fast unüberwindliche Aufgabe war, an ihrer Spitze stehen sollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda Orbin habe ihre Wahl unterstützt, um die Leitung um so sicherer in der eigenen Hand zu behalten, Wanda Orbin, die uns so fern war, deren unzureichende Kenntnis der Verhältnisse schon daraus hervorging, daß sie ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen Grad von Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn sie in Berlin wäre, wenn sie offiziell die Führung in die Hände bekäme, wenn die Gestaltung der ›Freiheit‹ dem Einfluß der Genossinnen zugänglich gemacht werden könnte! Schon damit, so schien mir, wäre viel geholfen. Ich schrieb ihr in diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie kommen würde, wenn man die Anstellung einer weiblichen Parteisekretärin durchgesetzt hätte. Sie antwortete ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch nicht verloren. Ich legte meinen Plan der Schaffung eines Sekretariats für die Frauenbewegung den Genossinnen vor, ich entwickelte ihn in einem längeren Artikel in der ›Freiheit‹ und hütete mich zunächst, Wanda Orbins Namen zu nennen, da ich wußte, daß auch sie Gegnerinnen hatte. Die Wirkung war verblüffend: die Frauen gerieten in eine Aufregung, die in keinem Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Man fand es ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber auch rein gar nichts geleistet hätte, mir herausgenommen habe, an der Arbeiterinnenbewegung Kritik zu üben; man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, als bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der Abstimmung erhob sich keine Hand für ihn. Ich erfuhr erst allmählich die wahre Ursache dieser wütenden Gegnerschaft: die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich selbst eine einträgliche Stellung schaffen wolle. Und Wanda Orbin hatte sie offenbar in diesem Glauben gelassen. Es gab Momente, in denen diese Erfahrung mir wehe tat, — trotz aller Mühe, überall nur das Gute zu sehen. Und die Entrüstung meines Mannes, der jeden Nadelstich, der mich traf, wie einen Dolchstoß empfand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen.
Aber die öffentlichen Ereignisse sorgten dafür, Gedanken und Interessen auf wichtigere Dinge zu lenken, und die Verstimmung zwischen mir und den Genossinnen in einmütige Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache von außen bedrohten, zu verwandeln.
Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, vom Geiste Stumms beherrscht, schon kriegerisch genug geklungen, so kündigten die kaiserlichen Worte auf dem brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis aufs Messer an: »Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet ist, die wir verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf gegen den Umsturz mit allen Mitteln... Ich werde mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes Hand in der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,« hieß es darin, und zum Schluß: »Wir werden nicht nachlassen, um unser Land von dieser Pest zu befreien, die nicht nur unser Volk durchseucht, sondern auch das Heiligste, was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu erschüttern trachtet.«
Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere Saaten bedrohte; dem Blitz, der die Situation grell beleuchtet hatte, folgte der Donner und der prasselnde Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die dem reaktionären preußischen Landtag zur Entscheidung vorlag und nichts anderes bedeutete, als eine Knebelung des Koalitionsrechts, eine Auslieferung unserer Organisationen an die Willkür der Polizei. Da war niemand unter uns, dem nicht das Herz stürmisch geschlagen hätte, — vor Empörung über das drohende Unrecht, vor Freude über den aufgezwungenen Kampf. Es gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte sich zur Arbeit und übernahm auch die geringfügigste mit dem Pflichtbewußtsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht. Ich konnte der vorgeschrittenen Schwangerschaft wegen nur mit der Feder tätig sein, und Zorn und Begeisterung führte sie. Ich sah eine Zeit nahe bevorstehen, wo die besten Elemente des Bürgertums, wo vor allem die Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl gestellt zwischen der Reaktion und dem Proletariat, sich auf die Seite der Arbeiter stellen müßten.
»Du prophezeist trotz einem Bebel,« lachte mein Mann, wenn ich mich fortreißen ließ, alles zu sagen, was ich erträumte, und dann erinnerte er mich an jene anderen Kaiserreden, die den Dreizack des Meergottes für die deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben Männer fanden, auf die ich rechnete. Aber ich hörte nicht darauf, ich wollte nicht hören.
Die Fähigkeit, Dunkles zu sehen, war meinem inneren Auge mehr und mehr abhanden gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte: überall war es hell, überall strahlte die Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen in den Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen begann, da schien mir's, als wäre dies der erste Lenz, den ich erlebte. Ich saß in der Sonne auf dem Balkon und sah staunend, wie aus den braunen saftig glänzenden Knospen auf den Kastanienbäumen kleine zartgrüne Blätter leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des Geliebten durch den Tiergarten, den ein starker würziger Erdgeruch erfüllte, und stand vor dem Wunder still, das in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem Rasenteppich emporwuchs. Und die Sonne schien so mild und warm, — wenn sie meine Wange traf, war mir, als streichle sie mich. In der Nacht lag ich oft stundenlang wach; ich war nicht müde. Regte sich dann in meinem Schoß das junge Leben, so strömte es mir durch die Glieder wie Feuer.
Frühzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft, wenn niemand es merkte, schloß ich mich ein in dem hellen Zimmer, wo alles seiner wartete, und kniete vor dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen Wangen in seinen kühlen Kissen.
Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimwärts ging, an der Bucht vorbei, wo die Weiden ihre grünen Schleier tief bis zum Wasser hinuntergleiten lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen. Ich hörte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn die Abendsonne, die im Westen verglühte, blendete mich. Aber ich wußte: das war mein Vater. Meine Knie zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in Gedanken verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich wandte den Kopf nach ihm, — da stand er wie angewurzelt und starrte mich an, so voll Zärtlichkeit —! Ich wäre ihm fast zu Füßen gestürzt, aber er machte eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter. An dem Abend weinte ich. Und ich hatte doch mein Kind vor allem Kummer schützen wollen!
Wenige Tage später waren wir wieder zur gewöhnlichen Zeit fort gewesen. Mit geheimnisvollem Lächeln öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich heimkam. Ins Kinderzimmer sollt' ich kommen, sagte sie. Da brannte die Lampe unter dem Rosenschleier und auf dem weißen Tisch lagen lauter spitzenbesetzte Hemdchen und Jäckchen, und kleine Schuhe und Steckkissen, und lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die sie zusammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen gezogen. »Das gnädige Fräulein brachte alles selbst,« berichtete lächelnd das Mädchen und übergab mir einen Brief von Mama:
»Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein Vater. Er hat mir und Deiner Schwester erlaubt, zu Dir zu gehen, und Dir seine Grüße zu bringen. Schreibe mir, wann wir Dich besuchen können,« schrieb sie. Bald darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine böse Nacht gehabt und empfing sie auf dem Diwan liegend. Sie aber war so ruhig, so teilnahmsvoll, als läge höchstens eine Reise zwischen ihrem ersten Besuch und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das Geplauder Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren ersten Ballfreuden und ihren Triumphen nicht genug erzählen konnte.
»Wie geht es dem Vater?« fragte ich schließlich zaghaft, da sie zu vermeiden schienen, seiner Erwähnung zu tun. »Er ist recht alt geworden,« antwortete Mama langsam. »Aber noch so rüstig,« fiel die Schwester ein, und berichtete zum Beweis dafür von den Diners und den Bällen, zu denen er sie begleitet hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht kannte, und erwähnte Gesellschaftskreise, die er früher auf das peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen, wie er zu sagen pflegte, der jüngere Offizier nur als Mitgiftjäger, der alte nur als Tafeldekoration auftritt. Ich fühlte jetzt: er mußte sehr alt geworden sein.
Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft zu mir zu kommen. Sie sah, statt zu antworten, ängstlich fragend auf Mama. »Allein darf sie euch nicht besuchen,« sagte diese mit dem alten harten Ton in der Stimme, während sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel gruben. Als sie fort waren, trat ich auf den Balkon. Ich hatte das Bedürfnis, frische Luft zu schöpfen. Da fiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen, hastigen Schritten ging der Vater vor unserer Haustür auf und ab, und als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr mit einer raschen Bewegung zu, und ich sah, wie sie sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf ihr zugeneigt, als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu verlieren. An diesem Abend mußt' ich wieder weinen.
Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur noch mühsam die hohen Treppen herauf und hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, sondern nach Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen.
Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt gegangen, um zu besorgen, was ihnen für die Ferienreise zu ihrer Mutter noch fehlte. Als ich daheim die Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich vor den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib zusammen. Ich schlich ins Wohnzimmer und fiel meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch aufgesprungen war, in die Arme. »Nun ist's so weit,« flüsterte ich und sah ihn glückselig an. Er schickte zu meiner Ärztin. Ich aber saß still im Lehnstuhl und spottete seiner Ängstlichkeit. Wie hätte ich mich auch nur einen Augenblick lang fürchten können! Wenn ich die Augen schloß, sah ich Großmamas gütiges Antlitz vor mir und hörte sie tröstend wiederholen, was sie mir früher so oft versichert hatte: Ein Kind gebären ist das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und die Nacht, — ich wartete noch immer. Und am folgenden Tag war ich zu schwach, um vom Bett aufzustehen, und in der Nacht standen zwei Ärztinnen um mein Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein spürte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen stöhnte, so war mir's, als wäre ich's nicht.
Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel in wolkenloser Pracht; von der Gedächtniskirche herüber klang tiefer Glockenton, und von allen Seiten antworteten ihm hellere Stimmen. »Es will ein Sonntagskind sein,« flüsterte ich lächelnd dem Liebsten zu, der neben mir saß, und an den ich mich klammerte, wenn es gar zu wehe tat.
»Und in der Johannisnacht geboren werden,« hörte ich wie von ferne sagen. Müde sank ich in die Kissen. Mir träumte von den Bergen, die zum Himmelszelt stolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen Matten, die sich zart und weich zu Füßen grauer Felsen schmiegen. Und ich sah, wie alle Spitzen zu glühen begannen, als hätten sich die Sterne auf sie herniedergesenkt, und von allen Hügeln die Flammen loderten. Plötzlich aber war mir, als stünde ich selbst auf dem Scheiterhaufen, — schon züngelte das Feuer an meinem nackten Körper empor, — ich schrie laut auf — —
War ich gestorben, — und darum so seliger Ruhe voll?! Ich schlug die Augen auf. »Heinz!« kam es ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich tastete mit den Händen auf dem Bett, — ich fühlte seinen Kopf, — seine Schultern, — warum bebten sie nur so?! Heiße Augen, die durch Tränen leuchteten, richteten sich auf mich. Von der anderen Seite öffnete sich die Türe, ein breiter Strom von Licht ergoß sich in das dunkel verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau, ein weißes Bündelchen auf den Armen. »Mein Kind —!« rief ich. »Unser Sohn!« antwortete Heinrich und legte ihn mir an die Brust. Ehrfürchtig berührten meine Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn. Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens tiefes Geheimnis noch zu schlafen schien, blickten mich an.
Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, in einen Artikel vertieft, den ich Wanda Orbin versprochen hatte.
»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß den Beweis erbringen, daß die Anhänger der verschiedensten politischen und religiösen Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform zu gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die tatsächlich zwischen den Rednern auseinanderklafften. Aber erst die Frage der Frauenarbeit vollzog schließlich die Trennung der Geister. Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: auf der einen Seite standen die katholischen Sozialreformer Belgiens und Österreichs, unter ihnen Männer in langem Priesterrock und brauner Mönchskutte, auf der anderen die Führer der internationalen Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns am nächsten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle wieder versammelten — einem Saal, der nur für Festesfreude geschaffen schien, — und der blaue See und die weißen Berge durch die breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, ein Bild glücklichen Friedens, da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs drängte sich dort oben zusammen. Erwartungsvolle Erregung brannte auf ihren Wangen. Und unten sammelten sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft schien zu vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden Pulse, all der kampfheißen Blicke. Der katholische Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der großindustriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte seine schöne Stimme den Riesenraum und steigerte sich zum tragischen Pathos, wenn sie die zerstörenden Folgen der Frauenarbeit schilderte: ›Der Säugling verkommt in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden Kinder werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen Herdfeuer flieht der Mann und sucht Trost und Wärme im Trunk ...‹ Er malte nicht zu schwarz, und auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen können. Aber während die tatsächlichen Zustände ihm und seinen Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte Verirrung der Menschheit erschienen, die durch ein gebieterisches ›Zurück!‹ von dem alten kleinbürgerlichen Familienleben wieder abgelöst werden könnten, sahen die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die nur durch ein ›Vorwärts!‹ zum Sozialismus zu überwinden ist. ›Auch wir sind für die Verkürzung der Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, für Verbot der Frauenarbeit in gesundheitsschädlichen Betrieben,‹ erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner; ›aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind wir nicht. Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de Wiart in so leuchtenden Farben malte, würde seine Folge sein, sondern eine noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune noch Neigung treibt die Frauen in Scharen in die Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren Tore, und dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird sie demjenigen Frauenberuf zuführen, vor dem weder die christliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritterlichkeit der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet haben: der Prostitution.‹ Und in einer Rede voll hinreißender Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer sozialen Befreiung: ›Die Arbeit ist ihre Menschwerdung. Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwischen Beruf und Haus erwachsen dem Weibe zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern würde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, stimmen wir geschlossen gegen den Antrag Wiart, sondern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung der Ehe und der Familie willen, die die ökonomische Unabhängigkeit des Weibes zur Voraussetzung hat.‹ Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, sie ablöste, — mit niedergeschlagenen Augen und leise zitternden Händen, ungewohnt des öffentlichen Auftretens, — erschien sie wie die Personifizierung jener fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen Worten, mit einem Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeschwören zu können: ›Um der Kinder willen, denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den Antrag an —;‹ ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die der Verstand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...«
Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine bloßen Theorien mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, — und ich war keine Industriearbeiterin, — ich brauchte nicht von früh bis spät in der Fabrik zu schuften, fern meinem Liebling. Mir grauste, wenn ich daran dachte, daß so etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen Füßen zu stehen schienen.
Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug geworden, obwohl ich mein Kind in bester Obhut zurückgelassen hatte. Meine Phantasie malte sich täglich neue Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! Wie oft sprang ich vom Schreibtisch auf und sah sehnsüchtig auf den sonnigen Platz hinunter, wo es, in seinen weißen Wagen gebettet, auf- und niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, wieviel krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu sitzen, in Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften teilnehmen.
Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt und der Fabrik, auch sie hatten kleine Kinder zu Hause und kein Dienstmädchen, um sie zu hüten; — meine Bewunderung für sie stieg und zugleich mein Verständnis für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das sich in ihnen angesammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, die weibliche Berufsarbeit — auch die der Mütter — zu erhalten? Ich zerriß den halbfertigen Artikel wieder und schrieb an Wanda Orbin ein paar entschuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen, ich war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten aufzutischen, seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit geworden war, und ich ihr für mich selbst die Antwort noch schuldig bleiben mußte.
Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« fragte er mit einem verwunderten Blick auf den Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn herein wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür fehlen würde. Er hatte schon oft nachsichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den Konflikt berührte, in dem ich mich befand; er war sogar hie und da heftig geworden, hatte mich für sentimental, für überängstlich erklärt, wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs- und Parteipflichten mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte er den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, weil er mich nicht verletzen wollte. »Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich. »Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in kühler Objektivität zu lösen, — wie eine mathematische Aufgabe.«
Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren rasch mitten in lebhaftester Debatte. Das Fernbleiben aller jungen sozialpolitischen Professoren vom Züricher Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, als es im Gegensatz nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu ihren eigenen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte.
»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, daß Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet der Sozialpolitik sich begegnen und miteinander beraten könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie nicht!« Romberg biß sich in die Lippen, wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war.
»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd.
»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale Presse zu ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,« rief ich empört, »daß die starke Beteiligung unserer Partei den Kongreß von vorn herein zu einem sozialdemokratischen gestempelt habe und preußische Professoren daher nicht hingehörten!«
Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein. Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich dem Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs.
»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in Zürich auch die Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit einem sarkastischen Lächeln.
»Ich fürchte, jede ›Lösung‹ ist nur der Ausgangspunkt neuer Probleme,« erwiderte ich.
Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: »Wie, — auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja immer besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen Schulbuben und weist ihm nach, daß die Verelendungstheorie angesichts der gestiegenen Lebenshaltung der Arbeiter zum alten Eisen geworfen werden muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; Bebel tritt für die Beteiligung an den Landtagswahlen ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungenkraft verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird zur Antifeministin — —«
»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, so ist es die, daß meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus führen, wie Schönlanks oder Bebels Negationen veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.«
»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?«
»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, — gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung fehlt.«
»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« meinte Romberg lebhaft.
»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit verhelfen —,« fügte Heinrich rasch hinzu, »ein Buch über die Frauenfrage, das von einer Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die wirtschaftliche, die soziale und die rechtliche Lage der Frauen zu behandeln hätte, ...«
»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach ihn Romberg. »Die vage angedeutete Idee ist unter Ihren Händen zur Disposition eines ganzen Werkes geworden.«
Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an diese Arbeit packte mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. Ein zusammenfassendes, grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum so unsicher hin- und hertastete.
»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« meinte ich schließlich zaghaft.
»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum Mann,« antwortete Romberg.
Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich entschlossen war auszuführen. Erst auf Rombergs wiederholtes: »Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der Reihe vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen mit goldroten Haaren, feuchtschimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für diese in Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. »Ich hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er lächelnd. In der Bewunderung für derlei Erscheinungen ist er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich ärgerlich. Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: »Können Sie sich wirklich eine Welt als wünschenswert vorstellen, in der alle Frauen Berufsphilister werden, wie es heut schon alle Männer sind; in der sie keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt werden?« —
»Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen helfen! Aber Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen, gehören nicht zu den duftenden Blumen, zu den an sich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. Sie sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.«
»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich aber bleibt für mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, nicht die, nach Ihren Begriffen freie, emanzipierte Frau wird der Kultur höchste Blüte sein, sondern die femme amante.« Er sah mich kampflustig an, er liebte den Widerspruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin stand für ihn ein für allemal fest, und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor sich zu haben.
»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,« spottete ich, »meine Meinung stimmt fast überein mit der Ihren, nur daß ich die Existenz der femme amante leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Voraussetzung ist...«
Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster mich in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte ich nicht meinem dummen Katzel widersprechen müssen, das die femme amante wegdisputieren will und selbst nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« sagte ich leise und gab ihm seinen Kuß zurück.
Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe, sondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. Die Ehe kam mir vor wie eine moralische alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft durch ihre Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug, den die Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. Die Liebe ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem Altar der Liebe die Flammen, so schämen sich die Opfernden wie arme Sünder, wenn die Ehe sie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Einer muß sich dem anderen unterordnen, wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht sie selbst.
So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, — meiner Frauenfrage. Wahrlich, es war eine große Aufgabe, sie zu lösen.
Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien meiner Arbeit; daß sie mich ans Haus, an den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene Begleiterscheinung.
Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, — und es blieb nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der Entscheidung des Einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeitskraft —, erzählte ich von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir eine gewisse Beschränkung auferlege. Ich war nicht wenig erstaunt, daß dieselben Menschen, die der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen, über meine Mitteilung die Nase rümpften und sie nur als einen Vorwand ansahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu überzeugen suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, für den is das Schreiben doch keen Kunststück,« sagte eine von ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter Programm steht haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere hinzu. »Genosse Bebels ›Frau‹ und Genossin Orbins Artikel in der ›Freiheit‹ sind als Grundlage für unsere Bewegung mehr als ausreichend,« sagte Martha Bartels mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter sie wurde. Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten.
Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den gesunden Kern aus der ungenießbaren Schale einer französischen Broschüre herausgeschält hatte: die einer staatlichen Mutterschafts-Versicherung. Ich wollte ihr eine fest umrissene Gestalt geben und sie in den Mittelpunkt meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie das Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, solange es der Pflege und Ernährung durch sie bedürftig ist, — das schien mir aber auch ein Ziel, würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur Erörterung zu bringen. Aber seltsam: um unseren Sitzungstisch saßen die früh gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß der Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächst als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen hatten schon eine Tradition und waren darum vielfach reaktionär.
Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich beschloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen.
Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich vergebens.
An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann und ich. Wie schön hatten wir es uns gedacht, das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses Einandergegenübersitzen von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich zu deuten versuchen, diese Sorge, einander ja nicht zu stören, schufen eine Atmosphäre von Nervosität, die um so unerträglicher wurde, als keiner den Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, daß ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; und oft ging ich hinaus, weil ich fühlte, daß er allein sein mußte.
Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu überhören und Anzüge zu flicken, da waren die Haushaltssorgen, die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je weniger ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rücksicht selber war, wirkte sie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für schuldig, wenn ich sie nicht bejahend beantworten konnte. »Du verschwendest, — du läßt dich vom Mädchen betrügen —,« rief er, während die Zornadern ihm auf der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte sein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich zu gleicher Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. Das menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haushalt erfordert umsomehr die Gedankenwelt der Frau, je weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg meine Sorgen, ich vermied es soviel als möglich, meinen Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Erniedrigung meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie hilft so manche andere Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften und Tagesblätter, um Geld zu verdienen.
Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine Pflege meine Gedanken in Anspruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein warmes rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte wunschloser Friede mir tief ins Herz. Lachten mich seine blauen Augen an, so vergaß ich alles darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte er, und ich wußte nicht warum, so gab es kein Menschenleid, das mir hätte größer erscheinen können; klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger fest um die meinen, so fühlte ich, daß er für immer von mir Besitz ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um ihn zu lieben, mein Geist, um ihn zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war jeder Schatten von Kummer verschwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz weh: ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; sie mußten das fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühte, meine Zärtlichkeit für den Kleinen nur zu äußern, sobald sie fern waren.
Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieser Kinder. Aber meinem Mann sagte ich nichts davon. Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte, und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen vermochte, bekam wieder Macht über mich: ich lernte schweigen, um nicht zu verletzen, und um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.
Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unser Kind hatten taufen lassen, war sie viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich sie über unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte. »Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmestellung zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, als sie in unserer Handlungsweise einen Ausdruck unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte; »ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu lassen, was seiner eigenen Überzeugung entspricht.«
Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um so mehr, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig gesagt: »Wenn du einmal verheiratet bist, wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!« Sie durfte nicht glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte in der Meinung erhalten werden, die sie schließlich allein über meine Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichste sei. An der Art, wie diese ruhige, anscheinend kühle Frau ihre Freude darüber äußerte, sah ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden pekuniären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie um ihrer Härte willen im stillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umsichtig sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie stunden- und tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider nähen half, — wie schwer mochte es auch ihr geworden sein, wie viel mochte sie entbehrt haben!
Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal putzte ich für mein Kind den Weihnachtsbaum. Erstaunt riß es die Augen auf und streckte die Händchen verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne lag allerlei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann, den mein Vater geschickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachtstisch, auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im Grunewald« stand darin. Vor Überraschung war ich sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, glückselig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit gefunden, unseren Wunsch durch die Beschaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. »Wie wird unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix dort arbeiten können!« sagte er.
»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« meinte ich schließlich, nachdem der erste Sturm der Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog über seine Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, — auch angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt senkte ich den Kopf. Die Lichter waren längst erloschen, und die Kinder schliefen, unser Liebling mit dem Hampelmann, fest an sich gedrückt; der süße Duft der Wachskerzen, vereint mit dem starken der Tanne, erfüllte das Zimmer; wir großen Kinder träumten darin unseren Weihnachtstraum: von dem stillen Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die wir beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das wachsen sollte wie die Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu und dem Sturme trotzend.
Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, über den der Himmel all seinen Glanz und seine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein weißes Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen Kissen seines weißen Wagens und schickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, sah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie der letzte eiserne Reifen um des alten Mannes Herz zersprang.
»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die Mutter. »Ich habe Deinen Vater seit Jahren nicht so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie seinen Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs Weihnachtsgeschenk noch besonders beglückt: so hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe von Dir abgewendet!«
Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Nächte, die dem Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit auf das notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern begegneten die Menschen einander, und die Träume, die geträumt wurden, gingen in Erfüllung. Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt auch heute noch dieser Glaube. In den Straßen und in den Herzen ist es stiller als sonst. Der fieberhafte Pulsschlag des öffentlichen Lebens stockt. Selbst der heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm ums Herz wird, der wünscht zuweilen, sich auf immer einspinnen zu können in diese Stille.
Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greisenhand des alten zum Abschied spendete, aus seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit schmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden Preisen, so daß auch die süß Schlummernden sich dem Land ihrer Träume entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen.
So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die Wetterkundigen am Himmel seit jenen ersten Gewitterwolken kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. »Rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine gefordert, als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ablehnend gegenüberstanden. Inzwischen war die Flottenvorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre hinaus Millionen und Abermillionen für neue Schiffsbauten forderte. Doch die stürmische Entrüstung, zu welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in seiner psychologischer Kenntnis der Menschennatur, die um so überraschender war, als die Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, waren Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, — wie der Streit eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden der Republik Haiti und die Ermordung zweier deutscher Missionare in China, — zu so ernsten Konflikten mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß der furor teutonicus sich daran zu entzünden vermochte. Einmal gereizt, griff der gute deutsche Michel wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht nach fernen fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. Was uns, die wir nüchtern geblieben waren, wie eine romantische Floskel klang, — die pathetische Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Faust und dessen Antwort von dem »Evangelium der geheiligten Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden wolle, — das entsprach im Augenblick dem fanatisierten Empfinden des deutschen Bürgers. Er, dessen Leben so lange sang- und klanglos dahingeflossen war, der seit Bismarcks Abschied für seine Begeisterungsfähigkeit keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung schreckte ihn nun nicht mehr.
Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch mehr als das: hatte das Interesse eines großen Teiles der Bourgeoisie sich in einer für sie bedenklichen Weise in den letzten Jahren der sozialen Frage zugewandt, so war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken. Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie Männer, auf die ich noch vor wenigen Monden für unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg und seine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwischen ihr und der Arbeiterpolitik nichts anderes geben könne als unversöhnlichen Gegensatz, schien mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs Argumente, der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch einen Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war ich vollkommen unzugänglich.
Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb nicht nur alte Freunde von unserer Sache ab, sie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen, die sich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bekämpft werden müßten. Der Weizen Herrn von Stumms, unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein neues Ausnahmegesetz in Vorbereitung. Der »Vorwärts« veröffentlichte ein Geheimschreiben des Staatssekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht stellte, das, nach den Absichten unserer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde.
Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die Flottenvorlage, eine scharfe Trennung zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag.
Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge kostspieliger Kriegsabenteuer und drückender Steuerlasten, auf der anderen die Bedrohung des Koalitionsrechtes, — war das nicht genug, um die proletarischen Massen zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! Warum war die Stimmung in unseren Versammlungen so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen zutage getreten war? Die starke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren gegangen, als ob sich zwischen uns und das Ziel, dem wir so leidenschaftlich zustrebten, ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch die Einheit, die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. Das Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre eine Saite gerissen.
Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, hatte es sich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie von der Sekte zur Partei hatte sich zuerst die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitalistischen Staates als eines unmöglichen Paktierens mit der Bourgeoisie bis jetzt, wo sogar von alten bewährten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei, Georg von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem empörten Widerspruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte: daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft auf die nächsten und dringenden Dinge konzentrieren müßten und »dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust« zu zeigen sei, — das hatte sich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, und vor der Logik der Tatsachen wich die radikale Phrase bloßer Verneinung Schritt vor Schritt zurück.
Jetzt aber begann sogar die alt-ehrwürdige Theorie vor dem Ansturm der jungen Praxis in ihren Grundfesten zu zittern. Im Lichte der fortschreitenden Zeit erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das Erfurter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtschaftliche Entwickelung sich nicht überall mit den von Marx aufgestellten Gesetzen in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht so rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommunistischen Manifest mit apodiktischer Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine Herabsinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährtesten Vorkämpfer des Sozialismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in England lebte — Eduard Bernstein —, auf und erörterte in breiter Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozialismus. Er rüttelte weder an seiner Voraussetzung noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und anders geartet, als Marx und seine Schüler ihn dargestellt hatten, daß wir ihn daher mehr berücksichtigen, unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf das schließliche Ende einstellen müßten.
Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in seiner Wurzel religiösen Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel erwartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen Beweisführungen niederschmetternd. Meinem Verstande waren die Grundsätze des Sozialismus so ohne weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl mit seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie kritisch und wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie Tausenden meiner Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchsten Tugend, — der intellektuellen Redlichkeit, — es nachzuholen.
Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen wiedergekehrt zu sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich verzweifelt, wenn so vieles schwankte? Ernüchtert, — bar jener stürmischen Begeisterung, die mich ausziehen ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen kleinen Hindernissen, die im Schweiße unseres Angesichts überwunden werden sollten, und mit dem Ziel, das im Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die Masse der Menschen die Voraussetzung ihres Enthusiasmus und damit ihrer Stärke. Ich hatte sie verloren wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es aus unbewußter Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, sei es aus einer gewissen Beschränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen Erkenntnis aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. Mein Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit sich fort. Vielleicht wäre es sogar auf lange Zeit hinaus das herrschende geblieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verstand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatsachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. Aber der Schneckengang der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu sein schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten nur achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel abgaben und mehr als die Hälfte der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie noch gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, bewiesen, wie weit wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre ein Verbrechen an unserer Sache gewesen, — das sah ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben.
Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das Produkt der Angst um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte die Masse der Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit blieben, weil ihre Macht von dieser Mehrheit abhing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; er lähmte die Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit sich selbst zerfallen waren, er lenkte die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu müssen.
Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine Worte zündeten nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit Reinhard wieder. Er schien mir sehr gealtert. Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte er, »wäre das ganze Getratsch von Endziel und Bewegung uns nicht in die Parade gefahren.«
»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich.
»Recht! — Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich hat er recht in dem, was er sagt, aber daß er es sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein Fehler, ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die wir mitten im Leben stehen, sind schon lange seiner Meinung, aber wir machen die Genossen nicht kopfscheu mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, wie die Verhältnisse es fordern.«
»So hätte er schweigen sollen?«
»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug gehabt. Aber daß er uns jetzt diesen Knüppel zwischen die Beine schmeißt —«
Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal in der Diskussion ein rabiater Genosse vorwarf, auch ich hätte »das Endziel in die Tasche gesteckt«, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von den eigenen Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr höher stünde als ihre numerische Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin aller derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen auf ihrer Seite, — die Frauen, die nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialistinnen geworden waren. Mit jener naiven Kraft der ersten Christen, die ihr ganzes Tun und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres Zukunftstraums.
Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, — es war in bezug auf die Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmenverhältnis weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, — stieg die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, denen man die Schuld an diesem Ergebnis zuschob, noch mehr.
Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beschluß, der nach einer stürmischen Versammlung im Feenpalast von den Berlinern gefaßt wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine Beteiligung an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. Sie erschien den Radikalen als ein bedenkliches Hinneigen zu revisionistischen Ideen.
In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das gegenseitige Mißtrauen weniger im Streit um Meinungen, als in persönlichen Reibereien. War ich schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der Überzeugung gelangt, daß diese spezifisch weibliche Art nur durch eine Zusammenarbeit mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach dieser Richtung geltend zu machen.
»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter auf das Programm geschrieben, wir müssen sie also zu allererst in der eigenen Partei durchführen,« erklärte ich, und selbst die Feindseligsten waren in diesem Gedanken mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie damit schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei denen heißt's noch immer, wenn unsereins den Mund auftut: Kusch dich! zu Hause — wie in der Bewegung,« sagte eine andere langjährige Parteigenossin. »Sie wissen, wie wir voriges Jahr behandelt worden sind, —« fügte die dicke Frau Wengs hinzu, »als wir auch nur eine Einzigste von uns in den allgemeinen Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten aufgestellt haben. ›Wascht man eure dreckige Wäsche alleene —,‹ sagten uns die Vertrauensleute.« »So müssen wir eben immer wiederkommen,« entgegnete ich, »Na — für die schönen Augen von Genossin Brandt tun sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Schließlich beschloß man, noch einen Versuch zu machen, und es gelang auf einer der Parteiversammlungen, zunächst meine Delegation zum Parteitag der Provinz Brandenburg durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über diesen Erfolg war die der Kinder, wenn sie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit vergessen.
Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte die Presse eine neue Rede des Kaisers, die er im Kurhause von Öynhausen gehalten hatte: »Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in diesem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll ...«
Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der Sitzung am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution ein, die zur einstimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiserlichen Drohung verlief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten nicht, die gute Frau Wengs lachte über das ganze runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander auf Ihrer Seite.«
Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der berliner Wahlkreise bereit sei, mich zum nächsten Parteitag zu delegieren.
»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann mit einem leise spöttischen Ton in der Stimme, als er meine Freude sah.
»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder meinst du, ich wäre in die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben?«
»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!«
Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, der mich beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte Wunsch nach einem Wirkungskreis für meine Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, als daß ich es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten hätte bringen können. Jetzt war ich im Aufstieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympathie der anderen für mich; es galt nunmehr, beides festzuhalten.
In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen endgültig zu entscheiden hatte, herrschte von Anfang an Gewitterschwüle. Die schroffsten Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines schien von vornherein klar: die Masse der radikalen Berliner erwartete vom nächsten Parteitag eine Abrechnung mit den revisionistischen Elementen in der Partei, ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite stand. Man forderte schließlich, daß sämtliche Delegierte sich auf die Feenpalastresolution verpflichten sollten. Während ringsumher alles durcheinander schrie und tobte, wurden die zur Delegation Vorgeschlagenen aufgerufen.
»Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres Beschlusses?« Überrascht fuhr ich auf, — ich hatte nicht erwartet, als Erste gefragt zu werden, — ich versuchte mir im Moment die Situation zu vergegenwärtigen. »So antworten Sie doch!« rief ungeduldig die Stimme des Vorsitzenden.
Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns doch nicht im Stiche lassen,« flüsterte Frau Wiemer von der einen Seite, — »wir haben ja nur für Berlin die Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd von meinen Lippen.
Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, und im selben Augenblick seine Antwort: ein scharfes »Nein«. Ich wurde gewählt — er nicht.
Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber jedes Wort, das sie sagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch den tieferen Sinn der Resolution.«
Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch in der Nacht schrieb ich eine Erklärung für den »Vorwärts«, und legte mein Mandat in die Hände meiner Wähler zurück ...
Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die Männer lachten mich aus. Ich schwieg. Womit hätte ich mich verteidigen können?
»Ottoo — addaa,« rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er saß auf meinen Knieen im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als ob er in seiner Freude alles grüßen müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus in den Grunewald. Es war ein strahlender Sommertag; Scharen von Radlern flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn fauchte heut wie ein vergnügter Alter, weil sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne fuhr.
Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich setzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er mit den runden rosigen Fingern jeden Grashalm an und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit einem jauchzenden »Da — da!« den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften. Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling tanzte über ihnen, — es war eine große Sommer-Festvorstellung für mein Kind.
Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher und betrachteten das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser Haus stehen sollte. Der Baumeister war mit uns gekommen. Er war noch jung und ein echter Künstler; von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns am besten verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens in der Hand, das seinen Namen trug — Alfred Messel —, und sah es schon lebendig vor mir, mit seinen blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden roten Dach. »Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. »Nein! Unter die schwarzen Kiefern paßt nur ein graues.« Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich sah ihn erschrocken an, — mir war auf einmal die Freude vergangen.
»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand an der Türe, die Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres Rades, und neben ihr ein großer, überschlanker Mann. Errötend stellte sie ihn vor: »Professor Erdmann!« Sie hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine Rolle zu spielen begann, und Messel begrüßte ihn wie einen lieben Kollegen. Nach ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: »Wir dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. »Ich find' es viel hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter und sah sie mit einem Lächeln an, das auf ein tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester hob sich empor zu ihm, seine lange Gestalt neigte sich zu ihr, — so flogen sie nebeneinander die sonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.
»Ottoo — addaa,« klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und links; krampfhaft umspannten sie einen Büschel grünes Gras, und unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der sich gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal breitete er seine schillernden Flügel aus und flog mit surrendem Geräusch davon; entsetzt starrte mein Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen — ein sehnsüchtig-schluchzendes »adda — adda« kam von dem zuckenden Mündchen, und verzweifelt weinte es vor sich hin. Mein Mann lächelte über den wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um den Verlust ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die Arme.
Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine Schwester. Sie wollte mich allein sprechen. Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei mühsam hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten mir genug. »Und die Eltern?« fragte ich. »Sie wissen von nichts,« stotterte sie und sah ganz verängstigt drein.
Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Naserümpfen hatte er früher über Künstlerehen gesprochen. Sollten für seine Töchter keine seiner heißen Wünsche in Erfüllung gehen?
»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müssen, —« sagte ich, und mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe davon, wenn Papa es nicht zugibt,« rief sie.
Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein Schwesterchen war einmal mein Kind gewesen, sie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie schutzbedürftig vor mir stand.
Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier entgegentrat, war mein erstes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und schmal, wie seltsam durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen Hände. Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über den Menschen seine Erscheinung vergessen.
»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« antwortete er auf meine Frage. »Freilich: Ilse stellte mir eine Bedingung, —« fügte er lächelnd hinzu, »du mußt Alix gefallen, sagte sie.«
»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen müssen,« meinte ich.
»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer der meine als der härtere erwiesen,« entgegnete er.
»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen sein würde?!«
»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und nehme alle Kämpfe auf mich, — nur ihrer Treue muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine Augen. Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten Formen zu verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen können?
»Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal ein. »Um so besser,« — ein warmer Glanz echter Freude verschönte seine Züge, — »wir Künstler brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.«
Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter zu erklären, damit sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. Ich ging nachdenklich heim. Ilse war ein leicht zu leitendes Kind gewesen, — fast zu leicht, denn mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und herführen; aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, so erwachte ein unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den, der sie meistern wollte. Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von Energie gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die richtige Grenze zu finden wissen?
Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann sich ihr eröffnet hatte. Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die Eurem Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« »Dafür wirst du nachher um so mehr Ruhe haben,« suchte ich sie zu beruhigen. Ihre schmalen Lippen kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus.
Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. »Denk' nur, er gefällt Papa!« erzählte mir Ilse ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war, beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; meine Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der Rücken nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals genötigt worden, — ich selbst hatte ihr nur zu häufig die Schularbeiten gemacht, damit das Köpfchen unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu müde wurde!
Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« und daneben von der Mutter Hand: »Hans war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er mußte doppelt gelitten haben, da er sich durch keinen Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu erleichtern vermochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, — ob ein verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte?
Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer die Taschen voll für den Kleinen; war das Wetter schlecht, so ließ er ihn zu sich kommen, setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ er mich grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht zurückweisen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um den Hals, als er das nächste Mal zu »Apapa« fuhr. Auf dieselbe Weise brachte er die Antwort mit zurück:
»... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich muß mich selbst überwinden. Wenn man das Fahrwasser kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes lassen muß, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Daß Du mich verstanden hast, erfreut mich und macht mich dankbar.
Dein alter Vater.«
Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener geistigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen gewesen war, ging sie vollkommen auf im Künstlertum ihres Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen ein lebendiges Werk werden sollte. Selbst ihre Kleidung richtete sie nach seinem Geschmack; sie war eine der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie aus den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden Kunstgewerbes hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen aus hygienischen, von den Malern aus künstlerischen Gründen geschaffen wurden. Jedes Stück ihrer künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt. »Oskars Stil entspricht so vollkommen meinem ästhetischen Empfinden,« sagte sie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.« Sie hatten nahe dem Kurfürstendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, so drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne mit all ihren reizvollen Details. Meine eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit eurem Haus überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« meinte die Mutter einmal und ich nickte dazu.
Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer Art. Das Haus, das inzwischen immer stattlicher aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet, daß doch auch während des Baues Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget auf das Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus; dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen litt, und zwar um so mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr er sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und sagte mit einem gequälten Ausdruck in den Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum! Überlasse mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege räumen.«
Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich schon davor, denn noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser und schöner gewesen war. Hörte es Heinrich, so schalt er sie, weil er sah, daß es mich kränkte, und eine bleischwere Stimmung herrschte um unseren Tisch. Diesmal stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; — so freuen sie sich doch, nach Hause zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen. »Die Mutter läßt dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr vorkommen. Mützen hatten wir, wie sie in Österreich nur Portiers tragen, und Anzüge, über die die Bauernjungens lachten.« Ich fühlte, wie blaß ich wurde. Ich hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch schwerer geworden als sonst. Bei Tisch fing auch Hans, der stets zurückhaltender war, zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel gesünder, meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser als immer bloß Wurst.«
Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am nächsten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. Konnte ich die Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ständig fürchtete, von ihnen als die böse Stiefmutter angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu verlieren?! Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie sich bei der eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief und schüttete ihm, nicht ohne mich selbst all meiner versäumten Pflichten anzuklagen, mein Herz aus.
»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All den Kummer schleppst du mit dir herum und sprichst dich nicht aus?« Er schlang den Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß gründlich Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...« »Vor allem um der Kinder willen, Heinz,« unterbrach ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, — schließlich müssen sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei.
In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, ihre Söhne bei sich zu behalten, aber immer wieder hatte Heinrich sie zurückgefordert. »Wie konntest du?!« sagte ich leisem Vorwurf. »Kinder gehören zur Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; ich hatte im Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,« antwortete er. »Jetzt aber ist die arme Frau viel einsamer als du, —« »— sie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er hart, »sie war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die Rücksicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausschlag geben.«
In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich im Bett schlaflos hin und her; im ersten Morgengrauen stand er leise auf, und ich hörte, wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er sah müde und vergrämt aus, als er wieder zu mir hereinkam.
»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« sagte er.
»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, — ich sehe vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein.
Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, sie recht lieb zu haben, seine Söhne anvertraut hatte. Er sah so finster drein! Jähe Furcht beschlich mich um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er blieb bei dem einmal gefaßten Beschluß.
Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine rückhaltlos zustimmende: jede Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte zwischen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie ihr Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die Verhandlungen hin, und die Korrespondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, die mich quälten, nicht mehr ertragen.
Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. In einem Salon mit schweren Renaissancemöbeln empfing sie mich, eine schlanke, dunkle Frau mit scharf geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl anzubieten.
»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung leichter zum Ziele führen wird,« begann ich.
»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig leblosen, kalten Ton, als käme sie weit her aus dunkler Tiefe.
»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, meine ich, werden uns verständigen, — mit einigem guten Willen natürlich, — denn zwischen uns steht nichts —«
»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« Ein Blick voll Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen Sie mir!«
»Ich?! —« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. »Ich, die ich sie Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte nicht auf mich. In leidenschaftlicher Erregung kamen die Worte, sich überstürzend, von ihren Lippen: »Habe ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören müssen: ›Die Mama erlaubt das alles, — die Mama straft uns nicht, — die Mama schenkt uns dies und jenes‹?! Und jetzt soll ich vielleicht erleben müssen, daß meine eigenen Kinder sich fort wünschen von mir? Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater es wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!«
Ich verstand sie, — so hatte ich auch ihr unbewußt Böses getan! »Sie wissen, mein Mann hat für das erste Jahr schon auf ein Wiedersehen verzichtet,« antwortete ich.
»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! Im übrigen —,« sie nahm wieder den alten eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß ich umziehen, ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine Wohnung —,« sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, »ich habe keinen Platz für sie.«
Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien zu fühlen, was ich empfand, denn rasch fuhr sie fort: »Ich wünsche, daß die durch Unordnung sowieso schon genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben, eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit kommen.«
»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« Drängte ich. »Die Situation ist für alle Teile unerträglich!«
Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!« Tiefe Falten gruben sich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder streifte mich ein Blick, — zum Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, sechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!«
Ich erhob mich, — fast wäre der geschnitzte Stuhl bei meiner raschen Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hinaus. Und als müßte sie mir zuletzt noch ihren Haß fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, — die Kinder sind zu schlecht erzogen.«
Ich dachte an die Buben, — an ihre lustigen Knabenstreiche, an die ungebundene Freiheit, die sie genossen. Noch ein gutes Wort wollte ich bei der strengen Frau für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden ihnen nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?«
»Wie können Sie sich erlauben —?!« rief sie fassungslos. »Wer ist hier die Mutter: Sie oder ich?!«
Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächsten Nacht fuhr ich nach Berlin zurück. Nicht das mindeste glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt den unterschriebenen Vertrag und übermittelte den Wunsch, den Kindern möchte die Reise nach Wien nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie gerne kommen.«
Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, — und eine Reise nach Wien! Wir brachten sie zur Bahn und sahen den strahlenden Gesichtern nach, die grüßend aus dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken entschwand.
Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, — still und blaß. Wolfgangs rundes Kindergesicht war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Besuch gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht ertragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für andere sie erdrückt haben mochten? In die größte, die letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich der Tod entführt.
Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn sie im Hause des Vaters bleiben würden. Und so mußten sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten bedurften.
Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, wo die Jugend in schöner Abwechselung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher und geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geist engherzigen Preußentums den Eintritt bei sich zu verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich wenig für die, denen die Mutter gestorben war.
Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, der sich inzwischen auf seinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten und rief vergebens »Wof« und »Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht kamen, um mit ihm zu »pielen«, dann erinnerte er sich ihrer nur noch, wenn er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt. Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster, Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, — alles erregte seine brennende Neugierde; wenn aber gar Soldaten vorübermarschierten, so zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er konnte: »Daten! daten!«
Seitdem der Großvater sich dem Enkel zu Liebe einmal in die alte Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal so gern in die Ansbacherstraße. »Apapa Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen damals erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit Stentorstimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm spielten.
Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte mir, der Vater habe heute, ohne sie zu fragen, die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« Mir wurden die Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren hatte.
Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:
»Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, Deinen Jungen bei mir zu sehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum sagte ich Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen soll. Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er hat mich verstanden.
Dein treuer Vater.«
Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die Schwester kam mir entgegen: »Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges Fest für mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie öffnete die Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt gleich,« flüsterte sie und lief davon. Ich mußte mich setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein Gesicht, ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, grüne Teppich, der sich warm und weich unter meine Füße schmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte und die Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu schneiden pflegte, und der »Soldatenhort«, für den er schrieb. Und in der Ecke — die alte Reiterpistole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr. — Der sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Nein, — mich nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes Mutter!
Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und streckte ihm die Ärmchen entgegen. Im nächsten Augenblick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen zitterten, die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht weich machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so tun, als wärst du gar nie weg gewesen.«
Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit schwerem Atem, auf jedem Treppenabsatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns herauf, und meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn darnach fragte, sagte er: »Was soll ich mich jetzt noch über Menschen und Zeitungen ärgern?!«
Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, sondern stets sehr zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel ihm. »Du ahnst ja kaum, wie der Frieden auf mich wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die Erklärung schuldig, daß dein Mann, dessen vollendeter Takt mir so wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.«
Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unserer Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser Häuschen wachsen und werden sah.
»Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen zu wissen,« sagte er zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum in Augenschein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß du meiner Alix solch eine Heimat schaffst!«
Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. »Hier muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,« — meinte er, »und eine Schaukel und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden. Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu stören, sitzen und mit meinem Jungen spielen kann.«
An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schwester, kam ich nach Hause. »Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. Ich nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des schlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Nun kam der Großvater zu ihm. Ich trat in sein Zimmer. Auf dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten, die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl lag der Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der sonst so lebhafte Junge bewegte sich leise zwischen dem Spielzeug und sah erschrocken auf, als ich näher trat. »Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die Lippen. »Apapa baba!«
Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenster. Schwer lag er über den Zügen des Schlafenden, verwischte jede Lebensfarbe, ließ jede Falte tiefer erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch ein so starker Mann gewesen und den Jahren nach kein Greis! Ich sank in die Kniee und küßte die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es gewesen, der ihm ein Stück seines Lebens gekostet hatte.
Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Nur die nächsten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein würden. Meine Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch schmaler als sonst. Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich mich. Meiner Schwester »Ja!« klang so froh, so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. Als aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, verschlang ein rauher Husten, unter dem ich seinen Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war, als wechselten seine Geschwister, die neben uns standen, einen erschrockenen, vielsagenden Blick. Doch wie das junge Paar sich uns zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch diesen Eindruck.
Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie stiegen aus den schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, während Walzermelodien mich umrauschten, sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, in denen so viel Rosen, — duftende Zeugen meiner Balltriumphe —, verblüht waren.
Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme die Luft in rasche Schwingung versetzen, sein Geist und sein Witz wird alle bezaubern, und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Erwartungsvoll sah ich ihn an.
Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine Lippen öffneten sich einmal — zweimal, bis daß ein Ton sich ihnen entrang, der rauh und heiser war. Und dann sprach er, — langsam, schwerfällig, wie eingelernt. Meine Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, die so wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, — gleich darauf sank sie schlaff herab, die Lippen zuckten, — der begonnene Satz zerriß; — eine qualvolle Pause; — dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob es empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand spritzten: »Die Familie Erdmann lebe hoch — hoch — hoch!« — In den Stuhl sank er zurück; seine Augen wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum anderen, und als sein Blick den meinen traf, sah ich die Träne, die ihm in den Wimpern hing.
Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche schlechter. Es duldete ihn nicht im Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort; versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, so setzte er ihren Bitten einen so heftigem Widerstand entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte. Er besuchte meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, obwohl es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinsein mit der Mutter nicht ertrüge. Nur wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere Unruhe einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« und war noch zärtlicher zu ihm als sonst. Einmal kaufte er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken; als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er in helle Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« schrie er und sprach stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine Pflege duldete er nicht; er schloß sich im Schlafzimmer ein, wenn der Arzt kommen sollte.
Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der sie ihn umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, — als ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es kam vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; dann weinte sie bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. »Er ist so böse zu mir, so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest geschlossenen Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der Offenbarung der Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den Schlüssel dazu.
»Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, als wir darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen sei.
»Ja, — das glaube ich gern,« antwortete sie mit einem grüblerischen Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen sonst fremd war.
Ich horchte auf; — kaum zwei Monate war sie verheiratet! Von da an führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr vorüber. Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es nicht schon gestört war. Aber ich fand sie stets heiter inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine Vase, ein Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, wenn sie nicht in bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann zärtlich um sie besorgt, — in einer Art freilich, die ich nicht vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu entsprechen schien. Er bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte die Hauswirtschaft, er ordnete den Tisch, wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der Vornehmheit, die jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil sie das Wesen des Materials zu reinstem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen Vorhänge klang und am Abend in den Falten der grünen, die sich darüber breiteten, träumte; und der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab, widerspiegelte, — in den dunkelroten Kastanienblättern der Tapete, den zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer Stiche, dem Wandteppich mit dem stillen Waldbach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich, unharmonisch, laut und herzlos vor. Aber es ging auch etwas wie eine Lähmung von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben gewaltsam abzog.
Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen über seine Schwelle. Die Kunst stand im Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose, die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einsame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter seinem Schatten ruhen, sondern jene märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der höchsten Kultur des Individuums verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten Exemplaren nur für einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig ein katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht des zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen ertönen ließ.
Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne legt, herrschte hier, wie im Theater, wo Hofmannsthals Hochzeit der Sobëide jenen Haschichrausch hervorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenso stürmisch zu, wie wir die Ibsen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die Menschen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren nicht unter denen, die sich abseits des rauhen Lebens in einem weißen Tempel versteckten, auch solche, die als geweihte Priester der Menschheit wieder aus ihm hervorgehen werden?
Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Werdens, wo andere Fäulniserscheinungen sehen. Auch Erdmanns Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst ihr hätte entreißen können. Er behandelte die jungen Männer, die seine genial geknoteten Krawatten nachahmten, von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, mit leiser Ironie. Die l'art pour l'art-Devise war für ihn nicht das Letzte.
»Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als wir einmal unter uns waren, »um allmählich zum Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe wie mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohnheit der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend setzte er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen wollte er schaffen, in denen nicht alte Klischees immer wieder benutzt werden, sondern die neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu Mustern dienen.
»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die kleinen Handwerker, die ich jetzt schon zusammengesucht habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben vor allem weit mehr Gefühl für das Material, das sie bearbeiten, als die meisten unserer Kunstgewerbetreibenden, die vor lauter theoretischem Wissenskram jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben —.« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten sich auf seinen eingefallenen Wangen ab. Meine Schwester erblaßte, lief hinaus und brachte ihm eine Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas längst Gewohntes. »Der berliner Winter, — dies ekelhafte Regenwetter —,« sagte er dann und lehnte sich müde in den Stuhl zurück, während seine Brust sich noch krampfhaft hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer im Süden —,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.
Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur Tür. Ich sah sie fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß, — wir sollten fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten nicht im Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr und Tag, wenn er sehr viel verdient haben wird, —« dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, — »dann wollen wir reisen —« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. Sie fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder böse sein!« und lief, sich hastig verabschiedend, hinein.
Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun ging meine Mutter zwischen dem Mann und dem Schwiegersohn unermüdlich hin und her. »Ilschen ist viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich zu schonen, so hatte sie nur die eine Antwort: »Solange mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich sie zu erfüllen.« Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war vermietet. In der Nacht, wenn der Vater schlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu stören.
Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen war inzwischen fertig geworden, und der Tag des Einzugs war festgesetzt. Aber die Freude fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.
»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« versicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten. »Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln können, wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. »Wertvollere jedenfalls,« meinte er gereizt. »Deines Kindes und deine Gesundheit, deine Arbeitskraft sind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die Sorgen waren ja meine Krankheit, und sie gedeihen auch in der besten Luft.
Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich —« Meine Mutter schickte diese Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem Lehnstuhl saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kisten standen umher, öde starrten uns die vorhanglosen Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten Tischen.
»Ich will nicht zu Bett, — ich will nicht,« stöhnte der Kranke. Der Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen.
»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« flüsterte sie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich der Vater, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während die Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: »Hinaus — hinaus! Ich mag keinen Quacksalber!« —
Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die linke Seite, — langsam wich die Farbe aus seinen Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer führen, den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur die Augen, die merkwürdig groß und klar geworden waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.
Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die sich zu einem Aufschub des Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten Krankenhaus fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, und die Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste zusammenpackte, war ich allein bei dem Kranken.
Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich forschend in meine Züge. »Du kannst ruhig, — ganz ruhig sein, lieber Papa. Ich bin vollkommen glücklich —,« versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder auf mich zu richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,« antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen zuckte ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die meine zu umschließen, die Lider deckten sekundenlang die stahlblauen Pupillen, — dann zuckten sie schreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben sich zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich verstand. Vorsichtig löste ich meine Hand aus der seinen und ging hinaus — »Mama!« rief ich leise. Sie kam. Ich sah noch zwei Hände, die sich zitternd ihr entgegenstreckten, — dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß ...
Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem Zimmer, bleich, regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« sagte sie. Ich beugte mich über ihn: wie ein Hauch schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, beherrscht von einem Ausdruck feierlichen Ernstes.
Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa dehn!« schrie es ungeduldig. Es war die Stunde seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte traurig den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen.
Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht wußte, ob ich sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen sollte, ordnete die Mutter alles an, als wäre er schon gestorben.
Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in den weißen Kissen. »Er ist ohne Bewußtsein,« hatte der Arzt versichert. Zuweilen aber schien mir, als hörte er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als ginge ein Beben durch seinen Körper.
In der dritten Nacht starb er.
Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib der Stadt sich gigantisch den Hügeln zu Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert durch die alten Bäume pfeift, ist die letzte Garnison der Soldaten. Von den Schießständen grüßen die Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen die Trompetensignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen die Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs.
Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote schlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen sein unzertrennlicher Begleiter gewesen war. Es war ein stilles Begräbnis. Für die alten Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der Abtrünnigen, versöhnte.
Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der seinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des deutschen Reiches erobern half.
Acht Tage später verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle Fenster hatte fluten können, in der mein Sohn geboren worden war. »Ottoo — addaa —« jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenster des Wagens waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an das Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unseres Hauses schauten die kleinen Fenster wie Augen unter schattenden Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig abwehrend zurück. Darüber wiegten die Kiefern ihre schwarzen Kronen. Es war wie ein Stück der stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still und ernst trat ich über seine Schwelle.
Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende nehmen. Die Stadt Berlin, die durch Reinlichkeit zu ersetzen pflegte, was ihr an Schönheit gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Straßen bis in den April hinein in schmutzig-grauen Schlamm verwandelte, nicht gewachsen. Heerscharen, mit Spaten und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den hartnäckigen Feind aus den Toren zu treiben, und um die Massen der Arbeitslosen, die unter seinem Regiment immer stärker angeschwollen waren, zu verringern. Vergebens. Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor den Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr als je waren kräftige Männer darunter. Selbst um die am schlechtesten bezahlte Heimarbeit rissen sich die Frauen; wovon sollten sie die Kinder ernähren, da die Väter feiern mußten und das Fleisch immer teurer wurde?
»Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,« sagte eine blasse, kleine Parteigenossin, die jedesmal mit entzündeteren Augen in die Sitzungen kam. »Die Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen werden dick und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.« Sie stickte Hemden, — »ganz feine aus Battist, mit 'ner Fürstenkrone. Ich wünschte man bloß, jeder Stich wäre 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten Körper berühren,« fügte sie hinzu. Die Bitterkeit, mit der sie sprach, erfüllte mehr denn je ihre Klassengenossen.
Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte die Mehrheit der bürgerlichen Parteien eine Militärvorlage, die Millionen und Abermillionen kostete. Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im Abgeordnetenhaus brachten die Junker den Plan des Mittellandkanals zu Fall, der zahllose neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hätte. Überall siegten die Interessen der Besitzenden gegen die der Arbeiter, und nun drohte die Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht.
Noch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung des Wortlautes der Vorlage, aber sie warf ihre Schatten voraus, so daß an ihrem Inhalt niemand mehr zweifeln konnte.
Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins längst erwartete Broschüre: »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.« Sie faßte zusammen und führte aus, was er ein Jahr vorher in seiner Artikelserie über die Probleme des Sozialismus gesagt hatte. Jetzt, wo die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem Verstand zu lesen vermochte, spürte ich den Einfluß der englischen Fabier, der Webb, der Shaw, der Burns, in deren geistiger Atmosphäre dies Buch entstanden war. Ich spürte aber auch den deutschen Gelehrten, der der rauhen Luft Preußens seit Jahrzehnten entwöhnt war und es in seiner stillen londoner Studierstube, fern der Heimat, verfaßt hatte. Er konnte drüben nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick jede Aufnahmefähigkeit für theoretische Erörterungen gebrach, und wie der Masse der Parteigenossen, die sich von allen Seiten in ihrer physischen und rechtlichen Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus nicht zurückzustoßen, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen mußte. Wo waren denn die freigesinnten Elemente der Bourgeoise, auf die es sich verlohnte, Rücksicht zu nehmen, um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen durchzusetzen? Sie entflammten in schöner Begeisterung für Völkerfreiheit, — wenn es sich um den Kampf der Buren gegen die Engländer handelte. Sie empörten sich wider Unrecht und Vergewaltigung, — wenn von Dreyfus und dem französischen Generalstab die Rede war. Es kam sogar etwas wie ein Entrüstungssturm zustande, als das Zentrum die Kunst in die Ketten kirchlicher Moral zu legen drohte, — aber dem Urteil von Löbtau, das neun Maurer, die sich mit ihren über die schwer errungene zehnstündige Arbeitszeit hinaus arbeitenden Kollegen in eine Schlägerei verwickelten, mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und kalt gegenüber.
So sehr ich mich genötigt sah, der theoretischen Kritik Bernsteins zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von der Notwendigkeit eines Paktierens mit dem Liberalismus. »Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns —.« Getäuschte Liebe trägt die Maske brennenden Hasses; darum urteilt der Renegat über die Klasse, die er verließ, am schärfsten. Wo waren all die, auf die ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem den Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen starrten geblendet in die Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht.
»Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu unterbreiten,« begann Martha Bartels in einer unserer Frauensitzungen. »Unter uns ist kaum eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im Vorwärts verfolgt hätte. In engeren Parteikreisen haben wir wohl auch Gelegenheit gehabt, uns darüber auszusprechen und Belehrung durch andere zu empfangen. An einer großen öffentlichen Auseinandersetzung fehlt es leider noch. Ich beantrage, Genossin Orbin zu bitten, in öffentlicher Volksversammlung einen Vortrag über den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu wollen.«
Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit stimmte man ihr zu. Ich wußte, daß es Wanda Orbin selbst gewesen war, die ihr diesen Gedanken souffliert hatte. Sie wütete in der »Freiheit« gegen Bernstein. »Soweit es sich um die Erörterung der praktischen Vorschläge Bernsteins handelt, scheint auch mir der Antrag annehmbar,« sagte ich. »Seine Theorien aber sind doch wohl kein Thema für eine öffentliche Volksversammlung.«
»Genossin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm,« hörte ich die schrille Stimme der rotäugigen Stickerin sagen. »Bernstein meent ja ooch, daß wir noch nich reif sind,« meinte eine andere mit einem giftigen Blick auf mich, »er is nischt als so'n verkappter Bourgeois, der uns zum St. Nimmerleinstag vertrösten will, damit's ihm nich an den Schlafrock jeht.«
Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die die Partei groß gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische Sicherheit, mit der die Partei in ihrer Presse ihre Ansichten vertrat; die verflachende Popularisierung der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die sie sie den Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die Äußerungen »bürgerlicher Wissenschaft« überschüttete, konnten keine andere Wirkung haben.
»Wie wär's, wenn Genossin Brandt das Korreferat übernähme?« fragte Ida Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich tätig war und infolgedessen zu einer weniger radikalen Auffassung neigte.
»Selbst wenn Sie das wünschen, müßte ich nein sagen,« antwortete ich rasch; »ich bin außer stande, theoretische Fragen zu beurteilen, die einen Mann wie Bernstein jahrelang beschäftigt haben, ehe er eine Antwort fand.« Rings um mich sah ich spöttisches Lächeln in den Mienen, Ida Wiemer senkte errötend den Kopf, als schäme sie sich für mich.
Tatsächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: Nur wer keck alles zu wissen und zu können behauptet, verschafft sich Ansehen in der Öffentlichkeit. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, die mir nicht vergessen werden würde.
Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus Hamburg, eine Zigarrenarbeiterin mit harten vermännlichten Zügen. Es fehlte ihr, auch in dem Klang der Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes Arbeitsleben von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung jede Weichheit genommen.
»Ich gehöre zu denen, die eine energische Zurückweisung der Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen nicht nur für notwendig, sondern für jede von uns, die im Besitze proletarischen Klassenbewußtseins ist, für möglich hält,« sagte sie. »Ich habe keine vornehme Erziehung genossen, wie die Genossin Brandt, aber meine fünf Sinne habe ich beieinander. Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium, daß Bernstein Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie niemals vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungstheorie kämpft, die niemals von uns propagiert worden ist. Wir verstehen unter Proletariat nicht diejenigen, die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen umherlaufen, sondern jeden, der abhängig ist vom Kapital. Und diese Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag und damit die Masse des Elends. Und ist die Zunahme der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und Mütter nicht ein weiterer, schlagender Beweis für die Zunahme des Elends? Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie verließen aus Vergnügungssucht, wie die Damen der Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!«
Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich vorgestoßenen Worte mit lebhaften eckigen Gestikulationen begleitete. »Ich weiß aber noch mehr: ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit ihm wächst, daß die Gleichgültigsten, wenn sie hungernd über den Jungfernstieg gehen, während hinter den Spiegelscheiben der feinen Restaurants die Protzen schmatzen und saufen, die Fäuste ballen lernen und weniger denn je von einem Techtelmechtel mit den schlauen Verführern der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen uns und ihnen gibt es nur Kampf, — Kampf bis aufs Messer, — bis zur Diktatur des Proletariats, vor dem der behäbige, gut genährte Herr Bernstein und seinesgleichen solch ein Grausen hat ...« Sie schwieg erschöpft; ihre Züge waren noch um einen Schein blasser geworden. Wanda Orbins Referat war gesichert.
»Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu Bernsteins Schrift?« Auf leuchtend gelben Zetteln prangte diese Frage an den Litfaßsäulen. Im Westen gingen die Spaziergänger achtlos daran vorbei. In der Friedrichstadt blieben Studenten mit unverkennbar russischem Typus nachdenklich davor stehen, während ihre deutschen Kollegen der Anzeige der Amorsäle ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im Norden und im Osten dagegen sammelten sich Gruppen von Arbeitern vor ihr, und in die Kneipen, in die Arbeitssäle und in die Wohnungen wurde die Frage weiter getragen. Als Wanda Orbin die Tribüne betrat, erwarteten nur wenige ihrer Zuhörer von ihr etwas anderes, als die Bestätigung der Antwort, die für sie selber schon feststand.
Sie verkündete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden Glauben an die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden Zukunftsstaates gegenüber der kühlen Beweisführung seiner langsamen Entwicklung; sie schürte den Haß wider die bürgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum Vertrauen allein auf die eigene Kraft des Proletariats. Zwischen ihr und der Zuhörerschaft entstand jene hypnotische Verbindung, durch die der Redner nur als Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder unter der Suggestion des Redners stehen. Sie war die Stimme des Volkes, das die Ketzer verdammte, die ihm nehmen wollten, was ihres Lebens einziger Reichtum, ihres Willens einzige Triebkraft war: den religiösen Glauben des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung, die nur Freunde und Feinde kannte, die kämpfen wollte, aber nicht paktieren, die im Eroberungskrieg das Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht aber die Hoffnung auf raschen Sieg.
Ein alter Mann saß neben mir. Er war müde gekommen; jetzt glänzten seine Augen, seine Wangen glühten, sein gebeugter Rücken richtete sich auf. An einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe junger Arbeiter; sie trommelten mit den breiten Fäusten auf den Tisch, und Haß und Lust und barbarische Kampfbegier leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel an der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige Studentinnen; aus ihren Blicken sprach jene Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen macht. Auch ich war erschüttert; was mein Verstand, mir selbst zum Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das drohten die Pfeile von der Rednertribüne zu zerstören. Aber dann vernahm ich schrille, falsche Töne, für die nur mein Gehör fein genug schien: die Rednerin verhöhnte die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung zu stellenden Motor in der revolutionären Bewegung. Sie überschüttete mit Spott jene »bürgerliche Intelligenzen«, die mit der »Gerechtigkeitsidee« ins weite Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen der Entsagung zurückgekehrt sind. »Nur der aus seinen Klasseninteressen entstehende Klassenkampf des Proletariats wird dem Sozialismus die Welt erobern.« Welche Motive hatten denn die Marx und Engels, die Lassalle, die Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? Waren sie nicht »bürgerliche Intelligenzen« gewesen, wie Wanda Orbin selbst? Mit frenetischem Beifall nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majestät entgegen, während mir die Schamröte in die Schläfen stieg. Als sie dann mit einer Stimme, die nur noch ein Kreischen war, weil nicht mehr das Feuer der Begeisterung, sondern weibische Rachsucht sie belebte, in den Saal hinausschrie: »Wenn die Gegensätze so schroff zutage treten, wie zwischen der Masse der Genossen und den Bernstein, den Heine, den David, den Schippel, so ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler Friede,« und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatschten, da wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen zu schichten imstande sein würde.
Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen worden war, wäre gewiß am klügsten gewesen. Der Wirbelsturm meiner Gefühle, der sich aus Bewunderung und Empörung, aus Schüchternheit und Angst zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion zu sprechen, jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte nicht feige erscheinen, ich mußte mit Wanda Orbin sprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer Gefolgschaft hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen.
Wir gingen noch in ein Kaffee, und schon auf dem Wege dahin sprach sie mich an: »Sie waren gegen mein Referat, hörte ich?« »Ja, und ich bin es nachträglich noch mehr, als vorher,« antwortete ich. »Das ist ja sehr interessant,« meinte sie spitz und wandte sich von mir ab. Ich war den Rest des Abends Luft für sie.
Wir verabschiedeten uns mit einer kühlen Verbeugung, und während sie, umringt von den Genossinnen, ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr ich allein nach Hause. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen Kreise der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als Gegnerin gegenüberzustehen, das bedeutete entweder mein Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen aufreibenden Kampf.
Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Hier draußen im Grunewald bedeckte eine feste Schneedecke Straßen und Gärten, tiefschwarz stiegen die Kiefern aus ihrer hellen Weiße empor; ihre dünnen, dürftigen Wipfel verloren sich im Nebel. Ich fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren meine schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit, drohende Gestalten hinter Baum und Busch, und hörte die Tritte Unsichtbarer hinter mir. Ich lief. Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unserem Garten blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen. Ich sah hinüber: Grau, düster, als wäre es selbst nur ein Gebilde des Nebels, schlief unser Haus zwischen den schwarzen Stämmen, die es umstanden wie lauernde Wächter.
Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir hatten hier noch keinen frohen Tag gehabt. Der Kleine schlief schlecht, — der Kiefernduft rege ihn auf, meinte der Arzt, — er war oft krank gewesen. Und zwischen mir und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf, immer höher und höher, wie eine trennende Mauer, in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da Bresche schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, — aus Rücksicht; wir hüllten unsere Seelen in den dunkeln Mantel des Schweigens, damit der Anblick ihrer Not nicht den anderen verletze. Daß einer den anderen überhaupt nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene Vorwürfe wirkten auf unsere Gefühle wie früher Frost auf entfaltete Rosen. Uralte Vorurteile, Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den Boden umklammern, wenn auch der Baum gefällt ist, nährten sie.
Unter der Schwelle des Bewußtseins lebte in mir, der Emanzipatorin ihres Geschlechts, die Vorstellung: daß der Mann, dem das Weib sich anvertraute, wie ein Schutzengel über ihrem Leben stehen müsse, daß er verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu hüten. Statt dessen hatte der meine — der Vorwurf wühlte in mir — sie über mich heraufbeschworen! Und in dem Grunde der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung meine Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß die Frau das Reich des Hauses zu regieren habe, daß ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken die Not von seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die seine nichts von alledem, und nur zu oft las ich in seinen sprechenden Zügen den Vorwurf: Du — du bist schuld.
Ein Licht, das im Erdgeschoß, wo die Köchin schlief, aufflammte, riß mich aus meinem Sinnen. Ich eilte der Gartenpforte zu. Da öffnete sich die Türe zum Kücheneingang, — »auf morgen!« hörte ich flüstern, ein Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun und ging, vor sich hinträllernd, die Straße hinab. Das Licht im Mädchenzimmer erlosch.
Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie ich ihn schon um diesen Schlaf beneidet hatte! Ihn suchte er auf, ich mußte ihn mir erst erzwingen! Heute wollte er sich überhaupt nicht festhalten lassen. Der Gedanke, daß ich morgen die Minna schelten mußte, peinigte mich: dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in Anspruch nahm, hatte ich doch noch kein Recht über ihre Person. Wie durfte ich verlangen, daß sie mir ihre Liebe opfern sollte? Und doch würde vermutlich die Konsequenz meiner Nachsicht nichts anderes sein, als daß sie ihren Liebhaber mit ernährte. Eine gute Hausfrau nimmt alle Schlüssel an sich, — die des Hauses wie die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht: Konnte ich einen fremden Menschen einsperren, wie einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles verschließen, als hielte ich sie von vornherein für eine Diebin? Wieder rollte sich durch einen geringfügigen Anlaß ein ganzes Problem vor mir auf. Ich grübelte ihm nach, über die kleinen Nöte meiner eigenen vier Wände hinaus, und fand keine andere Lösung als die radikalste: Vernichtung des patriarchalischen Haushalts, Entwicklung des Dienstmädchens, das unter ständiger Kontrolle steht, das Tag und Nacht dienstbereit sein soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise beschäftigt und entlohnt wird.
Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir selbst zurück. Die nächste Zeit stellte starke Anforderungen an mich: der Feldzug gegen den Zuchthauskurs sollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, — ich würde häufig abends fort sein müssen. Wenn ich doch irgend jemand hätte, der mich im Hause vertreten könnte. Aber die guten Hausgeister der Vergangenheit, — all die unbeschäftigten Tanten und Cousinen waren ausgestorben, hatten sich in selbständige Berufsarbeiterinnen verwandelt. Und meine Mutter?!
Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren Haushalt aufgelöst und war zu Erdmanns gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilse aufs Krankenlager geworfen, die Mutter war Pflegerin und Haushälterin zugleich gewesen. Durfte ich sie jetzt, wo sie selbst der Erholung bedürftig war, für mich in Anspruch nehmen?
Sie besuchte uns am nächsten Tag. Ottochen lief ihr entgegen. Er suchte immer noch den »Apapa« und weinte, wenn er nicht mitkam.
Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist, dachte ich erstaunt, als ich sie näher kommen sah. Mir war, als wäre sie sonst schwer und hart aufgetreten. Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepreßten Lippen wölbten sich plötzlich, wie von jungem Blut durchglüht.
»Nun kann ich reisen!« sagte sie mit einem Aufleuchten in den Augen. »Meine Pflicht Erdmanns gegenüber ist erfüllt, — sie wollen selbst so rasch als möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin ich frei —,« sie dehnte dies letzte Wort, als müßte sie es ganz auskosten.
Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erzählte von einem ganzen Stoß kunsthistorischer Bücher, die sie mitnehmen wollte. »Ich bin nie zum Lesen gekommen,« meinte sie; »wie viel hab' ich versäumt, wie viel kann ich nachholen!«
Ich sah sie verwundert an, wie eine Fremde: hatte sie mich nicht so und so oft aus der Lektüre herausgerissen, als ich noch daheim war, und mich neben sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas anderes gelesen als die Zeitung und hie und da einen Roman?
»Du bist erstaunt?« lächelte sie. »Du wirst es noch selbst erfahren, wie die Pflicht für andere zu leben uns Frauen fast bis zur Selbstvernichtung treiben kann.« Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich mußte sie gewesen sein, — und wie unglücklich gemacht haben, da sie fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die Ketten der Ehe getragen hatte!
»Im nächsten Winter werde ich mich hier in einer Pension etablieren,« fuhr sie fort, »du glaubst nicht, wie allein der Gedanke mich beruhigt, alle Haushaltsquälerei los zu sein!« Und sie war scheinbar in ihrem Haushalt aufgegangen!
»Was geschieht aber dann mit den Möbeln?« fragte ich, um nur irgend etwas zu sagen.
»Ich habe heute das letzte verkauft — —«
»Verkauft?!« Ich starrte sie entgeistert an. Wie?! Ohne uns, ihren Kindern, auch nur eine Mitteilung davon zu machen, hatte sie all die hundert lieben Dinge, die ein Stück Heimat für mich gewesen waren, achtlos in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch mit den geschnitzten Eulen, — den alten Stuhl davor, — die Reiterpistole! Ich strich mir mechanisch mit der Hand über die heiße Stirn, um den bösen Traum zu verscheuchen, — denn es war doch nur ein Traum!
»Auch die grünen Lehnsessel — und das alte Sofa, das in meinem Zimmer stand?« murmelte ich.
»Gewiß!« antwortete sie mit heller Stimme, aus der der scharfe ostpreußische Akzent mehr als sonst hervortrat. »Ihr alle habt, was ihr braucht, — das Gerümpel hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; — nur Silber, Glas und Porzellan ließ ich bei Ilse auf den Boden stellen. Ich habe lang genug all dies Schwergewicht mit mir gezogen.«
Mir schoß das Blut in die Schläfen: So strich sie Jahrzehnte ihres Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung! Schon hatte ich bittere Worte auf der Zunge. Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete mich. Mir war, als sähe ich plötzlich bis zum Grunde ihres Herzens. Dem Götzen der Pflicht hatte sie ihr Leben geopfert und wußte nun nicht einmal, wie groß ihre Sünde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem Dämmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und grüßte es, als sähe sie es zum erstenmal. Arme Mutter! Keinen Strahl deiner schon leise sinkenden Sonne will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im stillen ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen getragen hatte. Als ich sie zum Abschied küßte, liebte ich sie, — mit jener mitleidigen Liebe, die eine einzige Trennung ist.
Es war gut, daß sie ging, — für sie und für mich. Der Glaube, daß ihre Kinder keine materiellen Sorgen hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit dem sie die späte Freiheit genoß. Hätte ich sie zurückgehalten, ihr in meine Häuslichkeit Einblick gewährt, er wäre doch erschüttert worden. Ich mußte selbst mit mir und den Verhältnissen fertig werden.
»Eine Villa im Grunewald, —« wie oft hörte ich in den Kreisen der Parteigenossen mit einem mißtrauisch-hohnvollen Blick auf mich diese vier Worte flüstern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr gehörte, daß sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf uns lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren schließlich doch höher, als die Miete gewesen; Haus und Garten erforderten mehr Arbeitskräfte, als die kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen war auf Rentiers und Millionäre zugeschnitten, die den Grunewald allmählich bevölkert hatten. Noch mehr als früher war jeder Erste des Monats ein Schreckenstag für mich. Und wenn ich am Schreibtisch saß und meine Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren wollte, kamen die Sorgen grinsend aus allen Winkeln gekrochen und bohrten ihre Knochenfinger in mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwischen ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder spielte im Garten mit ihm, — denn über seinen Zauberkreis wagten sich die grauen Gespenster nicht.
Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen Augen von ihrer Freiheit sprach? »Lang genug hab' ich dieses Schwergewicht mit mir gezogen — —« Ein Schwergewicht, — eine Kette am Fuß, — so empfand ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügellos machte es mich und — alt, alt!
Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein Spiegel, Falten, und trübe Schleier über den Pupillen wie all jene Frauen, denen der jämmerliche Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber will nicht alt sein, schrie es in mir; noch braust und schäumt der Strom der Jugend in meinem Innern, der starke Strom, der Felsen höhlt und Riesen des Waldes entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten Kanäle zwang.
»Heinz, hab' einmal Zeit für mich,« sagte ich eines Abends. Wir saßen fast immer bis zum Schlafengehen arbeitend an unserem Schreibtisch. Gemeinsame Abende gab's für uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel im Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah von seiner Lektüre auf; ein helles Licht huschte über seine Züge. »Immer, mein Schatz — nur leider verlangst du nie danach.«
»Ich weiß, du hast es sehr gut gemeint,« begann ich stockend, »du hast nur meinen Wunsch erfüllen wollen, als du dieses Haus für uns bautest. Keiner von uns hat vorher gewußt, daß — daß es eine unerträgliche Last für uns sein würde — —«
»Aber, Alix, du kommst auf diesen vernünftigen Gedanken, du?!« unterbrach er mich. »Du könntest — du wolltest —?!«
»Das Haus verkaufen, — ja! Tausendmal lieber, als in dieser Angst weiterleben —« Mir stürzten die Tränen aus den Augen, trotz aller Selbstbeherrschung.
Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch Frauentränen nicht weicher, sondern härter werden. »Wozu die Tragik,« sagte er ärgerlich. »Wenn du einsiehst, was mir längst klar ist: daß wir über unsere Verhältnisse leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen sind selbstverständlich.«
Meine Tränen flossen nur noch stärker; ich hatte unwillkürlich so etwas wie ein Lob für meinen Opfermut erwartet. Erst allmählich kam ich zur Ruhe.
Wir saßen aneinandergeschmiegt wie in den ersten Zeiten unserer Ehe auf dem pfauenblauen Sofa und spannen neue Zukunftsträume, als wäre durch unseren bloßen Entschluß schon die Bahn für sie frei.
Wochen und Monde vergingen. Niemand fragte nach unserem Haus. Indessen zog mit blauem Himmel und heißer Sonne der Sommer ein, und auch unter den Kiefern lachten und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Grüne Ranken kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, vor allen Fenstern nickten rote Geranien. Und mitten in all der Pracht blühte mein Kind. Es spielte den ganzen Tag im Grünen, jeder Busch wurde ihm ein lebendiger Gefährte. Und wenn es droben im Giebelstübchen hinter den Blumenbrettern schlief, dann saßen wir noch lange auf der Altane und atmeten den würzigen Duft der Nacht und genossen der zauberischen Ruhe des Waldes. Ich fing an, dies Stückchen Erde zu lieben: es hatte meinem Sohn eine Heimat werden sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen Winkel.
Nichts ist gefährlicher für den Altruismus, als die mit Egoismusbazillen gefüllte Luft häuslicher Gemütlichkeit. Nur die ganz Starken, Widerstandsfähigen entziehen sich der Ansteckung.
Die Vorkämpfer der Menschheit waren fast immer die Heimatlosen.
Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an der agitatorischen Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar Abende hintereinander zu sprechen, so versagte meine Stimme. »Sie dürfen sich niemals in Rauch und Staub aufhalten,« sagte dann der Arzt und verordnete mir Schweigen und frische Luft. Meine robusten Genossinnen, für die die Atmosphäre der Versammlungssäle nicht schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer überfüllten Werkstätten und Fabrikräume, hielten mich für schulkrank und mißtrauten mir mehr noch als früher.
Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein gegründet, — einen Notbehelf, da das Gesetz den Frauen die Teilnahme an politischen Organisationen untersagte und seine Handhabung den Arbeiterinnen gegenüber besonders streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck; die Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach geistiger Aufklärung aller Art, und es war für mich eine Erfrischung, seinen Zusammenkünften beizuwohnen. Zwei Abende war schon über Erziehung gesprochen worden, und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit wie viel Eifer diese armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe als Mütter erfaßten.
Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. Er war in bezug auf die geistige Entwickelungsmöglichkeit der Frauen sehr skeptisch, und so sehr er aus rein ökonomischen Gründen die Frauenbewegung für notwendig anerkannte, so war sie ihm doch nur eine traurige Notwendigkeit; was sie erstrebte, erschien ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bildungshunger der »Waschfrauen und Näherinnen« hielt er nun gar für eine meiner unverzeihlichen Illusionen. Ich wollte ihm einmal statt Gründe Beweise liefern. Und allmählich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine, adrett gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium. »Mein Mann ist Maschinenschlosser,« sagte sie, »wir haben nur zwei Kinder und soweit unser Auskommen, so daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt: Der soll was Besseres werden als seine Eltern, der soll auch mal wissen, wie schön und wie reich die Welt ist, und nicht, wie wir, bloß durch so'n schmales Guckloch ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe ich wieder in die Fabrik, und der Fritze geht dafür aufs Gymnasium. Ich will mich nicht rühmen, daß ich's tu', ich möcht' nur jeder raten, es ebenso zu machen.«
In jener Impulsivität, die ich so sehr an meinem Mann liebte, stand er auf, um der tapferen kleinen Frau, die wieder ihrem Platz zuschritt, die Hand zu drücken. Romberg dagegen sagte: »Meinen Sie, daß der ›Fritze‹ als Geistesproletarier glücklicher sein wird!?« »Auf das Glück kommt es nicht an, sondern auf den Grad der sozialen Leistung, und die wird größer sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,« antwortete ich rasch.
Ein junges Mädchen trat an unseren Tisch. »Genossin Brandt?« forschend sah sie mich an. — »Die bin ich.« — »Ich wollte Sie nur mal was fragen. Ich bin nämlich Dienstmädchen gewesen und habe eine Freundin, die noch Köchin is, und die hat mich neulich in den Dienerverein mitgenommen, wo sie jetzt wollen auch die Mädchens aufnehmen. Sie schimpfen aber dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal wissen, ob Sie nich mal könnten hinkommen —«
»Sie werden doch nicht!« flüsterte mir Romberg zu. »Verpflichte dich zu nichts,« sagte mein Mann leise.
»Selbstverständlich komme ich,« entgegnete ich der zaghaft vor mir Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich; wir verabredeten alles weitere.
Beim Heimweg schalt mein Mann: »Du läßt dich von jeder beschwatzen, und alle spekulieren schließlich auf deine Gutmütigkeit.«
»Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung den Anlaß gibt, so wirst du anders denken.«
»Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in der Gesellschaft seh,« meinte Romberg. Er sah mich mit einem Blick an, der mich erröten machte. Wie töricht, — dachte ich gleich darauf, zornig über die eigene Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend über im Bann jener Frauenfreude, die belebend wirkt wie prickelnder Champagner: der Freude an der Bewunderung. Alix von Kleve stieg aus der Versenkung ernster Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten Triumphen. In meinen Verkehr mit Romberg trat ein neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das Weib in mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante Persönlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher Erfahrung die Beleidigten spielen. Sie lügen.
»Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von Romberg die Kur machen läßt,« grollte Heinrich, als wir zu Hause waren, zwischen Scherz und Ernst. Ich flog ihm in die Arme. »Hast du mich wirklich so lieb?« lachte ich. Er zog mich stürmisch an sich: »Dich, dich hab' ich lieb,« flüsterte er leidenschaftlich, »das süße Katzel, — meinen Schatz; — die berühmte Frau kann mir gestohlen werden ...«
In der ersten Morgenfrühe weckte mich ein wilder Schrei. »Aus Minnas Stube,« — sagte ich mir und stürzte hinunter. Sie lag in ihrem Blut, und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel: sie hatte gewaltsam die Folgen ihres Liebesverhältnisses beseitigen wollen.
An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage. Sie faßte Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von diesem armen Leben, das von Kindheit an unter fremden Leuten in ständiger Unfreiheit, in ununterbrochener Dienstbarkeit verflossen war. »Was muß unsereiner doch auch haben, — was fürs Herz. Und wenn ich nicht getan hätte, was er wollte, — dann wär' er fortgegangen, — dann hätte er zehn für eine gefunden,« schluchzte sie.
»Warum heirateten Sie nicht?« wagte ich einmal einzuwenden. »Heiraten?! Womit denn?! — Arbeit hat mein Franz keine, — meine paar Spargroschen gab ich ihm, — und vor so einer Jammerwirtschaft in einem Loch auf'n Hof mit'n halb Dutzend Göhren graut's mich ...« Sie wurde von Tag zu Tag elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er hörte, daß sie krank sei, kam er nicht wieder. Ich mußte sie schließlich der schweren Pflege wegen, die ihr Zustand nötig machte, ins Krankenhaus bringen. Dort starb sie.
»Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten und Herrschaften wieder herstellen ...« — »die Dienstboten allein können nichts erreichen, es gehören auch die Herrschaften dazu ...« — »den Arbeitern fehlt es heute an tüchtigen Hausfrauen, weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in Stellung gehen, wo sie sich dazu vorbereiten könnten ...« Das waren die Leitmotive, unter denen die Versammlungen tagten, die der Dienerverein veranstaltete. Die wenigen weiblichen Dienstboten, die ihm schon angehörten, schlugen zwar zuweilen eine schärfere Tonart an, wenn die Erinnerung an all die erlittene Unbill sie überwältige, aber sie trugen schwarzweiße Kokarden und verwahrten sich nachdrücklich dagegen, mit der Arbeiterbewegung irgend etwas gemeinsam zu haben.
Ich verhielt mich während der ersten Versammlungen nur als Zuhörerin und erkannte bald, daß es dem Verein an Mitteln und Mitgliedern fehlte und er offenbar nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher Dienstboten diesem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürchtete er schon, die Geister, die er gerufen, nicht los zu werden, denn sobald ein Mädchen ihre Erfahrungen gar zu rückhaltlos zum besten gab, trat irgendein Beschwichtigungsapostel ihr entgegen.
»Ich stelle den Antrag, daß wir uns der entstehenden Dienstbotenbewegung mit allem Nachdruck annehmen,« sagte ich, als ich wieder einmal mit den Genossinnen zusammenkam; »in jeder Versammlung müssen einige von uns anwesend sein. Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um diese rechtlosesten unter den Arbeiterinnen zum Bewußtsein ihrer Klasse zu erziehen. Wir müssen so bald als möglich eine selbständige Organisation gründen, damit sie dadurch dem Einfluß dieses grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen bleiben.«
Aber je lebhafter ich sprach, desto kühler und zurückhaltender waren die anderen. »Genossin Brandt scheint nicht zu wissen, daß die Dienstboten kein Koalitionsrecht besitzen —,« meinte Martha Bartels naserümpfend.
»Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um so mehr unsere Verpflichtung, ihnen zu helfen, ihnen das Rückgrat zu stärken,« entgegnete ich heftig.
»Die Dienstmädchen sind noch längst nicht reif für unsere Bewegung, — überlassen wir sie ruhig sich selbst,« sagte eine andere.
»Damit sie den Nationalsozialen in die Hände fallen, die ihre Netze auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang erwarten dürfen,« antwortete ich, und unterdrückte noch rasch eine Bemerkung über die Schädlichkeit dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung der ökonomischen Entwicklung, der uns in geeigneten Momenten die Hände in den Schoß legen läßt.
»So werde ich denn allein mein Heil versuchen,« erklärte ich schließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, und verließ die Sitzung.
Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung. Mit bunten Sommerhüten und hellen Blusen füllten die während der Reisezeit der »Herrschaften« dienstfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerst kamen nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe trugen und zuweilen vornehmer aussahen wie ihre »Gnädigen«. Sie betrachteten die Sache fast wie eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den Männern, die hier auf Abenteuer ausgingen. Aber allmählich überwogen die älteren, die von zehn und zwanzig und dreißig Dienstjahren erzählen konnten, und die Armen, die Mädchen für Alles waren, auf deren schmale Schultern die gut bürgerliche Hausfrau die Lasten des Lebens abzuwälzen sucht. Und ihre Klagen wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und Lachen verstummte vor den Bildern des Grams, die sich enthüllten.
Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln Hängeboden über der Küche beneideten, weil sie nichts hatten als ein Schrankbett auf dem offenen Flur oder eine Matratze im Baderaum: »Dabei wird unsere gute Stube nur zweimal im Jahre für die große Gesellschaft geöffnet ...«
Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: »Eine Stulle mit Schweineschmalz am Abend, — während der Herr drinnen Rotwein trinkt zu fünf Mark die Flasche ...«
Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... Wir schrubbern und kochen, während die Herrschaft spazieren geht, ... wir hüten die Kinder, während sie tanzen ...«
Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und Gutmütigen: »Nur ein wenig geregelte Arbeitszeit, — und freundliche Worte statt des ewigen Zanks, — dann wollen wir gern dienen, wollen treu und fleißig sein.«
Sie waren wie aufgescheuchte Vögel, die ohne Richtung hin- und herflattern. Als ich zum erstenmal vor ihnen zu reden begann, hielten sie mich für eine »Gnädige«. »Nu aber jeht's los!« rief kampflustig eine rundliche Köchin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen, den Ausnahmegesetzen für die Dienstboten, die sie den Dienstgebern fast rechtlos in die Hände liefern, von der erlaubten »leichten« körperlichen Züchtigung, von den vielen Gründen zur Entlassung ohne Kündigung und schließlich von einer jener Schöpfungen der preußischen Reaktion, die den Streik der Dienstboten mit Gefängnis bestraft. Noch hörte man mir ruhig zu, unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern würde. Nur der Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit »das Hausrecht übernahm«, sah beunruhigt zu mir auf.
»Für Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands gesamte Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz gewesen,« rief ich laut.
»Eine Sozialdemokratin!« kreischte neben mir eine Frau in hellem Entsetzen. Ein unbeschreiblicher Lärm erhob sich; auf die Tische sprangen die Mädchen in hysterischer Erregung, schrieen und winkten mit den Taschentüchern; eine von ihnen drängte sich neben mich, ballte die Fäuste und rief schluchzend: »Wir sind königstreu! Wir sind gottesfürchtig!« Hilflos, mit angstgerötetem Gesicht schwang der Vorsitzende unaufhörlich die Glocke. Aber in der nächsten Versammlung erwarteten mich schon ein paar Mädchen an der Türe: »Sie werden sprechen, nicht wahr? — Wir werden Ihnen Ruhe verschaffen!«
Und im überfüllten Saal waren außer den Dienstboten: Neugierige, Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, Journalisten mit der frohen Erwartung einer in möglichst vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation. Auch ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und Marie Wengs. »Wir greifen ein, wenn's not tut,« sagten sie, »nur tapfer!« Bis um Mitternacht ließ mich der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im Saal umher, von Tisch zu Tisch. »Das ist Recht und Freiheit im Dienerverein,« sagte ich. Jemand rief: »Alix Brandt soll reden!« und der Ruf pflanzte sich fort und dröhnte schließlich durch den Saal. Als ich aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges Zischen; die Kraft meiner Stimme kämpfte dagegen an, und wie ein Unwetter in der Ferne verklang es.
»Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung, als ob auf verunkrautetes Feld frischer Samen gesät werden sollte. Es gibt nur eine Forderung, die Sie stellen dürfen: ihre Abschaffung, damit Sie den Arbeitern gleichgestellt werden —«
»Wir sind keine Arbeiterinnen, — wollen keine sein!« rief ein zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken entrüstet.
»Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und Dienstboten, und doch gibt es zwischen ihnen ebensowenig eine Interessengemeinschaft wie zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer —«
»Unerhört!« — Ein paar Damen mit hochrotem Gesicht drängten sich zur Türe. Die Mädchen lachten hinter ihnen: »Sie können die Wahrheit nicht vertragen!«
»Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen sind Sie und desto bessere Dienstboten im Sinne der Hausfrauen ... Sie wollen statt der endlosen eine beschränkte Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines, zwei und drei Mädchen für dieselbe Arbeit anzustellen. Sie wollen statt einer Schlafstelle ein Zimmer, das ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie tun recht daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen und ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen nicht imstande, sie Ihnen zu geben. Sie wollen — lassen Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch nicht ausgesprochen haben — Sie wollen mit Ihren Freundinnen verkehren können, Ihren Bräutigam sehen, ohne auf die Straße, auf die Tanzböden gehen zu müssen —«
»Unglaublich!« — Und wieder leerte sich der Saal um zahlreiche elegante Zuhörer.
»Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entrüstet gebärdet, den frage ich: was empört sich in Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es sittlich, junge, lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasselbe Recht haben wie die höheren Töchter, denen die Natur dasselbe Verlangen nach der Erfüllung ihrer Geschlechtsbestimmung verlieh wie diesen, auf Hintertreppen, auf Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweisen, statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ..?«
Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um das Podium scharten sich junge Gestalten und leuchtende Augen hingen an meinen Lippen.
»Es ist vielmehr der natürliche Egoismus, der Interessengegensatz der Hausfrauen zu den Dienenden, der auch die Wohlwollenden unter ihnen zwingt, fremden Gästen ihr Haus zu schließen ... Wir werden für die Gegenwart eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung im Interesse der Dienenden zu stellen haben, deren Erfüllung viele Mißstände beseitigen wird. Aber der Dienst des Hauses wird nur dann den Charakter des Sklavendienstes verlieren und zur Würde selbständiger Arbeit sich entwickeln, wenn das abhängige Dienstmädchen sich in die freie Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft nur stundenweise verkauft, die imstande ist, in Reih und Glied mit dem in der Sozialdemokratie organisierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu kämpfen ..«
Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen und Schimpfworten.
Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. Die Versammlungen wurden ruhiger, sachliche Beratungen der aufzustellenden Forderungen wurden ermöglicht.
Der Lärm tobte statt dessen außerhalb der Säle weiter. Die Presse schrie nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen nahmen geharnischte Resolutionen an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren Dienstboten den Besuch unserer Zusammenkünfte zu verbieten. Alles war von der Angst ergriffen, daß mit der Dienstbotenbewegung die Intimität des Familienlebens der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich, die ich diese Gefahr über die ruhigen Bürger heraufbeschworen hatte, konzentrierte sich der persönliche Haß. In allen Tonarten wurde ich beschimpft und verleumdet. Und selbst nahe Freunde, aufgeklärte, freidenkende Menschen, sprachen mir mündlich und schriftlich ihre Mißbilligung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei in leidenschaftliche Erregung.
»Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung geleitet haben, wird das ›traute Familienleben‹ überfluten. Was dann?!« schrieb mir Romberg.
Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den Vorgängen in Berlin. »Immer wieder zerstörst Du durch die Maßlosigkeit Deiner Forderungen ihren nützlichen Kern und machst Dir und Deiner Sache die wohlwollendsten Menschen zu Feinden,« hieß es in einem Brief von ihr. Tags darauf folgte ihm ein zweiter, dem ein Schreiben meiner augsburger Tante beigelegt war. »Nach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin ich außerstande, an Alix persönlich zu schreiben. Ich habe sie bisher immer verteidigt, habe ein Auge zugedrückt, wo ich konnte, aber ihre unverantwortliche Aufhetzung der Dienstboten, — denen es im Grunde nur zu gut geht, — werde ich weder verstehen, noch verzeihen können. Teile ihr das in meinem Namen mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne Eindruck auf sie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, die Grainauer Bauern, empört über sie sind ...« Ich lächelte unwillkürlich: wenn ich von der Unfreiheit des Gesindes sprach, mußten sie sich getroffen fühlen.
Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar: Ich hatte in Gedanken an das reiche Erbe der Tante nie auch nur einen Bruchteil meiner Überzeugungen preisgegeben, die Selbständigkeit meiner Entschließungen war nie durch sie beeinflußt worden. Jetzt aber besaß ich einen Sohn, dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in Frage stand, — seine Eltern hatten nicht das Zeug dazu, Kapitalisten zu werden! — und ich wußte nur zu gut, was es heißt, unter dem Druck ständiger Sorgen zu leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten, wie ungehindert er seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen kann, der an das Dach über dem Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich schrieb an Tante Klotilde und versuchte, ihr meine Stellung zur Dienstbotenfrage auseinanderzusetzen. Ich bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner Mutter teilte sie mit, daß sie das Geschehene vergessen wolle, wenn ich nach dieser Richtung auf meine agitatorische Tätigkeit verzichten würde.
In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der ›Freiheit‹, daß die Genossinnen verpflichtet seien, sich der Dienstbotenbewegung anzunehmen. Wenn sie schon ohne besonderen Beschluß immer häufiger in den Versammlungen erschienen, so war dies das Signal zur Änderung ihrer Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die Veranstaltung selbständiger Versammlungen wurde beschlossen, und zur Rednerin wurde ich bestimmt. Ich zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Interesse, das meines Sohnes, wenn ich zusagte?
»Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie zu verstehen,« sagte mein Mann. »Wie er sie beantworten wird, kann ich dir jetzt schon sagen: Meine Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Überzeugung opfern.«
Und ich sprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit wuchs mit jeder Versammlung. Mit einer gewissen Ostentation zogen sich die Menschen von mir zurück. Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr aufzuhalten. Wäre ich weise genug gewesen, der fachliche Erfolg allein hätte mich befriedigt. Aber noch war ich zu jung, war zu sehr Weib, um den Menschen und den Ereignissen mit der kühlen Objektivität reifer Politiker gegenüberstehen zu können. Im Grunde sehnte ich mich nach einem warmen, aufmunternden Wort seitens meiner Kampfgefährten, nach ein wenig freundlicher Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir stets mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. Zu keiner einzigen entstand ein persönliches Verhältnis; je länger ich mit ihnen arbeitete, desto fremder schien ich ihnen zu werden.
»Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem Herzen und ganzer Kraft,« hätte ich sagen mögen, »warum stoßt ihr mich zurück?«
Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen mir immer wieder begegnete. Und nachher hörte ich, daß man über meinen Hochmut, meine Unnahbarkeit schalt. Im stillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu vorgeschlagen. Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung: »Wir bleiben natürlich dem Grundsatz treu, nur bewährte Genossinnen mit einer Delegation zu betrauen.« Darauf wurde die große, hagere Frau Resch gewählt; sie trug schon seit Jahren unermüdlich Flugblätter aus, und ihr Mann war eine Größe in der inneren Bewegung.
»Was kümmerst du dich um die Weiber!« meinte mein Mann ärgerlich, als ich ihm klagte. Und Ignaz Auer, der uns an einem schönen Septembersonntag besuchte, wiederholte dasselbe.
»Glauben Sie mir altem Knaster,« meinte er, und sein schönes blasses Gesicht nahm jenen rätselhaften Ausdruck an, der aus Sarkasmus und Melancholie zusammengesetzt war, »glauben Sie mir: solange ich denken kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakehl, und wenn ich schon lange modere, wird's ebenso sein. Sie haben alle Untugenden der Unterdrückten in konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie die Wanda, ständig die Knute, so hat man verspielt. Seien Sie versichert: schon Ihr Aussehen vergeben Ihnen die Weiber nie.«
»Und doch sind Sie als Sozialdemokrat für die Gleichberechtigung der Geschlechter?« wandte ich ein. Er wehrte ab, mit einer vollendet geformten starken Männerhand, die aber durch ihre Blutleere an die eines Toten gemahnte. »Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!« sagte er. »Nach der Richtung hat die Wanda recht, wenn sie den Auer mit dem Bernstein, den Schippel und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für die Bewegung als für das Endziel.« So waren wir wieder bei dem Thema angelangt, in das jede Unterhaltung zwischen Parteigenossen zu münden pflegte.
»Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung bringen,« meinte ich im Laufe der Unterhaltung.
»Eine Klärung?!« Er lachte kurz auf. »Ich muß Genossin Bartels wirklich recht geben: Sie sind noch nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, so tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden des Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und der Lebenslage beruhen, ließen sich durch bloßes Handaufheben entscheiden?! Wir werden sie auch mit zehn Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder füge ich hinzu: Gottlob nicht! Es wäre nur ein Zeichen von Altersschwäche, wenn wir alle ja schrien. Die Hauptsache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und um die ist mir nicht bange, — die zwingen uns unsere Gegner auf.«
»Die Meinungsverschiedenheiten wären gewiß kein Unglück, wenn nicht die Unduldsamkeit hinzukäme,« sagte mein Mann.
»Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir die eigene Ansicht für die richtige halten, so müssen wir doch konsequenterweise die falsche des Gegners bekämpfen,« entgegnete Auer. »Nur daß der Andersdenkende immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt wird, — das ist bitter.« Er verabschiedete sich. Er fürchtete sichtlich, sich zu Klagen und Anklagen hinreißen zu lassen. An der Gartentür blieb er stehen, ein spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen: »Wenn Sie übrigens ein Mandat haben wollen, Genossin Brandt, — ich verschaff' es Ihnen. Die liebe Wanda und ihre Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie müssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden Kreis verpflichten.« Ich schüttelte den Kopf. Mir widerstrebte die Sache.
»Nimm's an, Alix,« mahnte mein Mann, »so zeigst du am besten, daß du von der Gnade der berliner Frauen nicht abhängig bist.«
»Sie können's tun, — ganz ohne Gewissensbisse. Sowas haben auch die obersten Halbgötter nicht verschmäht.« Zögernd sagte ich zu. Es war mir nicht wohl dabei, so sehr ich auch gewünscht hatte, einem Parteitag, und vor allem diesem, beizuwohnen.
Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zurück. Sie schien um ein Jahrzehnt verjüngt. »Ich bleibe bei dem Kleinen, während ihr fort seid,« sagte sie; »das wird mein bedrücktes Gewissen etwas erleichtern, — nach diesen selbstsüchtigen Monaten!«
Wir mußten ihr nun auch von unserer Absicht, das Haus zu verkaufen, erzählen. »Das ständige Hin- und Herfahren zerrüttet unsere Nerven,« sagte ich leichthin, »ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit verzichten, wenn wir draußen bleiben wollten.«
Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller Frage. »Es ist wirklich so, Mamachen —,« versicherte ich lächelnd. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf und fragte nichts mehr.
Zwischen schmalen Gassen und engen Höfen, fern jenem modernen Teil der Städte, der auch in Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist, liegt eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. Vor Zeiten warfen hier Kurfürsten, Prinzessinnen und Könige einander im graziösen Spiel ihre Bälle zu, bis mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam, dem Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume suchten die Fürsten für ihre Freuden; er nahm für seine Arbeit, was sie übrig ließen: die dunkle Halle. Mit frischem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen Wände. Das Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen lachte die Oktobersonne, drinnen brannte über den langen Tafeln künstliches Licht, das auf alle Gesichter scharfe Schatten zeichnete, sodaß sie finster und feindselig erschienen. Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem der Jahrhunderte war hinter den winzigen Fenstern gefangen geblieben. Er beengte die Brust.
Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der Saal schon gefüllt. Anschwellendes Stimmengewirr, Stühlerücken, Rascheln von Papier, — jenem Papier, daß alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszuströmen vermag, — bildete die in ihren ungelösten Disharmonien aufreizende Ouvertüre. Zeitungsblätter wurden hin- und hergezeigt: »Bernstein Apostata« stand über dem einen Artikel, »Reinliche Scheidung« über einem zweiten; »wir werden mit dem Revisionismus fertig werden, oder wir sind fertig,« hieß es an einer rot angestrichenen Stelle, »die Genossen im Reich erwarten eine klare Entscheidung,« an einer anderen. Von der unausbleiblichen Spaltung der Partei sprachen frohlockend bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern begrüßten Kathedersozialisten die Anhänger Bernsteins als die ihren.
Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer war anwesend, das Präsidium also von vornherein in guten Händen. Die Begrüßungsreden der Ausländer dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, wo der Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses stand, wo Millerand, der Sozialdemokrat, mit Jaurès', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher Zustimmung das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium einzutreten, — Seite an Seite mit Gallifet, dem Mörder der Kommune, — war nicht vertreten. Des alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits der Vogesen mochte an dieser Zurückhaltung nicht ohne Schuld sein.
Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast wurde ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des Parteitages zu. Und selbst mitten in die nebensächlichsten Debatten hinein blitzte schon das Wetter der kommenden Tage.
»Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem Scheiterhaufen —,« sagte einer der Revisionisten neben uns.
Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Besprechung zusammenkamen, fühlte ich: in Gedanken war die »reinliche Scheidung« schon vollzogen. Wir berieten einen Antrag für den Arbeiterinnenschutz, der unserer nächsten agitatorischen Tätigkeit Inhalt und Richtung geben, und dessen Forderungen durch den Parteitag sanktioniert werden sollten. Im Grunde waren es lauter Selbstverständlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich wie vor einer Mauer redete und sie hatten ihn nicht ablehnen können, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen. Dafür waren sie um so hartnäckiger, als ich die Unterstellung der Dienstboten unter die Gewerbeordnung in den Antrag aufzunehmen empfahl. Das steht bereits in unserem Programm, hieß es. Aber viele unserer anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade jetzt wäre es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung solidarisch zu erklären. »Wir dürfen unsere Kräfte nicht verzetteln.« — Damit war die Sache abgetan.
Die Frauen rückten nach der Besprechung freundschaftlich zueinander, unterhielten sich mit wohltuender Herzlichkeit mit all den Genossinnen, die aus Ost und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen ein scheuer Gruß, ein fremder Blick; — ich ging hinaus.
In unserem Gasthof fand ich die Führer in erregte Unterhaltung vertieft. Ihre Augen glühten in jugendlichem Feuer, selbst die Ausbrüche ihrer Leidenschaft bändigte der heilige Ernst, mit dem sie alle für ihre Sache kämpften. Bebel war am stillsten; immer wieder strich er sich nervös die widerspenstige Locke aus der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung der kommenden Tage.
Kalt und grau brach der nächste Morgen an. Im Ballhof kämpften die elektrischen Lampen umsonst gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je heller in ihrem direkten Strahlenkreis das Licht erschien. Nur langsam füllte sich heute der Saal, und nur wenige Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung. Singer betrat das Podium:
»... zur Verhandlung steht Punkt 4 der Tagesordnung: ›Die Angriffe auf die Grundanschauungen der Partei‹. Das Wort hat der Berichterstatter Genosse Bebel.« Noch ein heftiges Stühlerücken, dann tiefe Stille.
Bebels Stimme allein beherrschte den Raum.
Im Gesprächston begann er, ruhig, fast gemütlich. Jeder Zuhörer fühlte sich unwillkürlich persönlich angeredet. Selbst als er die unbeschränkte Freiheit der Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebenslust der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie einen Fehdehandschuh in die Menge, sondern sprach im Tonfall der Konstatierung einer Selbstverständlichkeit. Die Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung, der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von vornherein aus, — »der Kongreß ist kein wissenschaftliches Konzil,« sagte er, — um zum Problem des Entwickelungsprozesses der kapitalistischen Gesellschaft überzugehen, das Bernstein anders darstellte als Marx und Engels. Eine Fülle statistischer Berechnungen schüttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu entkräften, um festzustellen, daß das marxistische Dogma von der Zuspitzung der wirtschaftlichen Gegensätze, von der relativen Verelendung des Proletariats noch unerschüttert ist.
Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials, an der die große Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit mißt, wie sie an der Häufigkeit der Zitate den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein Flüstern staunender Bewunderung durch die Reihen, das sich in einem »sehr richtig«, einem »hört, hört« wieder und wieder Luft machte.
Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden lebhafter, seine kleine Gestalt reckte sich. Er malte die Not des Proletariats. Die grollende Leidenschaft dessen, dem das Elend Auge in Auge gegenübertritt, zitterte in seinen Worten, und klein und jämmerlich erschien dagegen, was Bernsteins nüchterne Schreibstubenweisheit von der gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten gewußt hatte.
Wie der peitschende Ostwind über die Baumwipfel, so wehte seine Rede über die Köpfe. Und sie neigten sich gedankenschwer, sie wandten sich einander zu; sie hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf, emporgerissen. Da und dort stand einer auf, wie magnetisch angezogen von dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe Menschen umringte die Rednertribüne.
Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der in den Ästen rauscht, — es war der Sturm. Die jugendstarke Kraft des Revolutionärs, die begeisterte Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste in den Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus, all der unschlüssige Zweifel, all die resignierte Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die Seelen belastet hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. Und wie der Geisterbeschwörer aus dem Nebel Gestalten entstehen läßt, so entwickelte sich unter dem Zauberstab des Redners die Erscheinung des alten Marx. War er es wirklich? Seltsam, — uns allen, die wir aufmerksam zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche Farben zu diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider ihn gesagt hatte, das nahm Bebel für ihn in Anspruch: Die Elendstheorie hat an den Tatsachen Schiffbruch gelitten, sagte Bernstein, — nie hat Marx sie im Sinne des absoluten Niederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der Hinweis auf die Erlöserkraft der Revolution ist vom Übel, sagte Bernstein, — auf die Evolution hat Marx schon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil im Straßenkampf gesehen, erklärte Bebel. Und während er sein Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen im Begriffe standen, traf es auch die Inquisitoren, die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager zielten.
Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie Steine von einem Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, — jeder die scharfe Kante feindselig wider den anderen gekehrt, — schien wieder ein Marmorbruch, aus dem er planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern zusammenschließen ließen.
Fünf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm seiner Rede wieder dem ruhigen Gesprächston; sich selbst zurückgegeben, atmete die Menge tief und gesättigt auf. Noch einmal, wie der letzte ferne Donner des Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschwächter Kraft: »Unsere Grundanschauungen sind nicht erschüttert, — wir bleiben, was wir waren —.« Tobender Beifall verschlang den Schluß.
Minutenlang stand der nächste Redner, Eduard David, an Bebels Stelle, ehe seine Stimme den Lärm durchdrang. »Ich habe den Mut, auch nach Bebels Referat, Bernstein in seinen Anschauungen zuzustimmen,« sagte er. Irgendwo zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis unterdrückte rasch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, fast nüchtern sprach er; wer ihn auch nicht kannte, empfand: er kam mitten aus der Praxis des politischen Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der Tradition der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem Märtyrertum, ihrer Glaubensseligkeit. Er ließ das grelle Licht des Tages auf die durch Bebel beschworene Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr stand der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegensätze verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners niedergetrampelt hatte, da malte er sie groß und deutlich, wie der Lehrer die Rechenaufgaben vor der Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht blind war, konnte sich ihnen verschließen. Und er rief in die Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln seiner Phantasie in die Zukunft getragen hatte. »Die höhere prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit, — das ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist mehr wert, als was er uns genommen hat,« erklärte er und verkündete gegenüber der einseitigen Betonung des Kampfs um die politische Macht — als des einzigen Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen — die Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen, der politischen Bewegung, die durch tägliche Arbeit dem Sozialismus einen Fußbreit Erde nach dem anderen erobern.
Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck trat an Stelle der Begeisterungsglut, die Bebels Rede angefacht hatte, auf die Gesichter, und über die Geister herrschten wieder, an Stelle des großen einigenden Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen Politik.
Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns überlassen, das mich momentan überwältigt hatte? Entsprang nicht jenes instinktive Festhalten an den überkommenen Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im Konservativismus, wie in Denkfaulheit und Bequemlichkeit geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer sein wollten, waren verpflichtet, sie zu überwinden.
Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer ein Kampf der Meinungen blieb. Und das »Kreuzige!« tönte am lautesten vom Munde der Frauen. Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise Zehringer, die Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte es; eine kleine polnische Jüdin, die eben erst in die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte mit der Sicherheit einer Parteiautorität die Ansichten und Handlungen bewährter Führer. Und die Masse klatschte ihr Beifall. »Sehen Sie, — das ist eine Politikerin,« sagte ein Journalist, »je respektloser sie die Auer und Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr Erfolg.«
Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei sich voneinander ab; über dem tiefer und tiefer wühlenden Streit vergaßen auch die Leichtsinnigsten die Vergnügungen des Abends; Sitzungen wurden statt ihrer abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es schien, als würden die Radikalen vor dem äußersten nicht zurückschrecken. Die uneingeschränkte Anerkennung des Parteiprogramms wollten sie fordern, wie der orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum. Und jeder begann im stillen die große Abrechnung mit sich selbst.
Zum ersten Mal kam mir zum Bewußtsein, was all die Jahre hindurch die unbekannte Quelle meiner Kämpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache forderte den ganzen Menschen restlos, ich aber wollte im Kampfe für sie ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit schien mir, als ob zuletzt kein anderes als dies Problem all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag.
»Warum bist du so stumm?« fragte mein Mann, als wir in der Mittagspause zusammensaßen.
»Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, Genosse zu sein. Ich bin ja auch kein Christ —.« Verständnislos, ein wenig erschrocken, als zweifle er einen Augenblick an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich mich an. Ich legte meinen Arm in den seinen. »Hab keine Angst, Liebster, — ich dachte niemals klarer als jetzt! Hingabe an den Willen Gottes bis zur Selbstentäußerung fordert das Christentum, Hingabe an den Willen der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser Forderung und dem Persönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, das weiß ich im Augenblick ebensowenig, als wir es in der Partei wissen.«
»Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,« entgegnete Heinrich erregt, »nicht an den Willen, sondern an das Wohl der Massen wird die Hingabe verlangt.«
»Und doch verlangt Ihr als etwas Selbstverständliches das Opfer der Überzeugung,« unterbrach ich ihn.
Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosität, die alle ergriffen hatte und manche jener robusten sehnigen Arbeitergestalten tragikomisch erscheinen ließ, rissen die Delegierten den austeilenden Ordnern die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels Resolution in neuer Fassung. Wir verglichen.
»... Nach alle diesem liegt für die Partei kein Grund vor, ihr Programm ...« las ich. »Jetzt heißt es: ›ihre Grundsätze und Grundforderungen‹ zu ändern« las Heinrich, »damit können wir uns ohne weiteres einverstanden erklären,« fügte er hinzu, und mit einem lächelnden Blick auf mich: »Du siehst, die Klippe tragischer Konflikte ist glücklich umschifft.«
Auer kam an uns vorüber. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Jetzt werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,« sagte er in grimmigem Scherz. Dabei sah ich, wie seine Finger sich zur Faust zusammenzogen. Von allen Seiten, schriftlich und mündlich, direkt und indirekt war er angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage in der Öffentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, galt als der eigentliche und der gefährlichste Führer der Revisionisten, als der Abtrünnige.
Die Luft im Saal war immer schwerer geworden. Oder war es nur die gesteigerte Reizbarkeit der Nerven, die sie so empfand? Irgendeine Entladung mußte kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner die Gegensätze ins Absurde steigern, den Gegner bis zur Lächerlichkeit herabsetzen zu müssen. Die Zuhörer wurden unruhiger. Man ging ab und zu, man unterhielt sich.
Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leisen Spott der Überlegenheit um die Lippen sah er über die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. Unwillkürlich senkten sich alle Köpfe vor diesem gewaltigen Ausbruch eines feuerbergenden Kraters. Eine öffentliche Anklage war es, und am Pranger standen alle, die den befreienden Streik der Gedanken in ein lähmendes Gezänk um Personen verwandelt hatten. Und eine Verteidigung war es, — eine Verteidigung des Mannes, den dieselbe Partei, um deretwillen er aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats bezichtigte; — aber auch eine Verteidigung seiner selbst, des in der jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen Kämpfers. Seine breiten Hände, — bestimmt, einen Hammer zu führen oder ein Schwert, — umklammerten, zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. Sie waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen Bureauluft weiß geworden. Das stolze Germanenhaupt, dem ein Ritterhelm gebührte, sank leise nach vorn. Die Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz, das auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am nächsten, braun und rot sich hätte färben müssen, war grau und fahl. Durchwachte Nächte sprachen aus seinen Augen.
Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, — zu wuchtig fielen seine Schläge. Und seine Stimme, durch hunderte von Reden, hunderte von Agitationsreisen abgenutzt, drohte zu versagen. Noch eine die Luft durchschneidende Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen, was sich doch unauslöschlich seiner Erinnerung eingeprägt hatte, noch ein Witz, den er in die Masse warf, wie der Tierbändiger einen Knochen zwischen die Tiger, und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Fluß sein Ziel.
Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein kleines Häuflein Unentwegter, die noch immer ihr »Kreuzige!« schrieen, stimmte dagegen.
»... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt, daß die Partei über ihre Grundsätze und ihre Taktik einheitlich denkt und auch fernerhin in voller Einmütigkeit handeln wird ...,« sagte Singer zum Schluß. Die Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. Hörte niemand die Dissonanz? Es waren nicht die Geister der Vergangenheit, die Prinzessinnen, die Kurfürsten und die Könige, die sie hervorriefen. Es war der Geist der Zukunft.
Müde und erschöpft reisten wir heimwärts. Es dämmerte, als wir vom Bahnhof zum Grunewald fuhren. Wie herrlich die Stille war in den breiten Alleen! Wie erfrischend der Duft der Kiefern den heißen Kopf umstrich! Statt der vielen Menschenstimmen nur ein abendlich-süßes Vogelgezwitscher! Wer doch im Walde bleiben könnte! —
Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume alter Kultur eine der köstlichsten Früchte ist, hatte meine Mutter, kurz ehe wir ankamen, das Haus verlassen. So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem Jungen freuen. Mir schien, als wären wir Wochen statt Tage weg gewesen: war er nicht viel größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend ringelten sich die blonden Löckchen um den breiten Schädel! In übersprudelndem Eifer mußte er alles erzählen, alles zeigen. Seinen Bauernhof packte er vor mir aus, nahm die Bäume und rief: »Nu laufen sie zu dem lieben, duten Mamachen!« »Aber Bäume laufen doch nicht!« meinte ich. Darauf nickte er altklug mit dem Köpfchen und sagte: »Doch, Mama; in der Elektrischen, da laufen die Bäume.« Und als er zur Feier des Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er geschickt von seinem hohen Stühlchen, stellte sich breitbeinig vor uns hin und rief: »Ich bin satt!« Das erste »Ich«! — Lachend schloß ich ihn in die Arme: Nun war mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme der Welt verschwanden mir wieder angesichts dieses Wunders.
Am nächsten Morgen saß ich am Schreibtisch und rechnete. Die Angst trieb mir Schweißtropfen auf die Stirn: schon das nächste Vierteljahr würden wir die Zinsen nicht zahlen können. Wie hatte ich als Mädchen gezittert, wenn die Rechnungen kamen, die der Mutter Tränen erpreßten! Es war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit meiner Situation. »Mach dir doch keine Sorgen, ehe das Unglück da ist,« sagte mein Mann ärgerlich, als er sah, wie verstört ich war.
Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen, die jede Erregung zur Folge hatte, stellten sich mit erschreckender Heftigkeit wieder ein. Und abends, wenn ich todmüde in die Kissen sank, klopfte mir das Herz bis zum Halse herauf. Ich war genötigt, ein paar Versammlungen abzusagen. Ich war froh darüber: in einem Zustand geistiger und körperlicher Erschlaffung verbrachte ich meine Tage.
»Wir haben einen Käufer!« mit der Botschaft überraschte mich mein Mann eines Morgens. Ich zweifelte noch. Aber bald darauf kam er selbst, und in wenigen Tagen war der Kauf abgeschlossen.
»Siehst du nun ein, wie töricht es war, sich zu fürchten?« sagte Heinrich. Beschämt senkte ich den Kopf. »Ich will in Zukunft mutiger sein,« versicherte ich.
Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen. Dann wollen wir von vorne anfangen, dachte ich, und begann eifrig nach einer bescheidenen Wohnung zu suchen.
Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund werden, sagte ich zu mir selbst, wenn die Schmerzen nicht weichen wollten und das Herz mich nicht schlafen ließ.
Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung der Genossinnen teil. Wie die Befreiung von den persönlichen Sorgen mich aus der Erstarrung aufgerüttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt die politischen Vorgänge wieder. Das Zuchthausgesetz war endgültig begraben worden, aber trotz aller gegenteiligen Versicherungen drohte eine neue gewaltige Flottenvermehrung.
»Unter den Waffen schweigen die Musen,« erklärte ich, als wir die Aufgaben besprachen, die der kommende Winter uns stellte, und einige der Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein und seine Veranstaltungen in den Vordergrund schieben wollten. »Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren: auf die beschlossene Agitation für den Arbeiterinnen-Schutz und auf den Kampf gegen die neue Volksausbeutung.«
»Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts wertvolle Unterstützung rechnen können, wird der Sieg uns nicht fehlen,« spottete Martha Bartels und berichtete dann, wie ich durch die kürzlich »angeblich« wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache geschädigt hätte.
»Unsichere Kantonisten können wir nicht brauchen,« sagte Frau Resch, die seit ihrer Delegation nach Hannover sehr selbstbewußt geworden war.
Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampfhaft in die Seite, wo die Schmerzen wühlten, und suchte, tiefatmend, die wilden Schläge meines Herzens zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte der Zank sich fort. Und plötzlich war mir, als drehe sich das Zimmer um mich —, ohnmächtig brach ich zusammen. Als ich zu mir kam, übersah ich mit einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt mich umschlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer aufrichtiger Teilnahme; aber steif und unbeweglich saßen alle anderen um den Tisch, die Augen auf mich gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und Mißtrauen. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich preßte die Zähne zusammen und erhob mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner hatte mich fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf mich wartete, benachrichtigt. Auf seinen Arm gestützt, verließ ich das Zimmer. Niemand erhob sich. Niemand sagte mir Lebewohl.
Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte ein bedenkliches Gesicht. »Ein paar Monate im Süden, und Sie können genesen,« sagte er. Ich empfand seinen Bescheid wie eine Erlösung. Fort, — weit fort, wo ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen würde!
Wir entschieden uns für Meran. Der Überschuß, der uns vom Kaufpreis des Hauses bleiben würde, ermöglichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und eine große Kiste mit Büchern und Manuskripten. »Nun werde ich ungestört meine ›Frauenfrage‹ vollenden können,« sagte ich hoffnungsvoll.
»Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,« meinte mein Mann und sah dabei traurig drein. »Ich werde ihn nicht erst fragen,« lachte ich; »Arbeit ist für mich die beste Medizin.«
Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter zu uns. Als es Mitternacht schlug, rissen wir alle die Fenster auf und riefen ein schallendes »Prost Jahrhundert!« in die sternhelle Nacht hinaus. Da war keiner, dem das Vergangene nicht wie ein Alp von der Seele gefallen wäre. Und unsere Hoffnungen waren riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust nach jedem lauten Wort trockener Husten erschütterte, zu Ilse, deren Blicke halb ängstlich, halb verschüchtert an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren Kämpfen sie manches ahnen mochte.
Schatten gingen um. Ich mußte sie bannen. Aus dem Bettchen droben, wo es mit heißen Wangen schlief, nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im Licht der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich hatte es jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte ich es zärtlich ans Herz und flüsterte leise, ganz leise, damit die anderen nichts hörten: »Dein ist das Jahrhundert.«
Wenige Tage später schloß sich die Pforte des grauen Hauses hinter uns. Die Wipfel der Kiefern bewegten sich leise über dem Dach. Schwarz standen ihre Stämme vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick zurück. So wollte auch ich nur vorwärts sehen.
Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal über Meran; die Schneeflocken fielen so dicht, daß es aussah wie lauter weiße Schleier, die der Winter, mißgünstig, einen nach dem anderen der Natur vor das schöne Antlitz zog. Und ich war mit der ganzen Sonnensehnsucht des Deutschen, der jenseits des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel und blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren!
»Du hast mir das Sommerland versprochen, — ich will ins Sommerland —,« weinte mein Bübchen, als es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres kleinen Zimmers in die weiße Welt hinaussah. Während ich ihn durch lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fröstelte auch mich.
Das Sanatorium »Iduna«, das westlich von Meran einsam zwischen Wiesen und Obstbäumen lag, war uns empfohlen worden. »Es nimmt nur eine beschränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher den Charakter eines behaglichen Privathauses,« hieß es im Prospekt. In Wirklichkeit war's ein altes Landhaus, das, wie so viele seinesgleichen im Süden, mit dünnen Wänden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren schien. Ein paar eiserne Ofen strahlten stundenweise rotglühende Hitze aus, um dann wieder kalt, schwarz und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des grausamen Spiels mit den armen Bewohnern.
Ich hatte nicht schlafen können: der Wind rüttelte an den Fenstern, mein Sohn warf sich unruhig in dem ungewohnten großen Bett hin und her, und ein hohler Husten, nur von stöhnenden Seufzern unterbrochen, klang aus dem Zimmer unter uns unaufhörlich zu mir empor. Müde und abgespannt ging ich zum Frühstück in den Eßsaal, — einer verglasten Veranda, durch deren breite Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In der Mitte stand der lange schmale weißgedeckte Tisch, darauf in nüchterner Regelmäßigkeit Reihen weißer Teller und Tassen. Eine Frau saß daran in schwarzem Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollstuhl ihr blasser Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, — einer jener Kranken, die hoffnungsloses Leiden böse gemacht hat, — ihm gegenüber am äußersten Ende der Tafel ein schmalbrüstiger Jüngling, dessen Antlitz nur noch mit der Haut bespannt schien, — einer fahlen, graugelben —. Ich zögerte an der Schwelle, mir grauste vor dem Bilde, in dem alle Farben des Lebens erloschen waren.
Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten Kleidchen, mit frischen Wangen und glänzenden Augen. Und der ganze Raum war erhellt. Ein freundliches Lächeln spielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; die Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten sich, nur die Frau im schwarzen Kleid wandte wie verletzt den Kopf zur Seite.
Ich wäre am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich war viel zu müde, viel zu apathisch dazu. Der Arzt, ein gütiger alter Mann mit weichen Frauenhänden, versprach mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach Süden. »Das unter Ihnen,« sagte er, »der Herr reist ab —,« dabei verschleierten sich seine hellen Augen. Dann gab er mir Verhaltungsmaßregeln. »Meine wichtigste Verordnung ist: ein Kindermädchen. Sie müssen Ruhe haben, — Tag und Nacht, der Bub dagegen soll sich tüchtig Bewegung machen,« begann er.
Ruhe, — schon das Wort war wie einlullendes Streicheln. Am nächsten Tage brachte er mir ein hübsches, brünettes Landmädchen, das mir gefiel; sie zog mit dem Kleinen, der sich an die lustige Gefährtin rasch gewöhnte, in das Zimmer nebenan. Nun erst fühlte ich, wie krank ich war: den ganzen Tag lag ich still, und bewegungslos wie mein Körper waren Gedanke und Gefühl. Auch meine Umgebung störte mich nicht mehr; — wenn ich nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl.
»Nun wird er bald abreisen,« sagte der Arzt eines Tages und drückte mit der Spitze des Zeigefingers in den Augenwinkel, als sei ihm ein Staubkörnchen hineingeflogen.
»Dann soll ich hinunter?« fragte ich und dachte entsetzt an die Mühe des Umräumens. »Ja,« meinte er, »denn nun es täglich wärmer wird, müssen Sie in der Sonne liegen.« »In der Sonne?!« Ich lächelte ungläubig. Seit einer Woche hatte der Schnee sich in Regen verwandelt.
Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf mich im Bett hin und her, und plötzlich wußte ich, was mir fehlte: der regelmäßige Husten unter mir war verstummt; die Stille lastete auf mir, die unheimliche Stille. Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das huschte im Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und flüsterte, — knarrend öffnete sich unten eine Tür. Ich erhob mich und trat ans Fenster: ein Leiterwagen stand im Garten; Männer waren darin, die sich durch Gebärden mit denen im Hause zu verständigen schienen; und auf einmal schwebte etwas in der Luft dicht unter mir, etwas Schwarzes, Großes, — der Regen klatschte darauf, — eintönig. Schon wollt' ich schreien, — da geriet das Schwarze in den Lichtkreis der nächsten Laterne: es war ein Sarg.
Ich schwankte ins Bett zurück und verkroch mich zitternd unter der Decke. So war er »abgereist«! —
Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht, mit den Menschen, deren Körper im Sterben lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren. Und das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen, in denen das Wasser aussah, als wäre es Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen, hatte mir Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen und Fugen lauernd saß. Und mein Kind hatte ich die Pestluft atmen lassen!
Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Früh fuhr ich nach Meran und drüber hinaus nach Obermais, so hoch und so weit als möglich. Dort fand ich neben alten efeuumsponnenen Schlössern ein freundliches Haus zwischen Nußbäumen und Weinreben.
Am selben Abend zogen wir ein.
Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen können. Die Berge entschleierten sich. Der Schnee, der eben erst wie ein Leichentuch die Erde verhüllt hatte, blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine Hochzeitskrone auf ihren Häuptern. Errötend entfalteten sich an den Mandelbäumchen die ersten Blüten. Ich lag auf der Veranda und ließ mich wie sie von der Sonne durchglühen und fühlte, daß auch mir die Lebensfarbe in die Wangen stieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen frische Wiesenblumen.
»Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du nicht mehr Auau hast,« schwatzte er, »zu den so vielen Vergißmeinnicht, und zu den Musikmännern auch, wo die Damen und Herren sind.« Ich lachte ihn an: wirklich, die Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder in mir. Liegen sollt' ich, immer liegen, sagte der Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war. »Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,« antwortete ich ihm, »denn daß mein Herz so gegen alle Vorsicht klopft, ist nur ein Beweis, daß ich lebe.«
Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, streckte und reckte mich und blinzelte in die Sonne. Mir war so wohl, — so wohl! Warum nur?! Und in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist. Ich sah mich erschrocken um, als könnte irgend jemand dies tiefe Geheimnis, daß ich kaum mir selbst gestand, erkundet haben. Ich war frei — wirklich frei; ich konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden Fragen erst beantworten zu müssen: stört es den Anderen? Verletzt es ihn? Beeinträchtigt es seine Ruhe, seine Wünsche, seine Liebe? Jetzt, zum Beispiel, konnte ich aus dem Bette steigen und lustig einen Walzer trällern, — läge Heinrich neben mir, ich würde mich aus Rücksicht auf seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten. Und dann konnt' ich gemächlich im Wasser planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne jene quälende Scham des Häßlichen, des Unästethischen, — die einzig berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander lieb haben, und die einzig notwendige, wenn sie ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches erhalten wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm, mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie wissen nicht, daß die Liebe eine zarte, kostbare Blume ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie in den Küchengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht.
Ich war frei — wirklich frei. Und ich konnte hingehen, wohin ich wollte! Ganz erstaunlich kam mir das vor, — gerade, als ob die Welt mir auf einmal ihre Tore aufschlösse. In den ersten Jahren meiner Ehe hatte Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, — aus zärtlichster Liebe, nicht etwa aus Mißtrauen oder aus Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg machen können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich die Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich ein Geheimnis vor ihm gehabt hätte, sondern nur um einmal ohne innere Hemmung in den Straßen herumlaufen zu können. Allmählich hatte unsere verschiedenartige Tätigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht; aber selbstverständlich blieb, daß ich ihm erzählte, wo ich gewesen war, was ich getan hatte. Und da ich ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern wollte, so stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal seiner Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es vor, daß ich — log.
Kaum, daß der Gedanke daran in mein Bewußtsein trat, als ich ihn auch schon, dunkel errötend, zurückweisen wollte. Aber je mehr ich mich mühte, desto klarer stand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge sehn: »Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.« Nicht, weil ich ihn hintergehen, sondern weil ich ihn nicht ärgern, nicht erregen wollte. Aus Liebe also! Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil sie des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Persönlichkeit auslöscht wie ihren Namen. Wie vielen, die gerade gewachsen waren, hat sie das Rückgrat zerbrochen! Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre Physiognomie, — sind farblos, zermürbt.
Ein brennendes Verlangen nach Menschen überkam mich. Wie war ich doch mein Leben lang an den bunten Schwarm um mich gewöhnt gewesen! In den letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verflüchtigt. Den alten Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin geworden war; neue hatte ich unter den Genossen nicht gefunden, und von den Künstlern, von den Gelehrten, die unsere Räume einmal betraten, kamen nur wenige wieder. Romberg war im Grunde unser einziger Verkehr gewesen. Und der wohnte nicht in Berlin.
Woher kam das alles? War ich weniger anziehend als die Frauen, die »ein Haus ausmachten«? Waren sie geistreicher als ich? Ich schürzte spöttisch die Lippen. Stießen sich die Sittenstrengen noch immer an der Geschichte meiner Eheschließung? Sie machten sich doch sonst nichts daraus, mit Frauen zu verkehren, die »eine Vergangenheit« hatten, die Gegenwart geblieben war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei meinem Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war ein Menschenschwärmer gewesen, leicht geneigt, zu bewundern und zu verehren und sich den anderen gegenüber gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede, auch die leiseste Enttäuschung ihn getroffen, und je häufiger sie sich wiederholte, desto scheuer zog er sich zurück, desto mißtrauischer wurde er. Und für jenen leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die Oberfläche des Lebensstromes streift, war er zu schwerblütig. Er hatte nie getanzt; — seltsam, daß mir das erst heute einfiel. Er hatte nie gelernt, eine Gesellschaftsmaske zu tragen. Darum fühlten sich immer nur die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. Die anderen stieß er ab.
Draußen lachte der Frühlingstag. Zwischen blühenden Bäumen und Beeten von Hyazinthen spielte die Musik fröhliche Weisen, die Passer sprang dazu in entfesselter Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit meinem Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge hin und her. Ich freute mich, als wäre ich zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns folgten. Täglich wollt' ich von nun an hinuntergehen, Sonnenschein trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte und geriet durch sie in einen Kreis fröhlicher Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder unterzutauchen in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen zu können aus Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu fühlen! Man brachte mir täglich Blumen, — jene großen glühenden Rosen von Meran, deren Duft nicht an Gärten erinnert, sondern an berauschende Essenzen des Morgenlandes. Ich ließ mir gefallen, daß man mir huldigte; ich spielte mit heißen Gedanken, wie ein Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends, während bunte Lichterkränze sich an den alten Bäumen vor dem Kurhaus von Ast zu Ast schwangen und die Geigen der Zigeunerkapelle in die laue Nacht hinein seufzten und lockten, ließ ich mich in den Kursaal führen, um den Tanzenden zuzuschauen. Süße Walzermelodien umschmeichelten meine Sinne. Der Rausch des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich ihm. Erst als der letzte Ton verklagen war, kam ich zu mir und erschrak. Leichtsinn und Genuß, die Zaubergeister, drohten mich in ihre Gewalt zu bekommen. Das durfte nicht sein!
»Meran fängt an, schwül zu werden,« schrieb ich am nächsten Morgen an meinen Mann; »so sehr die weiche Luft meiner Gesundheit nützte, so sehr schädigt sie meine Arbeitskraft. Und ich wünsche jetzt nichts mehr, als mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu stürzen. Darum möchte ich fort. Der Arzt verordnet mir Höhenluft; ich selbst fühle, daß ich etwas Starkes, Herbes atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgend ein stilles Plätzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt..«
Statt aller Antwort kam er selbst. »Ich habe gewartet, bis du mich rufen würdest —, es ist mir schwer genug geworden,« flüsterte er zärtlich, »nun aber wirst du mich nicht mehr los.« Dunkel errötend barg ich den Kopf an seiner Brust.
An der Ampezzostraße, südlich von Cortina, liegt ein kleines Dorf, Pezzié genannt. Zwischen seinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und großen Altanen stattlich hervor. Über ein Vierteljahr wohnten wir dort in tiefster Stille und Zurückgezogenheit. Im Lärchenwald hinter dem Hause spielte mein Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, angesichts des weiten blühenden Tals und des gewaltigen schneebedeckten Felsenmassives der Tofana, fing ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich mir mit meinem Buch gestellt hatte, so war sie mir wie ein unübersteigbarer Berg erschienen. Jetzt, da ich sie aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all die Zeit hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle meines Bewußtseins weiter an ihr gearbeitet.
Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal in den Boden des Geistes gestreut, sich aus eigener Macht weiter entwickeln? Die vielen Zahlen, die ich in meinen Büchern vor mir hatte — Ergebnisse der Volks- und Berufszählungen europäischer und außereuropäischer Länder, Lohn- und Arbeitsstatistiken —, wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen die Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das Bild, das ich zu malen hatte: den Zug der Frauen, wie er durch glutheiße Wüsten und rauhe Steppen dahinschleicht, jede einzelne in ihm gebeugt unter den Lasten, die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, der Sichel und der Spindel, dem einen Kinde auf dem Rücken, dem anderen unter dem qualvoll klopfenden Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die Reihen der kämpfenden Arbeiterschaft geführt hatte, das wurde mir jetzt zur bewußten Erkenntnis: die Berufsarbeit der Frau, die ihre Entstehung der Umwandlung der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken hat, ist immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil dieser Produktionsweise geworden. Aber indem sie sich ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft beruht, und gefährdet die Existenz des Menschengeschlechtes, deren Bedingung gesunde Mütter sind. Es bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzugeben. Diese Konsequenz zu scharfumrissenen Ausdruck zu bringen, sodaß niemand ihr aus dem Wege zu gehen vermöchte, — das war mein Wunsch.
Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller schlagen läßt, das über jede Müdigkeit hinwegtäuscht, das die Gedanken des Tages in den Traum der Nacht verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde Egoismus des Schaffenden, der ihn für seine Umgebung blind und taub macht, nur damit das Werk wachsen kann. Dankbar überließ ich der Berta, dem meraner Kindermädchen, die sich mit solcher Klugheit in jede Lage zu schicken schien, die Sorge um unseren kleinen Haushalt. Daß sie für uns kochte und wusch und nähte und eifersüchtig jede andere Hilfe abwehrte, war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß der Kleine mit solcher Liebe an ihr hing, machte sie mir vollends unentbehrlich.
Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach ich von nichts anderem als von meiner Arbeit, von all den Ideen, all den Plänen, die sie in mir auslöste. Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir durch seine Fachkenntnisse.
Daß auch er ein selbständiges Leben hatte, daß auch in ihm vieles bohrte und gärte, das nach Ausdruck verlangte, daß er um so einsamer wurde, je mehr ich mich in die Arbeit verlor, — von alledem wußte ich nichts.
Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken empor: was das Grunewaldhaus uns übrig gelassen hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen aus dem Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf dessen Erfolg ich rechnete, war noch lange nicht vollendet; wie würden wir auskommen?! Mit aller Anstrengung vertrieb ich die bösen Gedanken, ich arbeitete noch ununterbrochener, um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen nachzuhängen.
Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den er mir stumm herüberreichte: Ob er während der nächsten Monate für ein uns nahestehendes Blatt die Pariser Korrespondenz übernehmen könne? Ihr bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen längeren Urlaub angetreten.
Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Name Rom auf die Deutschen des Mittelalters, so wirkt der Name Paris auf die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finsteren Burgen und engen Städten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem lachenden Himmel Italiens; und aus dem Ernst unseres strengen Alltagslebens verlangt alles, was jung ist in uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von Paris. Aber ich bemühte mich, ruhig zu scheinen und meiner stürmisch aufwogenden Freude Herr zu werden.
»Was sagst du dazu?« fragte mein Mann. »Wir würden uns rasch entschließen müssen. Mit dem internationalen Sozialistenkongreß, der in zehn Tagen zusammentritt, müßte meine Tätigkeit anfangen.«
»Und dein Archiv?!« warf ich ein. »Du kannst es doch nicht monatelang von Frankreich aus redigieren!«
»Ach, — das Archiv..!« meinte er mit einem halb wegwerfenden, halb ärgerlichen Ton, der mich erstaunt aufsehen ließ. Das Archiv war seine Schöpfung, sein liebstes Geisteskind.
»Das Archiv könnte ich von überall her leiten! In Paris aber scheint mir jetzt der rechte Ort, um den Sozialismus in seiner neusten Phase zu studieren, in Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die Intellektuellen, — unter ihnen ein Zola, ein France, ein Steinlen, — mit Jaurès Arm in Arm gehen!.. Wenn du also nichts dagegen hast, so nehme ich den Antrag an.«
Paris! Die untergehende Septembersonne umgab die schwarz hingestreckte Stadt mit rotglühender Glorie. Mir war, als klänge im Räderrollen unseres Zugs ein rhythmisches Jauchzen, als könne die fauchende Riesenschlange es nicht erwarten, sich in die lodernde Glut zu stürzen.
Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir durch die Straßen. Es war die vollkommenste Überraschung, die mich mehr und mehr verstummen ließ. Ich hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das übereinstimmt mit dem Begriff »Paris«, den wir uns draußen gebildet haben. Und nun sah ich Häuserzeilen in gleichmäßig feiner zurückhaltender Architektur, hohe Fenster mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, über die der Efeu kroch, und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen Höfen geheimnisvoll herüberrauschten.
Ich sah, wie sich die vielen Alleen plötzlich in weite, weite Gärten verloren, unter deren Büschen graue Statuen träumten, und unter runden Lorbeerbäumen stille Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen Fischen darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit runden und viereckigen dicken Türmen, oder dem mystischen Maßwerk keuscher Gotik über alten Portalen.
Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe empor und traten aus der heidnischen Pracht ihrer Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres Inneren. Eine wunderschöne Nonne kniete regungslos am Eingang, die Sammelbüchse vorgestreckt in schmalen weißen Händen. Und als wir uns wieder zum Gehen wandten, schweifte der Blick über die zu unseren Füßen sich dehnende Straße und die majestätische Größe der Place de la Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren wie Spielzeug, bis weithin zur Kuppel des Invalidendoms. Er hütete, was sterblich war an dem korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem Willen, und der, ein Lebender, noch heute die Stadt Paris erfüllt.
Durch Alleen breiter Kastanienbäume, deren dunkle große Blätter schwarze Schatten auf die hellen Wege warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der Triumphbogen des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt, mit den Wolken zu verschmelzen schien. Und in den Gärten der Tuilerien verloren wir uns. Zarte Kinder mit künstlich geringelten Locken spielten auf feinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen im Knopfloch, fütterten die Vögel, von einer Schar Zuschauer umgeben, deren Interesse fast wie Andacht war. Von den Bäumen tanzten leise die gelben Blätter; eine träumerisch süße Luft, die Geräusche und Farben dämpfte, spielte zärtlich um den grauen Königspalast des Louvre und streichelte sanft die Gesichter der Vorübergehenden, als wollte sie sie trösten, weil es schon Herbst geworden war. Und selbst die Bettler auf der Brücke, und die schmutzigen Savoyardenknaben, die ihre Ware feil boten, und die alten Buchhändler, die ihre stockfleckigen Schartäken auf den Quaimauern aufbauten, lächelten leise. Der Fluß aber wälzte sich lautlos vorüber; seine Wasser schimmerten in gebrochenen Farben wie müde Opale.
»Eine vornehme Frau ist Paris,« sagte ich nachdenklich, als wir von unserem ersten Ausgang zurückgekehrt waren, »eine vornehme Frau, deren schöne Züge die Wehmut des Alterns umflort ...«
Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt brauste die Weltstadt: rauschende Kleider, rollende Wagen, girrendes Lachen, wüstes Geschrei —, zu einem einzigen Ton verschmolz das alles. Zwischen den Bäumen der Boulevards strahlten die Laternen wie endlose Lichterketten, breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende Federhüte und spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen Concordienplatz wirkten die Bogenlampen wie Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht.
Da plötzlich leuchtete jenseits zwischen den Bäumen ein Wunder auf: ein schimmerndes Tor aus Juwelen erbaut, eine Märchenstadt dahinter, deren Mauern Kristall, deren Türme Feuerbrände waren; die Weltausstellung. Wir folgten dem wimmelnden Menschenstrom, dessen Rauschen sich aus allen Sprachen der Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden Goldfäden gewoben, trug auf seiner diamantenen Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In tiefdunkle Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der stille Fluß spiegelte Paläste wieder, die allen Glanz der Welt an seinen Ufern vereinigt hatten. Die Brücken spannten sich über ihn wie lauter glückverheißende Regenbogen. Und wer sie überschritt, den empfing jenseits ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, — als gäbe es nirgends Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Menschen: von den Terrassen herunter, — aus den weit geöffneten Türen bunter Häuser lockte die Freude in sehnsüchtigen Geigentönen, in wilden Trompetenstößen. Dort tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: wenn sie sich aufwärts schwang, züngelten die Schleier über ihrem Haupte, wenn sie sich neigte, leuchtete sekundenlang ihr schneeweißer Busen. Drüben trippelte auf Stöckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus ihren geschlitzten Augen sprühten Blitze fanatisierter Kunst, auf ihren Gewändern leuchteten Blumen der Hölle und Vögel des Paradieses. Und unter dem bunten Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre braune Haut, während ihre kleinen Füße, von goldenen Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und ihre Arme sich ausstreckten — eine einzige Gebärde verlangender Lust ...
Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum Sozialistenkongreß nach Paris gekommen war. »Ein Riesenvarieté, — nichts weiter,« brummte er, »im Grunde widerwärtig.« Ich erwachte wie aus einem Traum: die Gesichter der Tänzerinnen erschienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich verwischte, grinste hinter dem Lächeln der Freude die rohe Sucht nach Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der den Himmel trug, war aus Eisen; Menschlein kletterten selbstbewußt bis in seine Spitze, und hoheitsvoll wich die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kulissen aus Gips und Leinwand waren die Paläste, Glas die Juwelen im Portal.
»Man soll einen Mondsüchtigen nicht anreden,« sagte ich. »Schon glaubt ich mich wirklich auf dem Wege zur Erfüllung einer Sehnsucht, die mit mir geboren zu sein scheint —«
»Und die wäre?« fragte Heinrich. Ich zögerte; ich wußte, wie falsch ich verstanden werden könnte.
»Bacchantische Lust zu sehen, überströmende, jauchzende Lebenswonne, — die dabei eines Gottes würdig wäre. Immer ist Freude so etwas Armseliges, — Mutloses.«
»Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. Übrigens hätte ich Ihrer norddeutschen Prinzessinnenwürde nicht so exotische Phantasien zugetraut,« spottete Geier. »Aber immerhin, — ich, als alter Pariser, kann Ihnen vielleicht heute noch dienen.«
Wir verließen die Ausstellung, überquerten den Platz bis zur Rue Royal.
»Maxim« stand in großen Buchstaben über der Tür des Restaurants, in das wir eintraten. Auf den hohen Stühlen vor dem Schenktisch der Bar saßen elegante Männer mit müden, gelangweilten Gesichtern. Aus dem Saal dahinter klang gedämpfte Musik. Die Frauen unter seinen Spiegelwänden an den kleinen, blumengeschmückten Tischen flüsterten nur hie und da miteinander. Sie waren alle schön und jung. Hellblond und üppig die eine im weißen Seidenkleid, Perlen in den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um den runden Hals und einen matten Perlenglanz in den großen hellen Augen. Statuenhaft die andere neben ihr, die prachtvolle Gestalt eng in roten Samt gehüllt, die schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die nachtschwarzen Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen. Und rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue Adern klopften, brünette, mit dem bräunlich warmen Ton der Südländerin, reihten sich ihnen an, eine schneeweiße dazwischen, mit rosigem Antlitz, als wäre die Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes Paris zurückgekehrt. Zuweilen standen sie auf und schritten langsam auf und nieder; ihre Kleider raschelten, als ob schillernde Salamander durch dichtes Blattwerk schlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klipp-klapp der hohen Absätze ihrer Seidenschuhe tönte dazwischen, in ihren Juwelen brachen sich hundertfarbig die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen hinter ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus fremden Urwäldern.
Die Musik ging in Walzermelodien über. Und durch die offenen Türen kamen allmählich die Herren aus der Bar, — alte und junge Greise. Nüchtern, lustlos, wie der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen. Sie erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den Gläsern vor ihnen perlte. Ihre Blicke wurden zu lüsternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie erschienen wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen gegenüber. Und jetzt begannen die Geigen zu jauchzen, rascher und rascher füllten sich die Gläser und leerten sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem Tanz; — dort senkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor einer jungen Schönen und trank aus ihrem weißseidenen Schuh.
»Nun?!« fragend wandte sich Geier mir zu. Ich zuckte die Achseln: »Nennen Sie das bacchantische Lust?! Wenn Männer sich erst betrinken müssen, um für Frauenschönheit zu entflammen, und Frauen nur durch den Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne umnebelt, den Ekel vor diesen Männern zu überwinden vermögen?!«
Wir gingen. Über die Boulevards schob und drängte sich die Menge: Fremde, mit gespannten Zügen, überall ungeheuerliche Enthüllungen der Sünde erwartend, kleine bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften Funkeln in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer noch Blumen verkaufend, den alten wissenden Blick halb neidisch auf die geschminkten Kokotten gerichtet, die wie Götzenbilder sich durch die dunkeln Massen bewegten.
War Paris nicht doch ihresgleichen?
Als wir am nächsten Morgen den Sitzungssaal des Internationalen Kongresses betraten, blieb ich schon an der Tür erschrocken stehen: das tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsstück zu Fall gebracht werden. Vandervelde, der belgische Volksführer, stand auf der Rednertribüne, aber weder seine Autorität, noch der sonore Klang seiner schönen Stimme, noch die beschwörenden Gesten seiner aristokratischen Hände wurden Herr über die entfesselte Leidenschaft der Menge. Drohende Fäuste reckten sich zu ihm empor: »À bas les ministériels!« tönte es im Takt von der einen Seite, wo sich um Jules Guesde, den französischen Liebknecht, die Anhänger scharten. Wer es nicht vorher wußte, erfuhr es angesichts dieser Versammlung: nur um eine Kardinalfrage des Sozialismus konnte ein so wüster Kampf entbrennen. Die Vertreter des alten revolutionären Gedankens behaupteten standhaft ihre Intransigenz: »Die Befreiung der Arbeiter kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein, jedes Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Verrat an der Sache des Proletariats.« Von diesen lapidaren, jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden Sätzen aus, verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des Sozialisten Millerand in das Ministerium und forderten vom Kongreß eine offizielle Anerkennung ihres Standpunktes. Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der Italiener Ferri; die schönheitstrunkenen Romanen jubelten schon seiner bloßen Erscheinung zu, und als er mit all den klassischen Worten der Revolution jonglierte, wie ein geschickter Taschenspieler mit glänzenden Kristallkugeln, und den Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung der Deutschen bis zum Ministerialismus der Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte ihm brausender Beifall. Die graziösen Französinnen auf den Zuschauertribünen, denen der Kongreß dieselben Nervenreize bot wie eine Première, schlugen begeistert die weißbehandschuhten Händchen aneinander, und des Redners dunkler Blick grüßte dankend die seidenrauschenden Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben zum Kampf gerufen hatte.
Dann kam Jaurès, der das moderne republikanische Frankreich in der Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus und Militarismus verteidigt hatte, — eine untersetzte Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen. Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser Versammlung, die ihre Redner ästethisch zu werten scheint. Aber schon der erste Laut seiner Stimme zog die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer; selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und wenn sie anschwoll, schlug sie donnernd gegen die Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich war nicht imstande auf die Worte zu achten, ich hörte nur den Klang, jenen musikalischen Tonfall der Sprache, der die Wesensart des ganzen Volkes enthüllt, eines Volkes, das durch logische Schlüsse wissenschaftlicher Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn nicht der Künstler in ihm durch die Schönheit der Form, durch das Pathos des Ausdrucks gepackt wird, eines Volkes, von dem ich plötzlich begriff, daß es die Bastille stürmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser krönen konnte.
Ich war noch wie benommen, als wir abends den Saal verließen. An der Tür begrüßten uns unsere Landsleute. »Eine unglaubliche Gesellschaft!« schimpfte der eine. »Für nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und Papier gibt's auf den Tischen.« — »Und keine Möglichkeit, die Anträge rechtzeitig drucken zu lassen,« fügte ein zweiter hinzu, — »man weiß nich mal, wo man essen jehn soll,« brummte ein dritter.
Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutschland.
Wir unterhielten uns, als wir zusammensaßen, über die deutsche Resolution. »Sie ist aus Wenn und Aber zusammengesetzt, und einem Fall Millerand ist zwar die Tür geschlossen, aber das Fenster geöffnet,« — räsonierten die Vertreter des sechsten berliner Wahlkreises, für die der Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium keine taktische, sondern eine prinzipielle Frage war. »'Die Eroberung der Regierungsgewalt kann nicht stückweise erfolgen,'« las stirnrunzelnd einer der Wortführer des Revisionismus; »das ist ein Satz, den wir unmöglich unterschreiben können, denn in parlamentarisch regierten Staaten kann und wird sie nicht anders als allmählich vor sich gehen.«
Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem geschlossen für die Resolution, um die Einigkeit der Partei zu dokumentieren, und sicherten ihr dadurch ihre Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat besaß, denn die vielgerühmte Disziplin unserer Genossen mißfiel mir, die die persönliche Ansicht dem Willen der Mehrheit unterwarf; die individualistische Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis größerer innerer Stärke zu sein. Ich äußerte meine Ansicht, als wir mit unseren näheren Bekannten nachts vor einem Boulevardcafé zusammensaßen, und stieß auf heftigen Widerspruch. »Unsere Disziplin hat uns groß gemacht,« hieß es von allen Seiten. »Numerisch groß, — gewiß,« antwortete ich, »ob aber entsprechend einflußreich?! In England, wo die Partei so zerrissen ist wie hier, durchdringt die sozialistische Idee alle Kreise, gehören Sozialisten allen öffentlichen Körperschaften an, in Frankreich stützt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr Reformen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuführen, als seine Vorgänger während Jahrzehnten —«
»Und in Deutschland übernahm unsere Reichstagsfraktion im Kampf gegen die Lex Heinze die Führung und rettete Wissenschaft und Kunst vor unerhörter Knebelung,« unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft; »es geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die Resolution, deren Annahme durch uns Sie so verurteilen, ist ein Zeichen des Fortschrittes. Sie hat dem falschen Radikalismus eine seiner Spitzen abgebrochen indem sie der politischen Taktik freie Hand ließ.«
»Dazu, scheint mir, werden die Verhältnisse Radikale und Revisionisten stets ohne weiteres zwingen. Die Preisgabe persönlicher Überzeugung war überflüssig,« antwortete ich.
»So halten Sie es für besser, wenn man um verschiedener Ansichten willen wie verzankte Kinder nach rechts und links auseinander läuft?!«
»Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende Gegensätze mit den morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen überbrücken zu wollen.«
Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll auf Geier, der eben hinzugetreten war.
»Politik besteht aus Konzessionen,« erklärte er und strich gleichmütig die Asche von seiner Zigarre; »aber davon versteht ihr Weiber nichts. Für das Geschäft seid ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum laßt die Finger davon. Übrigens: — Ich habe eine Nachricht in der Tasche, die den Wünschen der Genossin Brandt entgegenkommt: Euer neuer Prophet, Bernstein, wird Deutschland in persona beglücken dürfen.«
Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und Warum bestürmt, fuhr Geier mit einem spöttischen Blick auf mich in seinem Berichte fort: »Die deutsche Regierung hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist Bülows, des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn er das Ausweisungsdekret gegen Bernstein nicht mehr wiederholt. Viel Glück zu diesem Zuwachs, Ihr lieben Reichsdeutschen!« Damit erhob er sich, flüchtig grüßend.
Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und ich, in unsere kleine möblierte Wohnung, die wir nach langem Suchen endlich gefunden hatten. Ich fühlte auf diesem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich auch innerlich nebeneinander und nicht miteinander gingen. In der Nacht hörte ich, wie unruhig er sich hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das matt durch die Fensterscheiben drang, wie zerquält seine Züge waren. Er litt, — und ich wußte nicht warum; ich, die ich ihm am nächsten stand, hatte ihn allein gelassen! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren nicht jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts hatten sein wollen, als ein allzeit offenes Gefäß für die Schmerzen und die Kämpfe des Gatten? Vielleicht waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft.
»Heinz,« flüsterte ich zaghaft und griff nach seiner Hand, »warum sprichst du nicht mit mir? — Irgend etwas lastet auf dir —.«
Er lächelte mich an. »Gutes Kind, — beunruhige dich doch nicht! Du hast mit dir selbst genug zu tun und mit deiner Arbeit.«
»Du aber nimmst teil daran, — du hilfst mir, und ich sollte dir nicht helfen dürfen?! — Hängt es am Ende damit zusammen, daß du dem Archiv innerlich untreu geworden bist?« drängte ich.
»Woher weißt du das?« fuhr er auf.
»Ich habe doch Augen im Kopf, — ich sehe, wie oft du die Korrekturen ungeduldig zur Seite wirfst —«
»Du hast recht,« antwortete er, »ich hätte dich nur gern mit meinen Angelegenheiten verschont, so lange sie mir selbst so unklar sind. Als ich das Archiv ins Leben rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes Ackerland. Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben schneiden —«
»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn lebhaft, »wir beide gehören zu denen, die Wege anlegen, aber nicht die Steine dafür karren können.«
»Wege anlegen —,« wiederholte er, »ganz richtig! Und dafür ist in der Partei jetzt die Zeit gekommen. Gräßlich, angesichts dieser Aufgabe die Hände gebunden zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem geistigen Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das an Stelle bloßer Verneinung die Ideen praktischer Politik in die Köpfe der Massen hämmert, das die geistigen Kräfte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache zieht. Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, — auch hier müßte das Eisen geschmiedet werden, solange es warm ist.«
»Und wieso sind dir dafür die Hände gebunden?!« rief ich aus, von den Gedanken, die er aussprach, gepackt. »Der Plan muß ausgeführt werden!«
»Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz dummes Katzel!« sagte er. »Oder wächst dir ein Kornfeld auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher Verleger würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst recht nicht ...«
Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der Idee der Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst schrieb und druckte. Ob wir nicht diesem Beispiel folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus. »Selbst wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern würden, ohne pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich sehe nur eine Möglichkeit, um zum Ziel zu gelangen —,« er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt.
»Die wäre?«
»Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte man die Zeitung ins Leben rufen —«
»Warum versuchst du das nicht?!« Ich ärgerte mich, daß er nur einen Moment hatte zögern können. Er sah mich forschend an.
»Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir spricht? — Mit dem Verkauf des Archivs ist die Sicherheit unserer Existenz preisgegeben. Wir können bei dem neuen Unternehmen alles verlieren —«
»Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,« antwortete ich ernst. »Aber mir scheint, gegenüber der Größe der Aufgabe fallen persönliche Bedenken nicht ins Gewicht.«
Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann all seine freie Zeit der Verwirklichung seines Gedankens. Er trat mit deutschen Verlegern in Verkaufsverhandlungen, und wenn ich angesichts ihrer wiederholten Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren, so schien der seine mit jedem Mißlingen neu zu wachsen. Er wandte sich an die bekannteren Revisionisten, und wenn ihre zögernden Antworten mich deprimierten, so steigerten sie nur seine Energie. Und meine Liebe, die unter der grauen Asche der Alltäglichkeit nur noch leise geglimmt hatte, glühte auf, wie Waldfeuer im Sturm. Je stärker ich die Überlegenheit seines Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt, mein eigenes Erleben zu betrachten wie der Forscher ein wissenschaftliches Experiment, aus dem er bestimmte allgemeine Schlüsse zieht, sah ich, daß eine der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts der Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion erwies.
»Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib ist die Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder Beziehungen zwischen den Geschlechtern,« hatte meine alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich in dem ihr eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft, weil sie — das einsame alte Mädchen — wie der Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe ist Hingabe an den Höherstehenden, gleichgültig ob das Herz, das sie empfindet, unter dem groben Hemd der Dienstmagd oder dem Talar der Doktorin beider Rechte schlägt. Darum wird die erotische Treue um so seltener sein, je stärker das Weib sich geistig und seelisch individualisiert.
Mit noch größerem Eifer als früher stürzte ich mich in meine Arbeit; nicht nur, weil der Augenblick schreckhaft näher rückte, in dem ich das Honorar dafür nicht mehr würde entbehren können, sondern mehr noch, weil das Buch vollendet sein mußte, ehe die neue Aufgabe — die Zeitschrift meines Mannes — an mich herantrat.
Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten sich mir ohne Schwierigkeit. Vom Minister bis zum Portier verleugnet der Franzose die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die ihm begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr behilflich zu sein, ihr entgegenzukommen, kein spöttisches Lächeln, keine herunterhängenden Mundwinkel verraten der arbeitenden Frau, wie der Mann sie im Grunde wertet.
Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto höher türmten sich die Probleme der Frauenfrage um mich auf, — die sozialen, die ethischen, die sexuellen entwickelten sich eines aus dem anderen, als kröche ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um das andere vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich mich morgens zum Fortgehen rüstete und mein Kind die runden Ärmchen um meinen Hals schlang und bat und schmeichelte: »Mamachen, bleib doch mal bei mir, — Mamachen, bitte, bitte, erzähl' mir nur eine einzigste schöne Geschichte —,« dann erschien mir mein eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie gläubig hatte ich früher den alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gelauscht, wenn sie von jenen Amerikanerinnen erzählten, die ihre Pflichten als Mütter, Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche Harmonie zueinander zu setzen vermochten. Ich erinnerte mich vor allem jener Advokatin, die neben ihrer großen Praxis sechs Kinder erzogen und einen großen Haushalt allein geleitet haben sollte.
»Infame Lügen alter Jungfern!« dachte ich grimmig. Und doch war ich selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich nach Haus, so fand ich mein Kind in guter Obhut und unseren Tisch gedeckt.
Der Berta, die mit so viel Tränen durchgesetzt hatte, bei mir zu bleiben, verdankte ich die äußere Arbeitsmöglichkeit. Ich konnte ihr nicht dankbar genug sein.
Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt und in der Fabrik, während die Straße ihrer Kinder Hüterin ist und sie gezwungen sind, nach der Hast der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für sich und die Ihren selbst zu bereiten. So unschätzbar die wirtschaftliche Selbständigkeit des Weibes sein mag, sind die Opfer des Mutterherzens und des Kinderglücks nicht ein zu hoher Preis für sie? Ich fand aus der Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not, auf der anderen Seite die liebezerstörende pekuniäre Abhängigkeit des Weibes vom Mann.
Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene Zeit eine Untersuchung über die Arbeit verheirateter Frauen in der Industrie angestellt. Die Ergebnisse lagen mir vor: überall war es die bittere Notwendigkeit, die ihnen zwischen dem natürlichen Weibesberuf und dem Erwerb außerhalb des Hauses keine Wahl ließ. Und alles deutete darauf hin, daß ihre Zahl ständig zunehmen würde. Nichts schien mir im Augenblick so wichtig, als die Lösung dieser brennenden Frage. Es galt auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter zurückzugeben, und auf der anderen, das Weib von der Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich baute meinen alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, — fest überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen gezwungen sein würden, ihm näher zu treten. Aber selbst seine Verwirklichung würde die notwendige Arbeitsteilung zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht herbeiführen.
»Laß einmal heut deine Nachmittagsarbeit,« sagte Heinrich eines Tages, als ich in meine Grübeleien versunken nach Hause kam. »Wir sind zur Einweihung eines Arbeiter-Restaurants geladen, — France und Jaurès werden dort sein —«
»Du weißt, ich darf mich nicht ablenken lassen,« antwortete ich mißmutig.
»Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um eine Ausnahme von der Regel zu entschuldigen,« meinte er. »Eine genossenschaftliche Gründung der Art liegt auf dem Wege zu unseren Zielen.« Ich horchte auf: irgend etwas, halb Unbewußtes, packte mich.
In einer engen Seitenstraße des Boulevard Montparnasse lag ein altes kleines Haus geduckt zwischen hohen Mietskasernen. In seinem neuen Anstrich, mit den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an den Fenstern sah es lustig aus wie ein altes Männlein, das goldene Hochzeit feiert. Drinnen um die festlich gedeckten Tafeln herrschte eitel Fröhlichkeit.
»Daß wir es erreicht haben, — endlich!« sagte glückstrahlend einer der Leiter. »Seit Jahren sammeln wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte zu befreien, und um den zahllosen arbeitenden Familienmüttern ein gutes und billiges Mittagsmahl zu verschaffen.«
Ich reichte dem Manne die Hand und drückte sie herzhaft; er sah mich verwundert an: er konnte nicht wissen, welch ein Geschenk er mir eben gegeben hatte.
Die breite Gestalt von Jaurès erschien in der Türe, hinter ihm die elegante eines vornehmen Graubarts, dessen geistfunkelnde Augen über die große schiefe Nase unter ihnen zu spotten schienen. »Anatole France,« stellte Jaurès ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem Gespräch.
»Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft irgendwo einen Fuß breit Boden gewinnt,« sagte er; »je mehr die Bourgeoisie an Idealismus verloren hat, desto unfruchtbarer ist sie für uns Intellektuelle. Wir müssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.«
»Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu denen, die zwar an Hoffnungen arm, aber an Gold und Juwelen um so reicher sind —,« antwortete ich.
Er lächelte ungläubig: »Wirklich?! In einem Lande, das sprichwörtlich reich an hungernden Dichtern und arm an Männern ist?!«
Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus der Tasche, überflog es wieder und wieder und reichte es Jaurès: »Ich bin kein Redner und soll durchaus sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?« Dabei stieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte Gesicht des berühmten Mannes.
Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben, daß die vielen Menschen um uns herum mit den selbstverständlich guten Manieren, dem freimütigen Ton, der ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des Milieus ausglich, die Ärmsten der Armen waren. Ich sah es erst allmählich an den hohlen Wangen und sorgfältig vernähten Flicken auf den Kleidern. Und doch aßen und tranken sie, als ob sie alle Tage satt würden.
France sprach; stockend, schüchtern, aber mit einem so warmen Ton in der Stimme, daß er alle gefangen nahm. Und dann wußten sie auch von ihm: »Unser großer France,« flüsterte stolz einer dem anderen zu, und ein paar kleine Nähmädchen mit harten zerstochenen Fingern brachten ihm die Veilchensträußchen, die sie im Gürtel trugen.
Als ich am nächsten Tage wieder bei der Arbeit saß, war mein neuer Plan fix und fertig: »Haushaltungsgenossenschaften« nannte ich ihn. In den Arbeitervierteln der großen Städte sollte jede Mietskaserne mit einer Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert. In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften müßte der Anfang damit gemacht werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt der Mutterlosen sollten sich anschließen; die genossenschaftliche Wirtschaft, der Einkauf im Großen müßte, so berechnete ich, die Kosten für die anzustellenden Arbeitskräfte aufbringen. Einsichtige Kommunen würden sich allmählich bereit finden, solche, für die physische und moralische Gesundheit der Bevölkerung überaus wichtige Häuser selbst zu bauen. Mit der Befreiung von der doppelten Arbeitslast der Hauswirtschaft und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung entgegengeführt werden. Und was für die Arbeiterin galt, das galt ebenso für die geistig tätige Frau. Ich war so erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem Herzklopfen nächtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache konnte ich bis zum Erscheinen meines Buches nicht warten. Gerade jetzt, wo das Problem der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand, mußte ich damit hervortreten.
Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß ich an der Hand der neuesten Fabrikinspektorenberichte eine kurze Broschüre über die für die Arbeiterinnenbewegung so wichtige Frage der Beschäftigung verheirateter Frauen in der Industrie schreiben wolle und von ihr nur erfahren möchte, ob nicht etwa von anderer Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche Details gab ich ihr nicht.
Sie antwortete mir umgehend, daß sie selbst seit längerer Zeit mit der Bearbeitung der Frage beschäftigt sei. »Ich habe mich nunmehr entschlossen,« fuhr sie fort, »die einzelnen Teile meiner Arbeit als selbständige Broschüren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen leichter zugänglich zu machen. Die erste enthält die grundsätzliche Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit verheirateter Frauen und des gesetzlichen Arbeitterinnenschutzes, das Manuskript liegt im wesentlichen bereits fertig vor... Sie werden mir kaum zumuten, auf die Veröffentlichung zu verzichten, weil an anderer Stelle die Behandlung derselben Frage beabsichtigt wird...«
Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als es mir nichts genutzt haben würde. Ich wollte auch nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen Konkurrenzkampf eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, — mir würde nachher genug zu sagen übrig bleiben.
Während der Monate, die wir noch in Paris verlebten, erschien sie jedoch nicht, und die verschiedenen Parteibuchhandlungen wußten nichts von ihr.
Schwer und grau hing der Winterhimmel über Paris. Zuweilen tanzten weiße Flocken in der Luft, und dann schien's, als ob es hell werden wollte; aber die schmutzige Straße verschlang sie. Die Obst- und Gemüseauslagen, die im Sonnenschein sonst so bunt und lockend den Vorübergehenden angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus. Die kleinen Mädchen mit den schönfrisierten Köpfchen, die vor kurzem noch lachend und kokettierend mit spitzen Hacken klappernd über das Pflaster getrippelt waren, liefen jetzt fröstelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mißmutigen Gesichtern.
Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und träumen könnte! Aber nach wie vor ging ich dieselben Wege durch alte enge Gassen und saß mit eisigen Füßen in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris war, in dem ich lebte? Lebte?!! War das wirklich Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich die schmutzige Taglöhnerstraße verschlungen? Mich, die ich licht und frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen aus unserem stillen Stadtwinkel zum rechten Seineufer hinübergingen, wo die Bogenlampen festlich zu strahlen beginnen, wo hinter glänzenden Spiegelscheiben Juwelen und Spitzen und märchenhaft schimmernde Gewänder prahlend ihre Schönheit entfalten und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen, aus denen schöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie seltene Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, — nur zum Schmuck einer Nacht gezüchtet, — dann fühlte ich im verborgensten Winkel meines Herzens einen stechenden Schmerz.
Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedrängt arme junge Mädels; sie warteten auf die eleganten Damen, die mit seidenbeschuhten Füßchen und langen Schleppen den Wagen entstiegen. Sie ließen sich von den Rädern mit Kot bespritzen, um vom Glanze des Lebens nur einen Schein zu erhaschen.
Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, — auch bei Millerand, — und waren mit einer Liebenswürdigkeit empfangen worden, als wären wir längst erwartete alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar förmlichen Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Gesprächen. Während mein Mann einen unvereinbaren Gegensatz in dem Benehmen unserer Gastgeber empfand, fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner Jugend zurückversetzt und verstand sie.
Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat jene Kultur des Benehmens, jene Liebenswürdigkeit der Form, die zugleich eine unübersteigliche Mauer ist, hinter der sich das persönlich Menschliche verbirgt.
Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen Herrin tout Paris um sich zu versammeln verstand. Sie war von unverwüstlicher Schönheit, und ihre Küche war berühmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. »Hast du dich denn nicht amüsiert?« fragte er mich schließlich.
»Ganz und gar nicht,« antwortete ich, »und wenn ich nicht fürchten müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in deinen Augen herabsetzt, —«
»Aber Alix,« lachte er und zog meinen Arm fester durch den seinen, »du weißt, daß du mich immer entzückst, wenn du du selber bist.«
»So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen, daß ich die Rolle des unbeteiligten Zuschauers in jeder Gesellschaft, — und wäre es die interessanteste, — unerträglich finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu erfahren, daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert ihrer Kosmetik und ihrer Toilette steigt und fällt, aber da ich auf dem Gebiet nicht konkurrieren kann —«
Heinrich lachte noch lauter. »Du liebe Eitelkeit, du,« war alles, was er sagte, während die Röte der Beschämung mir noch auf den Wangen brannte.
Ein andermal folgte ich der Einladung einer der führenden Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer Zeitung. Ich bewunderte schon lange die Energie, mit der sie die Frauen — französische Frauen! — zwang, die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an der Seite der Zola und Jaurès an dem Kampf für Dreyfus teilgenommen hatte. Ich erwartete unwillkürlich eine typische Feministin: harte Züge, eckige Bewegungen, männliche Kleidung. Schon die Räume, die ich betrat, überraschten mich; sie hatten alle das Aussehen und das Parfüm eines eleganten Boudoirs. Ein paar Damen gingen vorüber, — sie hätten ebenso beim five o'clock im Grand Hotel erscheinen können. Dann kam die Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet wäre, ich hätte mich nicht gewundert. Ihre Schönheit hatte trotz aller statuenhaften Kühle, — oder vielleicht gerade deshalb, — etwas Sieghaftes.
»Je radikalere Feministen wir sind, desto stärker müssen wir unser Weibsein betonen,« sagte sie im Lauf des Gesprächs. Ich stimmte ihr lebhaft zu und dachte an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den Gegensatz zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin nicht genug glaubten zeigen zu müssen.
»Sie vergessen nur eins,« fuhr ich fort. »Die Pflege der Schönheit kostet Zeit und Geld. Und die eigentlichen Trägerinnen der Frauenbewegung, die Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben keins von beiden.«
»Darum müssen wir es ihnen schaffen,« warf sie lebhaft ein und führte mich, um ihre eigene Tätigkeit nach dieser Richtung zu illustrieren, in den Setzersaal, wo lauter junge Mädchen beschäftigt waren. Unter den großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die hübschen Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören können. Ihre Augen folgten mit schwärmerischer Bewunderung der stolzen Gestalt ihres weiblichen Chefs, die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich hörte später, sie sei eine grande amoureuse, eine von jenen, deren Herzen kalt bleiben, wenn ihre Sinne glühen. »Ihre Mittel sind unerschöpflich,« sagte man mir mit einem vielsagenden Lächeln. Mich interessierte dieser Typus, der mir in Deutschland nicht würde begegnen können. Ich versuchte, ihr näher zu treten. Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebenswürdig, — aber unnahbar.
Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu. Mein Buch war fast fertig. Es fing schon an, sich von mir loszulösen und vor mir zu stehen wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Gehöriges, mit dem ich auch innerlich abgeschlossen hatte. Es war wie eine erstiegene Höhe, von der aus ich nun weiter gehen mußte. Meine Gedanken kreisten immer enger um die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. Meine Hoffnungen, genährt von der Liebe zu meinem Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte gefunden zu haben, übertönten die leise warnenden Stimmen meines Inneren.
»Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,« sagten sie.
»Du wirst die Sache zum Siege führen, wenn du dich selbst hingibst,« frohlockte die Hoffnung.
Ich glaubte ihr.
Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte mich während der letzten acht Tage, daß ich in Paris war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden Morgen mit »Mamachen« gehen durfte. Die Berta hatte auf ihren Spaziergängen mit ihm viel mehr gesehen als ich; der kleine Bub wurde mir zum Führer. Er kam sich dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich in atemloser Eile durch die Tuilerien hindurch zu »der Frau, die ein Soldat war«. Ich lächelte: war es doch meiner frühsten Kindheit Traum gewesen, das Vaterland zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher, Frankreichs Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild vor mir; sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, — unbeirrt; aus dem Scheiterhaufen, der ihren Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch größer.
»Die Jungfrau von Orleans, — ist das ein Märchen?« fragte der Kleine, als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, und sah mit nassen Augen zu der Reiterin empor.
»Nein, es ist Wahrheit,« antwortete ich.
»Warum verbrannten sie denn die bösen Menschen?« Auf seine glatte Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des Zornes.
»Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,« sagte ich leise, wie zu mir selbst.
Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes standen wir miteinander. Ein breiter Strom bläulichen Lichtes entsprang ihr und wogte tief unten um den roten Porphyr, der des großen Korsen Gebeine umschließt. Der Gang ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im Dämmer zurückzutreten. Mit leiser Stimme erzählte ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament der Revolution vollzog, und der auf der Felseninsel im Weltmeer starb — in Ketten.
»Auch weil — weil —« das Kind neben mir suchte nach den Worten, deren Sinn er nicht verstanden hatte; »weil er zu groß war für die anderen,« ergänzte ich.
Am letzten Tage vor unserer Abreise kämpfte der erste Frühlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken; grüne Spitzchen lugten neugierig an Büschen und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die Kinder mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die Gärten.
Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte die Menschen, die Welt, die Jahrhunderte durch die Augen der Größten aller Zeiten gesehen und fühlte meinen Geist heller, mein Herz wärmer werden. In der Kunst kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern wie die Augen sind, die sie betrachten. Nur der Künstler hat recht, dem sie immer Objekt bleibt, der im Häßlichen noch das Schöne, im Bösen das Menschliche findet.
Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den Kleinen mit mir.
»Zur Göttin der Griechen wollen wir,« sagte ich ihm, »die Odysseus und Achilles anbeteten.«
Die Leute drehten sich um, lächelnd, spottend, entrüstet, als sie mich mit dem Kind an der Hand durch die Säle gehen sahen, bis dahin, von wo der Venus von Milo weiße Gestalt uns entgegenleuchtete.
»Warum beten die Menschen nicht?« flüsterte mein Sohn, der die Mütze vom Köpfchen gezogen hatte.
In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewußtsein ihrer Macht und Schöne, zeitlos, beziehungslos. Ihr Blick schweifte hinweg über die Menge, gleichgültig, ob sie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrschte, sie begeisterte und belebte, nicht weil sie vom Sockel stieg in den Dienst der Massen, sondern weil sie vollendet war in sich.
Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, die die Menschen, denen sie dienten, gekreuzigt hatten: die Heiligen, die Madonnen, die Christuskinder. Sollte der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der Griechen und nicht der Himmel der Christen sein?
Ich strich mit der Hand über die Stirn. Es war etwas wach geworden in mir, das schlafen mußte.
Ein weiches Händchen nestelte sich in das meine: »Warum hat die Göttin keine Arme, Mamachen?«
»Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt, die ihrem Tempel entliefen.«
Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen. Mir schien, als wären wir Fremde. Wie klein, wie armselig war das alles: die Linden mit ihren kraftlosen Bäumen und stillosen Häusern, der Pariser Platz mit seiner bedrückenden Engigkeit. Und die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau, die sich herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das sie besaß, darüber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler: Der Kontrast zwischen ihrer kreischenden Lautheit in Tönen und Farben und dem matten Grau des Märztages tat Augen und Ohren weh.
»Ich möchte wissen, wo ich zu Hause bin,« seufzte ich und legte mich abends mit jenem Gefühl innerer Leerheit schlafen, das uns zuweilen überkommt, wenn wir eine Staatssoirée hinter uns haben. Mir träumte von einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am Morgen hörte ich sein Rollen und Rauschen, und je wacher ich wurde, desto stärker schwoll es an. Vom Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omnibusse, Lastwagen, eilende Menschenfüße waren die Instrumente dieses Konzertes; Berlin ging auf Arbeit. Da war kein Winkel ohne Leben.
Drüben in der Leipzigerstraße waren unter der Spitzhacke alte Mauern zusammengebrochen, und sieghaft erhob sich jetzt, von Riesengranitpfeilern getragen, ein mächtiges Warenhaus, wie selbst Paris es nicht kannte, aus dem märkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau Gotik, Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie seine reklameschreienden Schaufenster die Waren, — ein Stück neuer Kultur vielmehr, die die Schönheit der Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der Kunst über sie ausgoß. Die Menschen strömten aus und ein. Sie trugen von all jenen glänzenden Goldblumen und köstlichen Steinreliefs, die seine inneren Räume schmückten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten und gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen und Lichtgirlanden einen Schimmer von Schönheit mit sich nach Haus.
Jenseits des Platzes waren Baumriesen gestürzt, denn dem Verkehr mußte die Straße sich weiten, und an der Peripherie der Stadt standen reihenweise die Holzgerüste, wie gewaltige Pallisaden, — Zeichen dafür, daß das alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde.
Ein Emporkömmling ist sie, — gewiß! Aber keiner, den das Glück aufwärts trug. Vielmehr einer, der sich durch die Kraft seiner Fäuste den Weg bahnte.
Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten jenes gemächliche Schlendern nicht, mit dem Lächeln der Behaglichkeit auf den Lippen und kokettierenden Blicken hin und her. Aller Züge schienen gespannt von nervöser Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken.
Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt kündeten das Nahen von Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in Preußen die bewaffnete Macht erscheint, gehört ihr die Straße. Und hypnotisiert durch den Marsch, durch die Masse, durch wehende Federbüsche und blinkende Uniformen, drängte jung und alt ihr nach, ihr voran.
Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue Kaserne: in nächster Nähe des Schlosses war sie errichtet worden, eine Zwingburg mit Mauern und Schießscharten; und vom Lustgarten aus führte der Kaiser selbst seine Garde dem neuen Heime zu, während die Polizei in weitem Bogen das gaffende Volk beiseitedrängte, damit der Herrscher allein blieb mit seinen Truppen. »Ihr seid die Leibwache eures Königs,« sagte er, »und wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48 sich wider ihn erheben wird, so seid ihr berufen, die Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer Bajonette zu Paaren zu treiben.«
Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum befunden hatte, nun wußte ich: wir waren in Berlin.
Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren erst kürzlich von einer langen Seereise zurückgekehrt, die der Arzt ihnen verordnet hatte, und schienen, nach den Briefen meiner Schwester zu schließen, befriedigt von ihrem Erfolg. Und nun standen sie mir gegenüber, so anders als ich sie verlassen hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen aus meines Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug hing um ihn, als wäre sein Körper nichts als ein Knochengerüst. Nur sein Geist schien lebensvoller als je und sprühte Funken. Das Schwesterchen dagegen war ebenso still, wie sie blaß und schmal war. Wo war das runde Kindergesicht und die glänzenden Augen? Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals lauter Wärme ausströmte, hatte eine Atmosphäre abweisender Kühle um sich. Ihre Lippen glichen jetzt denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah, daß sie sich mir nicht öffnen würden, und forschte in ihren Zügen; aber auch sie blieben verschlossen. Ob sie unglücklich war, weil sie kein Kind hatte? Erdmann spielte stundenlang mit meinem Buben, während sie ihn kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der Mutter, die den Winter in Italien verlebt hatte und Briefe schrieb wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal in die Welt sieht.
»Sie ist glücklich, seitdem sie allein ist,« sagte Ilse. Ein flehender, gequälter Blick ihres Mannes traf sie.
»Was spielst du jetzt?« fragte ich, zum Flügel deutend, um das Gespräch abzulenken.
»Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich nervös,« antwortete sie.
»Auch die Oper??«
»Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion. Man kann sie bestenfalls ertragen, wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber da man immer den übrigen Pöbel um sich hat — —«
Sie unterbrach sich und schürzte ein wenig spöttisch die Lippen: »Ach so, — entschuldige! Ich vergaß, daß ich euer proletarisches Empfinden kränken könnte.«
Erdmann lachte. »Nun — nun,« meinte er begütigend, »der Pöbel des Parketts dürfte doch auch in euren Augen mit dem Proletariat nicht identisch sein. Übrigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus und das Überbrettl sind für unsereins allein noch erträglich. Hohe Kunst auf der Bühne ist verletzend für Menschen von Kultur. Man sollte dafür Marionettentheater schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller hängen, damit sie wie Schatten wirken.«
»Unvergleichliche Wirkungen müßten sich dadurch erzielen lassen,« sagte Ilse, etwas lebhafter werdend, »zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie diesen hier.« Sie wies auf das neuste Heft der Blätter für die Kunst, das dramatische Gedichte von Schülern Stefan Georges enthielt.
»Ich lese sie noch immer nicht,« entgegnete ich lächelnd; »weniger denn je kann ich heute die hochmütige Abkehr vom Leben vertragen, die das Kennzeichen all dieser Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der Sprache und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände wie Absinthtrinker.«
Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer schärfer zuspitzte. Ilse bekam heiße Wangen und mitten im Gespräch einen heftigen Hustenanfall, der mich angstvoll aufhorchen ließ. Erdmann sah in diesem Augenblick wie verstört drein. Und wie um gewaltsam den Eindruck abzuschütteln, beschloß er, uns durch den Tiergarten zum Hotel zurückzubegleiten.
»Ich bin zu müde —,« sagte Ilse.
»In der frischen Luft wirst du schon munter werden,« damit drängte er sie hinaus.
Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns grüßten. Das stimmte ihn fröhlich. »Lauter Leute, die ich einrichte,« sagte er. »Wenn ich erst all den Berlin-W.-Protzen zu anständigem Wohnen verholfen haben werde, kann ich den ganzen Kram an den Nagel hängen und Pinsel und Palette wieder vorholen. Was, mein kleines Ilschen?!« Und zärtlich schob er seinen Arm in den ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer.
Als die Mutter zurückkehrte, äußerlich und innerlich verwandelt, frisch und strahlend, dabei mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles stürzte, was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett.
»Er wird sich erholen, sobald es warm wird,« sagte sie zuerst, und erzählte voll freudigem Eifer von ihren schweizer Sommerplänen. Ein paar Tage später sah ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die Ärzte hatten sie aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwindsucht, Ilse schien angesteckt.
Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten in ein heidelberger Sanatorium übersiedeln. Die seidene Decke, unter der er lag, bauschte sich kaum sichtbar über dem Körper; die mageren Finger führten eifrig den langen Bleistift über das Papier auf seinem Schoß. »Ich muß doch für Prinzessin Ilse Geld verdienen,« und ein leidenschaftlicher Blick traf die schöne junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und pflichttreu, die Arznei zum Munde führte.
Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hause kam. Nicht nur, weil meine Schwester in einem Augenblick, wo ich sie unglücklich wußte, mir fremd, fast feindselig gegenüberstand, sondern weil sie das Opfer einer Ehe war, von der ich sie vielleicht hätte zurückhalten können. Ich empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf.
»Vor Kinderschmerzen hast du mich einst gehütet,« schienen ihre Augen zu klagen, »warum hast du mich vor dem schlimmsten nicht bewahrt?« Und wenn sie meinen Buben geflissentlich übersah, so wußte ich, was sie damit sagen wollte: »Du hast mich über ihm vergessen.«
Unser Einzug in die neue Wohnung, — einem Gartenhaus der Uhlandstraße, — war kein fröhlicher. All die tausenderlei Dinge, die mit ihm zusammenhingen, vom Auslösen der Möbel auf dem Speicher bis zu den Löhnen der Handwerker, hatte unser letztes Geld verschlungen.
»So mach dir doch nichts draus, — quäle nicht dich und mich mit unnützen Sorgen,« rief Heinrich heftig, als ich ihm unsere Lage auseinandersetzte. Ich schwieg verletzt. Er war wie ein geistig Weitsichtiger, der das Nächste nicht sieht, dem immer nur das Ferne gegenwärtig ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn völlig. So mußte ich mir selber helfen. Ich bat den Verleger meines Buches um mein Honorar. Er erfüllte meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte sich nicht einmal, wieso ich plötzlich Geld hatte. Für ihn schienen die pekuniären Seiten des Lebenskampfes nicht zu existieren, mir dagegen nahmen sie alle Schwungkraft und machten mich bis zur Grausamkeit bitter gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um ein Darlehn, so gab er, was er in der Tasche hatte. Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben sich seine Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger vor, daß er mir mit einem: »Sieh lieber, daß deine Berta dich nicht betrügt!« antwortete. Dann erst war die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien mir ungerechter, als dieses Mädchen zu verdächtigen, das sich für uns aufopferte und nicht einmal eine Aufwärterin zu ihrer Hilfe zuließ. Daß sie allmählich in ihrem Aussehen und Benehmen zu einem »Fräulein« geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen nur vorteilhaft, während Heinrich es als Folge meiner Verwöhnung ansah und behauptete, ich verdürbe nur das einst so schlichte Bauernmädchen.
Lange freilich währten unsere gegenseitigen Verstimmungen nie. Vor den klaren Augen unseres Kindes, denen nichts entging, schämten wir uns ihrer. Seine Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern vergiftet werden, wie die meine.
»Nu lach doch wieder ein ganz kleines bißchen!« Damit kletterte er schmeichelnd auf seines Vaters Knie. »Nich wahr, Mamachen, du gibst dem Heinzpapa gleich einen dicken, runden Kuß!« Damit lief er zu mir und legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine Wange.
Waren wir so versöhnt, so fühlten wir den Stachel nicht, der sich trotzdem immer tiefer in unsere Herzen bohrte.
Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen meine Rückkehr mitgeteilt. Auch das war der Anlaß zu einer kleinen Auseinandersetzung zwischen uns gewesen.
»Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare Arbeit stürzen?!« sagte mein Mann ärgerlich.
»Gewiß,« entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die mich immer überkam, wenn ich meine persönliche Freiheit durch ihn gefährdet glaubte. »Ich sehe die Frauenbewegung mehr denn je als das Gebiet an, auf dem ich wirken muß.«
»Du wirst in unserer Zeitschrift genug für sie tun können, — mehr als in eurem Kaffeekränzchen!«
Ich zuckte spöttisch die Achseln und meinte gedehnt: »Wenn ich darauf warten soll!« Im selben Moment aber bereute ich schon, ihn an seiner empfindlichsten Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war.
Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschluß von Bernstein, der sie noch von London aus in Briefen an meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, stimmten ihr rückhaltlos zu, aber es fand sich niemand, der auch nur einen Pfennig für sie gegeben oder sich sonst um ihre Ausführung bemüht hätte. Daß auch dies nur ein Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des Revisionismus war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung war vorhanden, aber es fehlte ihr die starke Hand eines Führers, der sie zusammenzufassen und ihr Richtung zu geben vermag. Wir erwarteten für die Sache wie für unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten stehen sollte, von dem persönlichen Eingreifen Bernsteins nicht wenig.
An einem Maienabend des Jahres 1901, dessen Luft vom Brodem lebensschwangerer Erde so gesättigt war, daß er selbst mitten in der steinernen Öde der Stadt fühlbar wurde, drängten sich die Menschenmassen in einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren Haaren und Kleidern den Duft des Frühlings mit herein, und der ganze Raum schien erfüllt von seinem Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die intellektuelle Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich selbst? War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die einer großen Kraft und eines großen Kampfes würdig waren? Die sozialwissenschaftliche Studentenvereinigung Berlins hatte diese Versammlung einberufen und Eduard Bernstein zum Redner gewählt. Ihre berühmtesten Lehrer saßen unter ihnen, dazwischen die politischen Führer jener Linken, — die Barth, die Naumann, die Gerlach, — die, abgestoßen von allen anderen bürgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie die unfruchtbare Rolle des Puffers spielte. Sie alle hofften, — bewußt oder unbewußt, — daß dieser Abend irgendeine Quelle erschließen würde, an der sie nicht nur ihren Durst stillen könnten, sondern deren Wasser sich zum Strome weiten und alle ihre irrenden Schiffe zu tragen vermöchten.
»Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« lautete die Frage, auf die Bernstein die Antwort geben wollte. Er trat an das Rednerpult. Hinter den Brillengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. Dann sprach er. Mit einer Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann, der an die Enge der Studierstube gewohnt war, nicht an die Volksversammlung. Schon zog der Schatten der Enttäuschung über den hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern. Schüchtern und leise tauchte hie und da schon die Frage auf: »Was hat er eigentlich? — Was will er?«
Daß der Sozialismus von spekulativem Idealismus erfüllt und darum nicht Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen Streben nach Erkenntnis bestehe; daß die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten Zieles, vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild getragen sei und nicht vom Wissen, — es war kaum möglich, aus der langen Rede etwas anderes herauszuhören, als diese wenigen, für den Ausgangspunkt einer neuen Bewegung viel zu negativen Gedanken.
Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts wäre als das laut gewordene Grübeln eines Menschen über Dinge, die ihn selbst noch als Probleme quälen. Er war so mit sich beschäftigt, daß er nicht fühlte, jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuhörern verband, sich mehr und mehr verflüchtigte, statt daß er ihn benutzt hätte, um die unerschütterten, befreienden Gedanken des Sozialismus diesen offenen Seelen einzuprägen, ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach dem ihre junge Kraft sich sehnte.
Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, und ein Zweifler war gekommen, dem des Pontius Pilatus Frage Geist und Gewissen bewegte.
Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder, als wir den Saal verließen. Mich fröstelte. Ich wäre am liebsten still nach Hause gegangen.
»Nun?! In diesem zweieinhalbstündigen Redefluß sind Ihnen wohl alle Felle weggeschwommen?« sagte eine sarkastische Stimme neben mir. Ich sah in Rombergs lächelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung; mir war nicht zum Scherzen zumute. »Und nun rasch, kommen Sie beide mit, in irgend einen gemütlichen Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erzählen;« damit versuchte er, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Seine aufrichtige Freude über unser Wiedersehen tat mir in diesem Augenblick, in dem ich so viel verloren zu haben glaubte, doppelt wohl.
»Lassen wir's heute,« meinte mein Mann mißmutig, »wir würden nur Ihre gute Laune verderben.«
»Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere ist,« lachte Romberg.
Wir gingen zusammen in eins der zunächst gelegenen Restaurants, aber der »gemütliche Winkel«, den wir uns aussuchten, wurde rasch zum Kriegsschauplatz, denn eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand sich allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis seinem Herzen Luft zu machen. Es zeigte sich nun erst recht, wie unklar Bernstein gesprochen hatte: je nach der politischen oder philosophischen Richtung, der der einzelne zugehörte, gab er seinen Worten eine andere Deutung.
»Das Todesurteil des Marxismus!« triumphierte der Nationalsoziale.
»Nein,« antwortete scharf einer unserer radikalen Parteigenossen, »ein Todesurteil seiner selbst! Er hat als wissenschaftlicher Sozialist abgedankt.«
Und nun wurden aus seiner Rede einzelne Sätze herausgerissen, die der und jener sich notiert hatte, und betrachtet und zerpflückt. Als eine Rückkehr zum Utopismus wurde bezeichnet, daß er die »Wünschbarkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung« für den Hebel der Agitation und die werbende Kraft der Partei erklärt hatte.
»Nur alte wundergläubige Weiber lockt man damit hinter dem Ofen hervor,« spottete einer; »auch das himmlische Jerusalem war ›wünschbar‹, und doch haben wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar blieb.«
»Vollends lächerlich,« fügte ein anderer hinzu, »ist die Behauptung, daß die Einsicht in die größere Gerechtigkeit sozialistischer Einrichtungen uns zu Sozialisten gemacht hat. Mag sein, daß Mitleid mit den Armen, Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst in unsere Reihen trieb. Aber bloße Empfindungen verflüchtigen sich, wenn die Erkenntnis sie nicht auf realen Boden zwingt. Würde Bernstein wirklich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen können, so wäre er so viel wert, als das Christentum bisher gewesen ist.«
Romberg hatte zuerst ruhig zugehört.
»Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er ihnen nicht die letzte Wahrheit gab!« sagte er nun, während aller Augen sich auf ihn richteten. »Die Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges Suchen! Er sucht, und beweist dadurch, daß er denkt. Wissenschaftlich abgedankt hat nicht er, sondern haben diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im Lehrgebäude des Sozialismus für ein unersetzliches Glied in der Kette der sozialistischen Beweisführung halten. Dieser Dogmatismus könnte die Bewegung töten, nicht aber der Revisionismus, auch wenn er sich noch so täppisch gebärdet.«
»Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende Ideen des Marxismus?« wandte der Nationalsoziale ein.
»Und wenn schon?!« antwortete Romberg. »Der Bau des marxistischen Systems ist so genial, daß sich Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu gefährden. Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus der Welt, sie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit des Sozialismus zu beweisen.« Er trank sein Glas leer und erhob sich mit einem hochmütigen Blick auf die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. »Unser Schicksal ist unentrinnbar, — damit muß man sich abfinden,« sagte er, »aber wünschbar — weiß Gott! — ist's für unsereinen nicht. Ich bin bloß froh, daß die berühmte 'lutte finale' sich erst auf meinem Grabe abspielen wird.«
Wir gingen zusammen.
»Ich danke Ihnen,« sagte ich, als wir draußen waren; der niederdrückende Eindruck der Rede Bernsteins war verwischt.
»Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie gesprochen —,« es war der teilnehmende Blick eines Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die Augen sah, — »ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, daß mir Ihr Kummer förmlich weh tat.«
Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte ihn in unsere Pläne ein.
»Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende gar mittun?!« wandte er sich an mich.
»Mit allen Kräften, — gewiß!« antwortete ich. »Was können Sie dagegen haben, nach all den Gedanken, die Sie heute über den Sozialismus entwickelten.«
»Ich mag Sie mir nicht vorstellen, — auf dem Drehschemel vor dem Redaktionspult, — die Schmierereien anderer Leute korrigierend. Sie gehören ins achtzehnte Jahrhundert —«
»Gewiß! An die Seite der Madame Roland —!« unterbrach ich ihn rasch.
Nach und nach erwärmte er sich für unseren Gedanken. »Mit all dem Kleinbürgerlichen, Philiströsen in Ihrer Partei werden Sie gründlich abrechnen müssen,« meinte er im Laufe des Gesprächs, »weite Horizonte geben, die über den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.« Und er verbreitete sich über die Stellung der Partei zur auswärtigen Politik.
»Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,« sagte mein Mann. »Sie werden kaum erwarten, daß ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre Wandlungen mitmache.«
»Wandlungen?! Wieso?!« ereiferte sich Romberg. »Es entspricht der Konsequenz meiner Entwicklung, daß ich für den Kolonialbesitz Deutschlands eintrete und demzufolge für die Flottenvorlage agitiert habe. Traurig genug, daß ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! Das ist, — verzeihen Sie, liebe Freundin! — der unglückselige feministisch-sentimentale Einschlag in der Sozialdemokratie, der sie für die notwendigen, großen, — wenn Sie wollen — grausamen Forderungen der Kultur blind und taub macht. Der Kampf um die Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung. Die Frage, die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns die Erde gehören oder den Negern und den Chinesen? Die Antwort scheint mir nicht zweifelhaft.«
Ich sah empört zu ihm auf: »So sind Sie für das Chinaabenteuer mit all seinem Gefolge von Hunnentum und für die Kolonialkriege mit all ihrer Unmenschlichkeit?! Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur erfüllen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!«
»Ich bin für die Erschließung Chinas, die für unseren Handel eine Notwendigkeit ist; ich bin für die Kolonialkriege, die den Boden gewinnen für unsere Volksvermehrung, aber daraus folgt doch nicht, daß ich die Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um der größeren Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich sind ... Wir würden heute noch in Urwäldern wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid gehabt hätten.«
Eine lebhafte Debatte über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kolonien und der »offenen Tür« Chinas entspann sich zwischen meinem Mann und Romberg. Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und die wilden Tiere ließ mich nicht los und spann sich wie von selber weiter. Ich horchte erst auf, als Romberg sagte: »Wenn die Sozialdemokratie sich nicht entschließt, die Sache der Starken zu führen, so wird ihr Sieg eine Niederlage der Menschheit sein.«
Vor unserer Haustür nahmen wir Abschied voneinander.
»Was wird denn aber mit dem Archiv?« wandte sich Romberg noch einmal an Heinrich; »es wäre ein Jammer, wenn es zugrunde ginge!«
Mein Mann zuckte die Achseln. »Wissen Sie einen Käufer dafür?« fragte er statt einer Antwort.
»Einen Käufer? — Vielleicht!« meinte Romberg nachdenklich.
Eine leise Hoffnung stieg in uns auf.
An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal seit meiner Rückkehr mit den Genossinnen zusammen. Man empfing mich kühl, — fast als bedaure man, mich überhaupt wieder zu sehen. Ich unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Bald würden sie mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in ihren Händen, — das Buch, das eine wissenschaftliche Leistung und ein Bekenntnis war, — so würden sie mich alle freudig willkommen heißen.
In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte der Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen. Man hatte versucht, durch Einrichtung von Beschwerde- und Auskunftsstellen einen persönlichen Zusammenhang mit den der Bewegung noch fremd gegenüberstehenden Arbeiterinnen zu schaffen. Ich lächelte unwillkürlich, als ich davon hörte. Vorschläge der Art hatte mein so leidenschaftlich bekämpfter Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit enthalten.
Für den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschränkung der Fabrikarbeit verheirateter Frauen war auf Grund eines Parteitagsbeschlusses eine größere Agitation entfaltet worden. Die Erfolge waren minimal.
»Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, die wir verbreiten könnten,« meinte eine der Frauen.
»Ist denn Genossin Orbins Broschüre noch nicht erschienen?« fragte ich und begegnete erstaunten Gesichtern.
»Genossin Orbins Broschüre?!« wiederholte Ida Wiemer. »Von der wissen wir nichts!«
»Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine solche zu schreiben, aufgegeben!« rief ich aus, — noch immer wollte ich nicht glauben, woran doch nicht mehr zu zweifeln war: sie hatte mich nur an der Arbeit hindern wollen! Martha Bartels lächelte ironisch. Ich hörte, wie sie ihrer Nachbarin zuflüsterte: »Sie will sich nur aufspielen, — uns glauben machen, daß sie auch mal was zu arbeiten die fromme Absicht hatte —,« und ich sah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen und die Mienen sich klärten.
»Wenn Sie sich mit der Frage beschäftigt haben,« sagte sie dann laut und hochmütig, »so können Sie ja ein paar Referate übernehmen.«
Ich war bereit dazu.
»Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?« fragte die Vorsitzende des Arbeiterinnenbildungsvereins; »es müßte freilich ein anderes Thema sein.«
»Gern!« antwortete ich und war entschlossen, die Frage der Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit zur Erörterung zu bringen.
»Frauenarbeit und Hauswirtschaft« nannte ich meinen Vortrag, der schon eine Woche später stattfand. Der niedrige, enge Raum der Arminhallen war überfüllt, als ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen. Sie hatten mein Auftreten bei Gelegenheit des internationalen Frauenkongresses nicht vergessen und zeigten nicht gern ihr Interesse für mich.
Ich stellte in großen Zügen die Entwicklung der Frauenarbeit dar, von ihrer ersten Beschränkung auf das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung auf alle Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres Kreises alle Bedürfnisse der Familie hergestellt wurden, bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig geblieben war als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbstätigen Familienmütter, die physischen und seelischen Gefahren, denen ihre Kinder ausgesetzt sind, und ich erörterte die Zunahme der Berufsarbeit verheirateter Frauen nicht nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern auch auf dem der geistigen Arbeit. »Die unausbleiblichen Folgen dieser Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht der weibliche Körper unter der doppelten Arbeitslast des Hauses und des Berufs vorzeitig zusammen und der Geist büßt seine Leitungskraft ein, oder die Häuslichkeit wird vernachlässigt, und die junge Generation wird durch Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier Ernährung aufs äußerste geschädigt ... Die Gefahr ist zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit dem Appell an die Hilfe des Staats genügen lassen dürften, wir müssen zu gleicher Zeit zur Selbsthilfe greifen.« Und nun entwarf ich meinen Plan. »Hungernde englische Weber waren die Schöpfer der Konsumgenossenschaften, deren Kauffahrteischiffe heute die Meere durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter entsprang die Idee der Baugenossenschaften, deren Häuser überall aus der Erde wachsen, — sollte der Jammer der Frauen und der Kinder nicht die Haushaltungsgenossenschaft ins Leben rufen können?«
Ich fühlte die wachsende Erregung, die sich der Zuhörerschaft bemächtigte. Es war das Zentrum der Interessensphäre der meisten, in das ich getroffen hatte. Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch nicht gefaßt gewesen. Alle jene Gründe, mit denen die Sozialdemokratie vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften entgegengetreten war, mit denen sie heute noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, — als Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des Sozialismus, und vom allein wichtigen Kampf: dem politischen; als Versöhnungen des Proletariers mit dem Gegenwartsstaat, — wurden mir wie ein Hagel von Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte nicht an scharfen Seitenhieben auf meinen Revisionismus, der sich darin dokumentiere, daß ich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sozialistische Ideen verwirklichen wolle, wie die alten, überwundenen Utopisten.
Nur wenige unterstützten mich. Die Frauenrechtlerinnen schwiegen.
Bereits am nächsten Morgen ging mein Vortrag durch die Presse, entstellt, verspottet, beschimpft.
»Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben auf das Schlafzimmer beschränkt«, hieß es in der konservativen Presse; von der »Kaserne als Idealzustand« sprach die liberale. Als die Spottlust befriedigt war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts der drohenden Zerstörung der Familie ihre Kassandrastimme erhoben. Und in den »Sprechsälen« und »Frauenecken« zeterten die guten Hausfrauen, deren einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich sie schon durch die Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, — jetzt standen sie mir als ein Heer gerüsteter Feinde gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht nur der Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens.
»Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, wenn sie keine Hausfrau brauchen,« jammerte eine ehrliche Naive.
Ich wartete vergebens auf die Unterstützung der Frauen, die mir ihre Not oft selbst geklagt hatten: der Schriftstellerinnen, Ärztinnen, Künstlerinnen.
»Nur ein Jahr lang sollten unsere männlichen Kollegen Suppe kochen und Strümpfe stopfen,« hatte einmal eine von ihnen ausgerufen, »und wir würden an dem Fehlen großer Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit beweisen können!«
In den Blättern der Frauenbewegung fand mein Plan keinen Widerhall. Helma Kurz rief Ach und Wehe über mich, die ich »alle Frauen aus der trauten Häuslichkeit in die Kaserne« treiben wolle. Keine der Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Befreiung der erwerbstätigen Frau von der Sklaverei der Küche eine ihrer Programmforderungen sein müßte. Nur eine kleine Gruppe Menschen, die in der Öffentlichkeit unbekannt waren, schloß sich mir allmählich an, und ein paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt hätten, ein Haus nach meinem Plan aufzuführen, — mit abgeschlossenen kleinen Wohnungen und Speiseaufzügen aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur ein lebendiges Beispiel würde genügt haben, um die Bewegung in Fluß zu bringen. Aber wir waren zu wenige, um das Bestehen des Hauses zu sichern, und mein Name, — der der Sozialdemokratin, — schreckte viele ab. Sie fürchteten den kommunistischen Zukunftsstaat im Kleinen.
Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat mich, da sie krank sei, »in wichtiger Angelegenheit« um meinen Besuch. Sie reichte mir nur die Fingerspitzen, als ich eintrat.
»Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste verletzt,« begann sie im Ton eines Inquisitors, »und da es nicht das erste Mal geschieht, so bin ich verpflichtet, Sie zu warnen.«
Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was ich verbrochen hatte?!
»Ihre Agitation für die Haushaltungsgenossenschaft —« ich lachte ihr ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene scherzen?! Aber sie runzelte die Stirn, — es war ihr Ernst, blutiger Ernst! — »hat weitere Kreise gezogen, als gut ist. Dergleichen verwirrt die Köpfe, stört die Einheitlichkeit des Vorgehens —«
Ich stand auf. »Möchten Sie mir wohl noch mitteilen, worin meine erste Verletzung der Parteiinternen bestand?« fragte ich ruhig.
»Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit schon vergeben haben?« rief sie aus.
»Und durch ihn habe ich die Partei geschädigt?! — Sie sind ja jetzt schon im Begriff, teilweise auszuführen, was ich wollte —!«
Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: »Wenn Sie die Unterschiede nicht verstehen, so beweist das nur wieder Ihren Mangel an proletarischem Bewußtsein —;« dabei kreischte ihre Stimme wie auf der Rednertribüne.
»Mag sein!« entgegnete ich scharf. »Mir fehlt das Demagogentalent, um mich zur Proletarierin aufzuspielen.« Damit wandte ich mich zum Gehen, auf das tiefste verwundet.
Mein Vortrag erschien im Verlag des »Vorwärts« als Broschüre. Wanda Orbin »vernichtete« ihn in vier Leitartikeln, und ihre Autorität war viel zu gewichtig, als daß sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre Fühlhörner unsanft berührt werden, sich in ihr Haus zurückzieht, so hatte ich das Bedürfnis, mich zu verkriechen.
»Laß deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,« tröstete mich mein Mann; »sind sie lebenskräftig, so fällt dir die Frucht von selbst in den Schoß.«
Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er sich befand. Was mich schmerzte, war nicht das momentane Scheitern eines Planes, sondern daß ich Wanda Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren Fehlern, so groß erschienen war. Und daß sie die anderen beherrschte, zum Teil mit Mitteln, gegen die ich mich waffenlos fühlte!
Nun galt es, statt alle Kräfte auf den Kampf für die gemeinsame Sache zu konzentrieren, sich für den eklen Streit im eigenen Lager stets gewappnet zu halten.
Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbrödler werden könnte, mit Scheuklappen vor den Augen, immer nur ein Teilchen des allgemeinen Zieles verfolgend?! Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und die Zähigkeit des Organisators gehabt, ich würde ihn in jahrelanger steter Arbeit, unbekümmert um die Spötter, haben durchsetzen können. Und nun stand ich da und sah erschrocken auf meine Hände, die so leer geworden waren und so kraftlos.
Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und verdorrt hingen die Blätter an den armen Bäumen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln drang keine Luft und kein Tau. Grauer Staub deckte die Büsche wie mit Trauerschleiern. Wer draußen im Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die Kiefern schwarz und ernst und die blumenlosen Felder. O, daß ich empor auf einen Berg steigen könnte zu reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte mich, — Heimweh nach den schmalen Pfaden zwischen duftenden, buntblühenden Wiesen, nach dem stillen See im Buchenwald, wo zwischen Moos und Gestein Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der großen Einsamkeit!
Ob nicht der Geist der Frauen verkümmert und ihr Gemüt verdorrt, weil sie nicht einsam sein dürfen?
»Geh, — erhole dich, — ruh' dich aus, und wenn es nur ein paar Tage sind, — es wird dir gut tun,« sagte mein Mann, dem meine Schlaflosigkeit, meine Blässe anfiel; »ich und die Berta hüten den Jungen.«
Es bedurfte keiner Überredungskünste, meine Sehnsucht, allein zu sein, ganz allein, war zu groß. Ich fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs packte mich die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht alles geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten mich am Tage, ängstliche Träume verfolgten mich bei Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd waren, blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen eine fremde Sprache.
Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus Heidelberg. »Erdmann ist aufgegeben,« hieß es darin, »und Ilse hat Lungenentzündung, deren Ausgang unabsehbar ist. Sie spricht oft von Dir ...«
Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann: »Liebster! Ich halte es nicht aus ohne Dich, ohne Otto. Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilse wiedersehen. Nach den Andeutungen meiner Mutter ist alles zu fürchten. Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal sagte, daß ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Es kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine Schuld im Sinne landläufiger Moral besteht, sondern darauf, ob ich sie empfinde. Ich muß das gut machen, — damit ich mich nicht quäle, wenn das arme Kind sterben sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn sie lebt und meiner bedarf ...«
Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter empfing mich am Bahnhof.
»Es geht zu Ende,« sagte sie auf meinen fragenden Blick. »Und Ilse?« »Sie fiebert noch immer! Meine Ahnung betrog mich nicht. Diese unglückselige Ehe!«
Die letzten drei Worte stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Es war kein zärtliches Mitleid, das sie empfand, sondern Empörung gegen das Geschick.
»Das ist lieb, daß du kommst, gute Schwester,« rief mir Ilse entgegen, als ich an ihr Bett trat. Seit langem hörte ich wieder den alten warmen Ton in ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und rosig von den weißen Kissen ab, als wäre es wieder das des süßen kleinen Mädchens von einst. Wußte sie nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und dem Fieberthermometer. Ich sah, wie ihre Augen jeder seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn anlächelte, voll dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der er ihr die Kissen rückte und den Vorhang am Fenster weit zurückschlug, damit die Sonnenstrahlen ihre Haare umspielen konnten, lag tiefere Empfindung, als die des Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbstrose auf dem Totenacker?
»Du gehst zu ihm?« fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen müde zurück.
»Ja,« antwortete ich leise. Das Lächeln aus ihrem Antlitz verschwand, die Lippen preßten sich zusammen.
In Decken gehüllt, am weit offenen Fenster lag er. Die weißen Wände des Zimmers, die Betten, das weiße Geschirr, von blinkenden Metall unterbrochen, die weiße Schürze der Pflegerin strahlten über sein eingefallenes gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so geistvoll, so lebendig wie je; das hätte täuschen können, wenn mein Auge nicht eben auf die Morphiumspritze in der Hand der Diakonissin gefallen wäre.
»Sieh nur, wie wunderschön das ist!« sagte er und sein Blick umfaßte in leidenschaftlicher Liebe das bunte Herbstlaub der Bäume draußen. Er hatte den Schoß voll kleiner Skizzen und ließ den Pinsel nur aus der Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte.
»Hast du Ilse gesehen?« fragte er schließlich.
Ich nickte.
»Sie ist noch viel, viel schöner als die Berge und der Wald,« flüsterte er sehnsüchtig.
Am nächsten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich meiner. Ich hätte immerfort schlafen mögen. Dabei fand ich lauter dringende Briefe vor: der Verleger wünschte eine raschere Erledigung der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenossenschaften lud mich zur nächsten Sitzung, ein paar Parteigenossen erinnerten an die ihnen bereits zugesagten Vorträge.
Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertribüne. Jene Glut der Leidenschaft, die allein fähig ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den Kummer und Not um die Herzen der Ärmsten schmiedete, jene Klarheit der Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und der Unwissenheit zu durchleuchten vermag, fehlten mir und ließen sich nicht erzwingen.
»Ich bin unfähig, zu sprechen, — erlassen Sie es mir diesmal,« bat ich einen der Genossen; »die Menschen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit gewonnen zu haben.«
Aber er bestand auf seinem Schein: »Ihr Name zieht, und wir brauchen einen vollen Saal.«
Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren. Als ich kam, war der Saal leer, und der Wirt erzählte mir, daß die Versammlung schon vor zwei Tagen stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. Ich zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das Datum war angegeben, nicht der Tag, und dieses stimmte. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft, zu dem ich ging, mußte mir bestätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner Seite lag. Wenige Tage später hörte ich, eine der Genossinnen habe behauptet, ich hätte das Datum gefälscht, um mich der Aufgabe zu entziehen, und habe hinzugefügt, sowas sei bei mir schon öfter vorgekommen. Auf das äußerste empört, verlangte ich eine Untersuchung der Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In endlosen Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte geprüft, verglichen. Ich ballte die Fäuste unter dem Tisch vor Erregung und konnte mich doch dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige Gründlichkeit all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und Objektivität, an Takt und Würde standen sie turmhoch über ihren weiblichen Klassengenossen, mit denen ich bisher zusammengekommen war. Eine formelle Ehrenerklärung, die mir schriftlich zuging, war das Resultat der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu sein, wurde ich lange Zeit nicht los.
Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner »Frauenfrage«. Und die Genugtuung über meine Arbeit wirkte wie ein stärkendes und reinigendes Bad.
Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte mich die weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises. Für eine große Volksversammlung, die in den allernächsten Tagen stattfinden und sich mit den von der Regierung angekündigten Zollerhöhungen beschäftigen sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte ab. Meine Besucherin wurde immer dringender.
»Sie müssen kommen,« erklärte sie schließlich.
»Ich muß?! Warum?!« fragte ich verwundert.
»Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!«
»Das ist Ihre Schuld, — nicht die meine,« entgegnete ich; »selbst wenn ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen auf ein schwieriges Thema, wie den drohenden Zolltarif, vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung bleiben und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens tragen lassen.«
Sie warf mir noch einen rachsüchtigen Blick zu und ging.
Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm zuteil wurde, entschädigte mich für viele Schmerzen und gab mir das Vertrauen in die eigene Kraft zurück.
»Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und das will viel sagen,« schrieb mir Romberg. »Ihr Werk ist eine wissenschaftliche Leistung, dem keine Kritik und keine Zeit den Charakter eines standard work nehmen wird, und — was für mich seinen größten Wert ausmacht — der Ausdruck einer starken Persönlichkeit. Die objektive Wissenschaft ist zweifellos etwas sehr Großes, aber der Mensch bleibt immer das Allergrößte ...«
Nur zwei Zeitschriften rissen meine Arbeit herunter: die Monatsblätter von Helma Kurz und — die »Freiheit« von Wanda Orbin.
»Alix Brandts Buch ist jeder Mütterlichkeit und jeder Wissenschaftlichkeit bar,« hieß es in dem einen Blatt; »die Genossin Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agitation erst lernen und sich bewähren müssen, ehe sie etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich Nützliches hätte schaffen können,« lautete das Endurteil in dem anderen.
Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer meiner bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als ein »Tribünenweib« bezeichnet worden war, »deren Lenden nie ein Kind getragen haben«, und eine Genossin mir als schwere Unterlassungssünde die Tatsache vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht — die, Flugblätter auszutragen — noch nicht erfüllt hätte.
Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes Ich lag in dem Buch, all mein Wissen, mein Glauben, mein Hoffen. »Meinem Mann und meinem Sohn« stand als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße Form, es war ein Bekenntnis: ich hätte es nicht schreiben können ohne das Doppelerlebnis der Liebe und der Mutterschaft, das aus dem Kinde erst den Menschen macht, das Schleier von den Augen reißt und eiserne Klammern von den Herzen. Es sind Männer gewesen, die die Madonna zur Mutter Gottes erhoben, denn nur der lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu gebären. Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft mit dem Heiligenschein krönten. Denn die Voranleuchtenden sind nur, die des Lebens Tiefen erschöpften.
An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem Satz, den ich niederschrieb. Aus einem primitiven Empfinden, das über die Wiege des eigenen Kindes kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser und Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß sie die Mütter suchen sollten. Einst pochte ihr Murmelgebet: »Heilige Maria, bitte für uns!« umsonst an das Tor des Himmels, — sollte ihre stumme Not auf der Erde keine Antwort finden?
Waffen hatte ich geschmiedet für die Proletarierinnen, Waffen, — ich wußte es, — die unzerbrechlich waren. Ich erwartete keinen Dank dafür, denn daß ich sie schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile.
»Warte die Zeit ab,« sagte mein Mann. Aber ich fieberte nach Tat, nach Wirken, — ich konnte nicht warten.
Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen der führenden Genossinnen hatte ich mein Buch zur Verfügung gestellt. Eines Morgens bekam ich einen Brief von Martha Bartels. Schon freute ich mich, — ich werde sie wiedergewonnen haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix von Glyzcinski hieß.
Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich seine wenigen Zeilen durchflogen hatte, und lehnte mich mit einem Gefühl von Schwindel in den Stuhl zurück.
»Nachdem Ihre Unzuverlässigkeit in der Ausführung übernommener Parteipflichten wieder offenbar wurde,« schrieb sie, »haben die Genossinnen einstimmig beschlossen, Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr einzuladen.«
Ein formeller Ausschluß also, — ohne Gründe anzugeben, — ohne mich zu hören! Und das in einer Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! Ich verlangte, mir zu gewähren, was die Gesetzgeber des kapitalistischen Staates den Mördern und Dieben zugestehen: mich vor meinen Richtern verteidigen zu können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schließlich, daß jene Genossin, die mich vergebens zu einem Vortrag hatte pressen wollen, die Sache so dargestellt hatte, als ob ich mein gegebenes Wort gebrochen hätte. Und ich hörte weiter, daß meine »Fälschung« jener Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern noch immer in aller Munde sei. Ich sandte die Ehrenerklärung der Gewerkschaft ein, ich zwang die Lügnerin, ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts.
»Wir erkennen an, daß in diesen beiden Fällen ein Irrtum vorlag,« schrieb Martha Bartels, »aber es stehen noch so viele andere fest, wo Sie sich als unzuverlässig erwiesen haben, daß die Genossinnen an ihrem einstimmigen Beschluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.«
Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu fordern. »Liebe Genossin,« sagte Auer, mir gutmütig die breite Hand auf die Schulter legend, »tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere Weiber kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht geben, — natürlich! Aber, glauben Sie, daß damit geholfen ist?! Schon am nächsten Tag werden die Klatschmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im Auge sind, neue, noch schlimmere Sünden über Sie zu verbreiten wissen, und das modernisierte Gerichtsverfahren der heiligen Fehme wird alle demokratischen Schiedssprüche umstoßen. Überlassen Sie der Wanda die Weiber! Für Ihren Tätigkeitsdrang ist in der Partei noch Raum genug.«
Ich fügte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus Müdigkeit, aus Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers Hand umspannte die meine schmerzhaft fest.
»Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf den Weg nehmen?« fragte er. »Wer auf hoher Warte steht, dem sollten die leid tun, die sich von unten im Schweiße ihres Angesichts abmühen, mit Steinen zu werfen. Er sollte immer über sie hinwegsehen. Dann hören sie von selber auf und besinnen sich, daß ein Weg da ist, auf dem auch sie aufwärtssteigen könnten ... Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein Politiker.«
»Die Distanz, — das bedeutet Fernsein, Kühle,« antwortete ich mit einem leisen Seufzer, »— ich liebe die Menschen; ich möchte von ihnen geliebt sein.«
»Sie lieben die Menschen, — diese Menschen?! Sie scherzen!« Er reckte sich zu seiner ganzen Größe. »Wir würden sie erhalten, wenn wir sie lieben würden. Aber wir wollen sie überwinden — mit dem gewaltigen Erziehungsmittel einer neuen Gesellschaftsordnung —, also hassen wir sie.«
Ich schüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? Würde ich sie je erreichen, — erreichen wollen?!
Probleme werden nicht durch Resolutionen aus der Welt geschafft. Auch der beste Wille der Streitenden, — und es gab Augenblicke, wo selbst Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten Willens« hatte und Hervorragende unter seinen Anhängern den »Revisionismus« als eine neue Richtung innerhalb der Partei abschworen, — vermag das Streitobjekt nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene Gedanken lösen sich gleichsam von dem, der sie dachte, ab und haben ein selbständiges Leben.
Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge, als einen Waffenstillstand. Bernsteins Rede im sozialwissenschaftlichen Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. Und die aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die vom nächsten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden noch mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. Keiner gestand dem anderen die Ehrlichkeit der Gesinnung zu. Hinter jeder Äußerung eines Revisionisten entdeckte der orthodoxe Marxist Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. Er überhörte geflissentlich die Lehren der Psychologie und der Geschichte, aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demselben Haß, derselben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einst die des Heidentums gegen die Christen, der römischen Kirche gegen die Reformation.
Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntnisse des Verstandes die ursprüngliche, nur auf die Einflüsse des Gefühls reagierende Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anschauung: die materialistische Geschichtsauffassung. Es war die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich, bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten bekannten: daß, da »alles fließt«, auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär.
Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen spielten sich zwischen den geistigen Führern ab, von denen die einen die Masse der Arbeiterschaft hinter sich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee. In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe des sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde der Kampf daher in die Volksversammlungen getragen, so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe gegen die Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu: der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach Wissen. Bildungsschulen, wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen diesem Verlangen entgegen und pfropften auf den lebensschwachen Baum der Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten Dilettantismus und Bildungsdünkel am besten gediehen. Wozu ernste Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen zu können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: die Naivität seiner Jugend unterstützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit seiner Gegner. Als Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu seinem gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat die hochmütige Verachtung der Akademiker hinzu.
Einmal, — ich war gerade von einer Agitationsreise zurückgekehrt, — beklagte ich mich darüber, als Reinhard gerade bei uns war.
»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« sagte er; »daß Sie nun auch so nervös, so empfindlich geworden sind! — Ich kann Ihnen versichern: mir selbst kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht unsere Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angesichts der Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, als uns über die Verelendungstheorie die Köpfe blutig zu schlagen.«
»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. »Oder nicht viel mehr die Großinquisitoren der ›Neuen Zeit‹, die seit Jahr und Tag ihre Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leute, die noch nichts geleistet haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente Genossen, — einen Jaurès, einen Auer, einen Vollmar, — wie gegen Schwachköpfe oder Verräter vom Leder zu ziehen?!«
»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, die desgleichen tun —,« unterbrach ihn Reinhard mit einem sarkastischen Lächeln.
»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, — na, sagen wir parlamentarisch: Unbescheidenheit noch größer ist. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist offensichtlich der Bannfluch, d. h. der Ausschluß aller derer aus der Partei, die eine selbständige Meinung haben.«
»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher verhinderte, Ihre Zeitschrift ins Leben zu rufen,« sagte Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in Druckerschwärze verwandeln würden!!«
»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz für Theoretiker machen,« entgegnete Heinrich ruhig. »Mir würde es in erster Linie darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß das auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig ist, daß es endlich an der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und Tagesarbeit verrichten zu lassen, — das scheint mir das wichtigste Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.«
Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke neue Erfindung wäre! Was war es denn, was wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften getrieben haben?! Der ganze Unterschied zwischen den Revisionisten und den Radikalen ist, daß die einen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung des Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialisierungen der Gesellschaft, Voraussetzungen des Sozialismus. Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die Dinge heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt kriegen kann. Und darum —« er ging erregt im Zimmer auf und nieder — »begreife ich die ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, wenn sie euch Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir sind ja auf dem besten Wege, — was werft ihr Steine in unseren Teich?! Sehen Sie sich z. B. mal die Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses an! Sie waren ja dabei, als man sich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die sozialpolitische Tätigkeit der Gewerkschaften forderte, der andere sie für schädlich hielt. Und ich selbst, — Sie besinnen sich! — war der radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung mögen Sie die Entwicklung der ganzen Bewegung messen. In aller Stille ist viel Wasser die Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin in der Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung in der inneren Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung der Badener im vorigen Jahr, — Bebel hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, — oder an die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion zur Wahlreform, — Bebel wird sie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen —. Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt stramm und einig zur Landtagswahl aufmarschieren. Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns verloren hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.«
Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. »Und was wollen Sie mit alledem beweisen?« fragte ich.
»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist. — Sowohl vom Standpunkt eurer Angst um Versumpfung und Verknöcherung der Partei, wie vom Standpunkt all der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie paktieren, so doch nur, um für uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen!«
»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,« rief ich aus. »Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt ist, so muß die Theorie sich ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen Demokratisierung und Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft muß an Stelle des Dogmas von der alleinseligmachenden Revolution treten —«
»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. »Selbst der dümmste Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur in den Schoß zu legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in unserer Armee sieht alle Tage, wie sie sich jede Handbreit politischer Macht schrittweise erobern muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als die letzte Krönung des Gebäudes.«
Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.«
»Zum Donnerwetter, nein! — Ich bin Sozialdemokrat!« — Reinhards Augen glänzten — »Und ihr seid Rabulisten.«
Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, gutmütig-freundlichen Ausdruck an.
»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben wird, — in bewußtem Gegensatz zu unseren Zeitschriften von rechts und links, die sich um des Kaisers Bart raufen, — so wird es befreiend wirken und seines Erfolges bei unseren Genossen sicher sein.«
Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg.
»... Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,« schrieb er, »und der Gedanke, das ›Archiv‹ selbst zu erwerben, ließ mich nicht los. Trotzdem bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persönlichen Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen überdies den dringenden Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt fallen zu lassen. Sie wissen selbst, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg ein ganz unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten Sie meinetwegen den Husarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, — verübeln Sie es meiner aufrichtigen Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um sie in diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in diesem Augenblick zürnend die Brauen zusammen; sie ist ja noch fanatischer, noch leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug für beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der Planke spielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet ...«
Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß Romberg solch bourgeoise Anschauungen hat!« rief ich aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall schwimmen könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme.
»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem werde ich handeln wie ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. »So höre doch erst zu, ehe du schimpfst!« meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen haben?« Ich nickte. »Er tauchte vor kurzem hier auf und besuchte mich, während du weg warst: ein sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der Partei wirken; aber auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der Genossen, auf der an deren Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück, die ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein Herz aus; dabei erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute ist. Ich sprach ihm von unserem Plan, er war sofort Feuer und Flamme dafür.«
»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt.
»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, sie ihm bewilligen ...«
Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, der mich beherrschte; winzig erschienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hindernisse.
Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang aufgeschossener blonder Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden blaßblauen Äuglein und schlaffen, feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese erste instinktmäßige Empfindung.
»Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,« sagte er im Verlauf unseres schwerfällig sich hinschleppenden Gesprächs.
»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, Ihren Wunsch. Sie haben Tausende von Mitgliedern aus Arbeiterkreisen und leisten Vorzügliches,« antwortete ich.
»So meinte ich es nicht, nein —,« und die Stimme unseres Gastes, die noch den Timbre der Knabenstimme hatte, obwohl er längst über die Entwicklungsjahre hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es müßte möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue Kunst — die Kunst der Zukunft — entstehen zu lassen. Ich würde das als meine Aufgabe ansehen.«
Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte sogar einen originellen Zug.
»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. »Daß die Talente sich durchsetzen, gehört zu den Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf ums Dasein erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch zur Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. Vielleicht würden die von Ihnen erhofften Talente statt freier Künstler Hörige des Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, Hörige des Kapitalismus geworden sind..«
Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit seiner strahlenden Frische. Wie eine Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit blassen saftlosen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von seinen Eltern. Sie hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder enttäuschte, machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, — jetzt würde er um seine Überzeugung, — um seine Zukunft mit ihnen kämpfen!
Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine instinktive Abneigung immer wieder hervorrief, so überwand das Mitleid mit dieser armen Greisenseele eines Jünglings sie eben so oft. Seine Besuche waren oft recht unbequem. Wie die meisten Menschen, für die die Arbeit nur eine Nebenbeschäftigung ist, hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, so war er gekränkt. Nur wenn er mit Ottochen spielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn hatte los werden wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyrannisieren, die rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines Jungen.
Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, sein Geplauder belauschen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich war abermals einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. Nicht der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All die vielen, mechanischen Dienste, die der kleine Körper fordert, versteht eine geschulte Pflegerin besser als sie. Erst der erwachende Geist braucht die Augen der Mutter, die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, welche gestützt, welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt werden können. Und Millionen Frauen dürfen es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu bauen für die Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten für die verwahrloste Jugend, der sie die Mütter genommen hat.
Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich in hundert und aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialisierung der Gesellschaft abgespielt hat? War unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische Organisation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß zu ermöglichen und den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater zurückzugeben? In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen die Hüter der bestehenden Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als sie für Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie zu empören! Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker als die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der Hunger. Einmal von den Fesseln befreit, in die die Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor werden, der die Gesellschaft aus den Angeln hebt.
Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitschte ihre Empfindung auf; ich erklärte sie für die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit seiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der Schließung der Grenzen war, — kurz, die ganze agrarische Reichspolitik, in die die Regierung eingeschwenkt war, boten mir die Handhabe, um an die nächsten Interessen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes hat, ein Gradmesser der Menscheitskultur sein kann: wie sättige ich meine Kinder?
Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos zurückgekehrt.
»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« sagte der Arzt wie schon einmal vor Jahren.
Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinseln und fuhr nach Schlesien. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei Reden zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.
Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich fort müsse: »In gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich an eine Sommerreise denken?!
»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte mein Mann, »heute noch kannst du packen und morgen in den Alpen sein.«
Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien ihn keinen Augenblick zu beunruhigen.
»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen —,« wandte ich ein.
»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete Heinrich ohne Besinnen, »auch diesem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.«
Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. Meine Mutter kam mit Ilse nach Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. Jetzt erst war sie wirklich alt geworden, unauslöschlich hatten sich die Falten der Verbitterung um ihre Mundwinkel eingegraben. Zwischen ihre fest aufeinandergepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilse neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, mit den Augen, die sehnsüchtig die Sonne suchten nach all dem monatelangen Leid, dann fühlte ich die ganze Qual dieses Zusammenlebens.
Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwischen ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut, der Mutter ehrlich meine Meinung zu sagen:
»Warum läßt du sie nicht frei? — Viele in ihrem Alter stehen allein in der Welt. Wozu quälst du dich selbst und sie?«
Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht man, wohin eure religionslose Moral euch führt!« rief sie. »Nicht genug, daß du im Lande umherziehst und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal mehr die selbstverständlichsten Gebote der Mutter- und der Kindespflicht.«
»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens ist, eine Pflicht, die sich wie ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen will, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und nimmer an. — Was Onkel Walter erzählt, sollte dir übrigens nichts Neues sein: du weißt, daß ich Sozialdemokratin bin. Daß meine Agitation ihm jetzt, wo sie sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen richtet, besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur selbstverständlich.«
»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich von diesen Abwegen zurückführen würde —«
»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach ich sie.
»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord werfen? Nicht daran denken, wie du alle kompromittierst, die unseren Namen tragen? Wie mein Bruder sich sogar gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten Reichstag nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen.
»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,« sagte ich ruhig. »Die Verwandten haben sich längst in aller Form von mir losgesagt, und wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es allein die auf mein Kind.«
»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, das du über uns gebracht hast, büßen müssen!« rief die Mutter mit funkelnden Augen.
Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. »Was meinst du damit?!« frug ich.
»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe hoffen?« entgegnete sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat jemals eingeladen?!«
»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erst kürzlich über meine ›Frauenfrage‹ Worte wärmster Anerkennung geschrieben. Und daß sie mich nicht bei sich sehen kann, begreife ich vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,« antwortete ich ausweichend.
»Nun so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte über deine agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zurück —«
Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin meiner Interessen!« spottete ich. »Bist du es nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr und ihren Geschwistern und Tante Klotilde nähere Beziehungen herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir kein Kuckucksei ins Nest zu legen!«
»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter.
Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte sich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich wußte: ihrem geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, hatte sie versprochen, für mich sorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt ihres Testamentes vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und Deines Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe ich doch selbst gar nicht für Euch sorgen können!« Über manche schwere Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte sie ihr Wort brechen können?! Ein kalter Schauer erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie es tat, an die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu müssen. Wie viele junge Menschen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen sehen, von einem starken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!
Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich mußte mich selbst überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war.
Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du wirst dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es nicht nötig, daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug sein, sich selbst durchzukämpfen.«
Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen hervorstürzten wie ein entfesselter Wildbach: »Du freilich wirst nichts davon merken, wenn er sich grämt, gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich nach deiner Ansicht nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel achte, der in die Küche kommt, aber du fragst nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins mehr hast und wir leben wollen!«
Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorschuß hatte bitten müssen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs Versatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während das gezwungene Zusammensein uns stets aufs neue reizte.
»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte Heinrich schließlich und reichte mir in versöhnlicher Stimmung die Hand.
Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark muß die Liebe sein, um sie auszuhalten!«
»Die besten Freunde müssen einander unerträglich werden, wenn sie Tag und Nacht in denselben Käfig gesperrt sind,« ergänzte er.
»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; — ich erwartete jeden Tag die Antwort von Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung nehmen, — natürlich, — und sie nur besuchen, wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: »Mach, daß du wegkommst, damit ich die Gattin los werde und die Geliebte wiederfinde.«
Die Antwort kam, — eine kühle, glatte Ablehnung. »Die Welt ist groß,« schrieb sie, »Du brauchst Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo die Situation für dich, — ganz abgesehen von der meinen, auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst —, eine wenig gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Seit der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine ständigen Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« — hier hörte ich die Stimme der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten — »haben den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört ... Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher erhalten, als beeinträchtigt werden ...«
Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte? »Gehen Sie ins Gebirge,« hatte der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen würde, — mit dem Kleinen, — irgend wohin nicht allzuweit von Grainau, wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen könnte! Ich war überzeugt: sah sie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden!
In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit dem kleinen Sohn des Hauses, dem Hansei, und seine weiße Stadthaut bräunte sich, und seine Muskeln wurden straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und lockte die Zugspitze bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im Mondschein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd um sie scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn die Sonne sie inbrünstig küßte und ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und — begrub. Ich verstand, daß es Menschen gibt, die vor Heimweh krank werden.
Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, auf denen ich dem weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. »Sei nich traurig, Mamachen,« tröstete mich mein Kind. »Ein großer Held wird kommen und die Prinzessin befreien!«
Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts gingen, plauderte er lustig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein grübelnder Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine Wangen färbten sich dunkler.
»Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« begann er unvermittelt; »ist das nicht dumm?!«
Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.
Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß dir ein großes Geheimnis sagen, — dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute totschlagen!«
Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, mein Kind,« sagte ich ernst.
»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich vergaß allmählich, weshalb ich hierher gekommen war. Ich sah nicht mehr erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit der Tante gefahren war.
Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die freie Bergluft berührten sie wieder. Zuweilen kam ich mir selbst wie verzaubert vor: als sei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt dieses Kindes.
An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als unsre ärgsten Feinde, sondern als gottgewollt anzusehen.
»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,« sagte mein Sohn.
Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München. Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem Hügel die kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im Walde träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmisch und wanderten über die Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, dorthin, wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel von alten Baumriesen bekrönt und blühenden Büschen. Glänzend wie ein Silberstreifen schlängelt sich der Weg durch die Gründe, — braune und rote Dächer tauchen auf, — schon plätschert der Bergbach, der ganz, ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich nährt und vom Eis: Das war Grainau —. »Und nun, Bubi, paß auf: nun kommen die blauen und goldgelben Häuser mit den lustigen Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.«
»Wo denn, Mamachen?!«
Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und überall standen neue Häuser mit kalkweißen Wänden, — ohne den heiligen Florian in den Nischen, — blumenlos. Wie verschüchterte Bauernkinder vor den Städtern verkrochen sich die alten scheu in den Winkeln. Ich beschleunigte meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, und zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der See. Dort wollt' ich stille Andacht halten! — Mein Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich an seinem Ufer. In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die Menschen um sie und starrten hinunter. Aber den Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still und sah zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und hinter dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als schämten sie sich der Welt unter ihnen.
Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich gesucht, — war ich nicht statt dessen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr sehen, auch das Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.
Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen Rosensee uns zu Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte Haus. Hier hatte sich nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieser Rahmen einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen damals und heut wären mir wie ein Traum erschienen, wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und reckte den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem See, diesem Wald war der erste Schritt in das neue Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar sah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel blieb mein.
Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper nur mühsam am Stock vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen Augen stehen. Es war Jenny Kleve. Dann sah ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen Diener eine Weisung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich nicht vorzulassen, dachte ich; — Jenny Kleve, auf diesen Triumph freust du dich umsonst!
In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin zurückreisen sollte.
Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! All der Staub der Stadt, der meine Lunge erfüllt, der grau und schwer die Glut meines Herzens fast erstickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, — mein Geliebter, — waren sie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, — nicht mein Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unserer Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an Heinrich, »die die Beziehungen der Geschlechter, wie die zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Herrn und Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens ihrer Persönlichkeit, den eigenen Namen mit dem des Mannes zu vertauschen. Liebe sollte immer ein Geheimnis sein, eins, um das nur die Allernächsten wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und erzählt zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört jenem Mann!.. Ich sehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe mir nur ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren, und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber wenn ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste zu tun, — dann sinkt meine Sehnsucht in sich zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet ...« —
»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! Aber glauben kann ich Dir erst, wenn Du Deine Empfindung nicht nur aussprichst, sondern ihr folgst ... Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel, wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst ... Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieser Augenblick jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns beiden die Erinnerung an die Ehe auslöscht ...«
Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich es mir eingestanden, und doch war es so: ich stand, wie die Mutter, noch unter dem kalten Gesetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um meiner Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung mir widerstrebte.
Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn zu den Kongressen der Partei die Gesinnungsgenossen von Ost und West, von Nord und Süd zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf und Alter und Geschlecht, und doch ein einiges Heer, von derselben Kraft durchdrungen, von demselben Willen beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit heiliges Land zu suchen. Und jetzt?
Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen waren, musterte man sich mißtrauisch, begrüßte sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die berieten, ob und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen könne.
Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der fünfundzwanzig Genossinnen trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die mir entgegenströmte. Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die Hand. »Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« flüsterte sie erregt.
Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb Tagen die ganze Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, Kinderschutz, gesetzliche Regelung der Heimarbeit, politische Gleichberechtigung, — ein imponierendes Programm! Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von Jasagern beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.«
»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. »Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, so giftig ist die Bartels auf Sie.«
»Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte ich verwundert.
»Aber die düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag auf Anstellung einer Parteisekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten dahinterstecken —«
Darum also die bösen Gesichter!
»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller sprechen!«
Darum also die gekränkten Mienen!
Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Wespennest sie mit ihrem Antrag gestochen hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah in dem Antrag ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit als Zentralvertrauensperson und spielte die persönlich Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar allgemeinen Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige Weise eine fette Pfründe schaffen wollte, drastischen Ausdruck, indem sie mit einem wütenden Blick auf mich erklärte:
»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören lassen, sonst aber praktisch gar nicht arbeiten, können wir für solche Stelle nicht brauchen. Die haben unser Vertrauen nicht.«
Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verschwunden. Ob das das unausbleibliche Schicksal aller Agitatorinnen war?!
Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen nützen, die Fleisch von unserem Fleische sind ... Keine akademisch gebildeten Damen, die nur mal, um sich zu zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen Vortrag halten —.« Ich stand dicht vor ihr und sah ihr gerade ins Gesicht. »Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,« schrie sie.
Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert den Kopf: »Es scheint, die ganze Konferenz richtet sich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?!« fragte er.
»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!« antwortete ich bitter.
Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenschutzes besprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer umfassenden Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen jedoch, ihr Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu lassen, waren durch die Anwesenheit so anerkannter Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten opponieren können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin sich zum Worte meldete.
Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die höchsten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte sie eine Riesenvolksversammlung vor sich: »Der Gedanke, welcher der Mutterschaftsversicherung zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf ihrem Boden nicht erreichen werden ... Sie kann erst zur Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden Menschen über den toten Besitz zur Geltung gebracht sein wird, — in einer sozialistischen Gesellschaft ...« Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.
»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen Frauenbewegung gegolten, aus Opportunitätsgründen möglichst wenig zu fordern, um überhaupt etwas zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston. »Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur als Abschlagszahlung, was davon stückweise errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für den Achtstundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn nicht gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die Mutterschaftsversicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er im eigensten Interesse verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter, arbeitsstarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.«
Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung der Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht so radikal sozialistisch, wie Frau Brandt meint ...,« rief sie. Ringsum klatschte man wieder. Weder sie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst widersprochen hatte.
Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraschend mein Mann entgegen. Ich errötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand.
»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, »und daß ein Freund dir fehlen könnte.« Mit tiefer Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.
Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrschte auf dem Parteitag.
»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, unter der er stand. »Wenigstens die nicht, die sich erlauben, eine andere Meinung zu haben als wir.«
Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; er verlangte nichts weniger, als daß die Mitglieder der Partei verpflichtet werden sollten, Kritiken über schriftliche oder mündliche Äußerungen von Parteigenossen nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen und Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, zu veröffentlichen. War es nicht ein grotesker Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei, daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit der Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit niederzuknütteln?
»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der Adresse geirrt,« sagte Vollmar und reckte sich zu seiner ganzen Riesengröße auf, sodaß er turmhoch und turmsicher über der brandenden Woge der Menge stand. »Das ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem Zensor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu bekämpfen, ihn niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn zu verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich wieder und überwuchert unser Erdreich. Es ist der ewige Geist der Kontrolle, der Geist der Kasernenhofdisziplin, dem er entspringt. Und gegen ihn müssen wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Versteinerung einer Bewegung vorangehen kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe. Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige Menschen mundtot zu machen, so wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, sich solcher Zensur zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich zu werfen, um sie nur mit neuen zu vertauschen!«
Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte Gruppen, die Beifall klatschten. Reihenweise saßen die Genossen an den langen Tafeln mit verschlossenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, — wird sie die Freiheit sein?
»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas anderes wäre,« sagte einer unserer Genossen, als wir am Abend zusammen waren und ich die Frage ausgesprochen hatte.
Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen sich um die praktischen Fragen der Arbeiterversicherung und der Kommunalpolitik drehten, legten sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August Bebel von den kommenden Reichstagswahlen sprach und seine braunen Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf immer feuriger glänzten, je drastischer seine Darstellung der inneren und äußeren politischen Lage wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte, da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeisterung sprang von einem zum anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug beiseite, sie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der Nachbar, mit dem sie eben noch in kleinlichem Hader lebten.
Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen Betrachtungen über den »Bruderzwist« in der Partei, um Hoffnungen für ihre Sache daraus zu schöpfen, und schon standen wir in Reih und Glied dem gemeinsamen Feind gegenüber.
Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate hatte ich sie nicht gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren, ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilse in einer Pension am Lützow-Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, — die Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, — löste sie sich langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem sie gesessen hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überschlank aus dem schwarzen Ärmel des Kleides. Sie war sehr verändert.
Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem schmalen Gesicht wechselte fahle Blässe mit fliegender Röte. Die Pupillen in ihren Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände.
»Es ist nicht leicht —,« sagte sie.
»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte ich eine Kranke vor mir.
»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knieen, — nur damit sie sich nicht bücken sollte?« begann sie langsam, traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, — und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück rennt —« Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte.
Eines Abends schickte Ilse nach mir.
»Um Gottes willen — rasch —,« rief sie mir schon vor der Haustür entgegen, »ich fürchte mich so!« Oben fand ich die Mutter im Bett zusammengekauert, die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans — Hans — tu mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja mein Versprechen —« Und dann streckte sie wie lauschend den Kopf vor. »Hier meine Hand darauf —« flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das niemand sah als sie.
Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung und verlangte die Trennung von Mutter und Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer und äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach Montreux zu gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Schwester zu mir zu nehmen, und sie selbst überwachte noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere Wohnung neben uns.
Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimnisse und voller Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, nachspüren, und sie mit eignen Händen zu erfüllen suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung hat.
Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyrs Wagen zu finden. Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, als ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen lastete. Endlich war alles fertig. Ich lag erschöpft auf dem Sofa.
Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer und legte mir den Fieberthermometer unter den Arm: 39½ — Ich rief nach Berta und schickte zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir.
Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein Bett — Heinrich — den Arzt — die Pflegerin in der weißen Haube und — die Mutter! Wie hatte man sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, — eiskalt packte mich die Angst, — sollte ich sterben müssen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! Unaufhaltsam liefen mir die Tränen über die Wangen.
Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten.
»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, die, noch schmaler geworden, im Stuhl neben mir lehnte, »wie kam es nur, daß du so plötzlich hier warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts von meiner Erkrankung geschrieben hat, — und Ilse auch.«
Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge.
»Nein, niemand schrieb mir, — aber ich sah, daß der Tod neben dir stand. Ihr mögt noch so sehr zerren wie an einer Kette, das Band zwischen Mutter und Kind ist stärker als Ihr.«
Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten schwarzen Mantel an, den ich seit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß ein kleiner grünschillernder Käfer, — ich weiß noch alles ganz genau. An der Tür zögerte sie und sah mich an, — mit einem langen, langen Blick. Ich wollte mich aufrichten und sie noch einmal umarmen. Aber ich war viel zu schwach dazu.
Acht Tage später war sie tot.
»Genosse Weber aus Frankfurt a. O. — meine Frau.« Ich war gerade zur Türe eingetreten, als Heinrich mir seinen Gast vorstellte, einen kleinen lebhaften Menschen mit blanken, braunen Augen und kahlem Schädel. Verwundert sah ich von einem zum anderen: sie waren beide heiß und rot vor Erregung.
»Helfen Sie mir, Genossin Brandt,« sagte der Fremde und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Komisch, was für einen breiten, nach außen gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin im Märchen, dachte ich zerstreut, während meine Augen gewohnheitsmäßig an seinen Händen hängen blieben.
»Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises an,« erklärte Heinrich. Nun erst horchte ich auf.
»Und er zögert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn und Aber vor. Und will Bedenkzeit. Als ob es jetzt noch was zu bedenken gäbe! Jeder von uns muß ins Geschirr, — so oder so,« rief unser Gast, und seine Worte überstürzten sich vor Eifer. »Machen Sie kurzen Prozeß, — schlagen Sie ein!«
»Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, — ich täte es besinnungslos,« antwortete ich und legte meine Hand in die seine, die er noch vergeblich meinem Mann entgegenstreckte. Weber hielt sie fest.
»Ein Weib — ein Wort,« lachte er. »Sie sollen sehen, wie wir Sie brauchen können, — zuerst müssen Sie uns den Kandidaten und dann den Wahlkreis erobern helfen!«
Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens.
»In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort haben...« sagte er.
Als Weber gegangen war, schalt er mich: »Du bist unüberlegt wie ein Kind! Glaubst du, daß das Archiv nicht sehr geschädigt wird, wenn ich für die Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion in den Reichstag komme?!«
Ich machte eine wegwerfende Bewegung: »Ach, — das Archiv und immer das Archiv! Lindner wird sich über kurz oder lang entscheiden müssen, und wenn du erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als wenn du Abgeordneter bist...«
Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll an, aber er blieb am Schreibtisch sitzen mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen Lippen, während seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte.
»Heinz —,« fuhr ich mit weicherer Stimme fort, »Heinz, das bist nicht du, den ich unschlüssig vor mir sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf einen großen Kampf, und du könntest abseits bleiben, wenn man dich zu den Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner Kühnheit willen, der all die tausend jämmerlichen Rücksichten des Alltagsmenschen nicht kennt —«
»Ich sage dir, wie schon einmal, daß ich an euch zu denken habe, an dich und das Kind,« unterbrach er mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton dabei.
»Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde nichts ist als ein Philister, so viel Macht über dich?!« antwortete ich heftig. »Soll auch für uns die Familie der Götze sein, dessen Unersättlichkeit wir das Beste opfern: unsere Freiheit, unsere Überzeugung, unser Menschentum?! Sie wäre wert, daß wir sie zerstörten, wie unsere Gegner es von uns behaupten, wenn dem so wäre!«
Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine Augen glänzten wieder. »Du bist mein tapferer Kamerad,« sagte er, — nichts weiter. Und ich stellte keine Frage mehr an ihn.
Am nächsten Morgen gingen wir in den Reichstag. Seit Wochen tobte hier der Kampf um den Zolltarif. Mit eiserner Konferenz hatte die sozialdemokratische Fraktion es bisher durchgesetzt, daß über jeden einzelnen Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn sie die schließliche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern konnte, — sie hatte eine geschlossene Mehrheit gegen sich; von den bürgerlichen Parteien wagte es nur die kleine freisinnige Vereinigung unter Führung von Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende Verteuerung aller Lebensmittel Front zu machen —, so wollte sie wenigstens nichts versäumen, um ihre Folgen abzuschwächen, oder, — das war die Hoffnung der Optimisten in ihrer Mitte, — die Entscheidung so lange hinauszuschieben, bis die neu gewählten Volksvertreter sie zu fällen haben würden. Sie wußten genau: wenn sie mit dem Zolltarif als Agitationsmittel vor die Wählermassen treten könnten, so würde eine verstärkte Opposition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre politischen Gegner fürchteten diese Entwicklung der Dinge ebenso sehr, als die Sozialdemokraten sie wünschten. Schon hatten sie versucht, durch eine Umänderung der Geschäftsordnung die Verhandlungen zu beschleunigen, — umsonst. Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit vier- und fünfstündigen Dauerreden, mit immer neuen Anträgen. Die Empörung stieg bis zur Siedehitze. Und jetzt, — darüber war kein Zweifel, — hatten die Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen Beratungen ein Mittel gefunden, das den Einfluß der Opposition endgültig lahmlegen sollte.
In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle Novembertag noch öder, noch farbloser erscheinen ließ, warteten wir auf unsere Tribünenkarten. Abgeordnete eilten an uns vorüber, in schwarzen Röcken oder in Soutanen, schwere Mappen unter den Armen, mit müden, überwachten Gesichtern, oder sie gingen flüsternd zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die Köpfe zueinandergeneigt, wie Verschwörer. Erhob sich ihre Stimme im Eifer des Gesprächs, so hallten abgerissene Worte durch den hohen Raum und schwebten wie verirrt in der Luft. Ein langsamer fester Schritt näherte sich uns: Ignaz Auer.
»Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,« lachte er, indem er uns kräftig die Hände schüttelte; »heute platzt hier irgend eine Bombe. Und da müssen Sie dabei sein, was?!« Er führte uns in den Wandelgang, der den Sitzungssaal umschließt, und mit seinem weichen Teppich und seiner braunen Täfelung behaglich gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches hastiges Hin und Her die Luft in ständiger nervöser Schwingung erhalten hätte. Wir setzten uns.
»Mir ist die Kandidatur für Frankfurt-Lebus angeboten worden. Was halten Sie davon?« wandte sich mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich mit der breiten Hand den Bart, während ein leiser Spott seine Lippen kräuselte.
»Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere Berliner sagen?! — Übrigens,« fügte er lauter hinzu, »ich kenne den Wahlkreis: Äcker, nichts als Äcker, und Bauern- und Rittergüter, wenig Industrie, — kurz, ein böser Winkel.«
»Aussichtslos?« fragte Heinrich.
»Aussichtslos? Nein!« antwortete Auer. »Nur erleben wir beide seine Eroberung nicht.« Ich biß mir ärgerlich die Lippen, — ich hatte erwartet, daß er zureden würde.
Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die Sitzung war eröffnet. Wir stiegen zur Tribüne hinauf. Jeder Platz war besetzt. Gespannte Erwartung lag auf allen Zügen. Man zeigte einander flüsternd die Hauptführer im Kampf. Allmählich füllte sich unten der Saal. Das gelbgraue Licht, das von den farblosen Wänden und der tiefen Glasdecke ausstrahlte, ließ alle Gesichter gleichmäßig fahl erscheinen.
»Ein vornehmer Raum!« sagte eine Dame neben mir. Daß man so oft für vornehm hält, was nur kühl, nur leblos ist! Die Architekten öffentlicher Gebäude sollten den psychologischen Einfluß der Farben auf die Menschen studieren. Vielleicht würden dann manche Parlamentsverhandlungen und Gerichtsbeschlüsse anders ausfallen.
Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der mit einförmiger Langsamkeit über die Petitionen zu den Vieh- und Fleischzöllen berichtete. Niemand hörte auf ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der Rechten und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer von ihnen zur Tür, um bald darauf achselzuckend wiederzukommen. Irgend etwas sehnlich Erwartetes fehlte. Die Linke nur saß scheinbar ruhig auf ihren Plätzen, und auf dem Präsidentenstuhl lehnte Graf Ballestrem in erzwungener Gelassenheit den weißen Kopf an die hohe Lehne. Der Berichterstatter schloß. Graf Ballestrem erhob sich: »Wir treten nunmehr in die Beratung des Zolltarifs ein ...«
In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der greise Führer der Rechten, mit jugendlicher Elastizität die Stufen zur Estrade empor. Ein weißes Papier zitterte in seinen Händen. Die Stimme, mit der er scharf und hell seine Worte in den Saal hinausstieß, vibrierte:
»In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag vorliegen, der dahin geht, in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage die Enbloc-Annahme des Zolltarifs auszusprechen ...«
Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die Linke sprang auf und umdrängte die Estrade.
»Eine Guillotinierung!« klang es aus dem schwarzen Menschenknäuel.
»Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedrängt ...,« rief Kardorff. Er ballte die Faust um das weiße Papier, reckte die überschlanke Gestalt hoch auf und maß mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm.
Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine lange, atemlose Pause. Endlich traten die Diener ein. Man riß ihnen die bedruckten Blätter aus der Hand. Dicht unter der Rednertribüne, auf der Kardorff noch immer aushielt — gerade, starr, scheinbar gleichgültig —, warf einer der Sozialdemokraten in fanatischem Zorn das zusammengeballte Blatt zu Boden. Um den heftig gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke.
»Zur Geschäftsordnung!« rief Singers tiefe Stimme immer wieder dem Präsidenten zu.
Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen Beifall der Linken und die empörten Zwischenrufe der Rechten und des Zentrums klangen nur abgerissene Sätze zu den Tribünen empor.
»... Dieser Antrag ist der Ausfluß des persönlichen Interesses, welches die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage haben ... Sie fördern den Umsturz, Sie propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen des Volkes mit Füßen treten... Neunhundert Positionen, von denen jede einzelne die wirtschaftliche Existenz Tausender bedroht, wollen Sie in einer Abstimmung zur Entscheidung bringen ... Sie fürchten sich, die Beute könnte Ihnen entgehen ... Sie sind die Schleppenträger der Agrarier und die Regierung ist ...«
»Ihr Zuhälter!« kreischte eine Stimme dazwischen.
Der Präsident erhob sich und schwang die Glocke. Aber das Wort saß fest; flüsternd ging es schon durch die Menschenreihen auf den Tribünen.
Noch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im Saal: »Mehr denn je wird das Recht der Minorität, sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur heiligen Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz zu ersparen, das es der Not ausliefert, während es Ihre Taschen füllt ...«
Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen Augenblick lang lag die Hand Theodor Barths in der seinen.
»Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete von Kardorff.«
Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt. Wie er den Namen hörte, drehte er sich um und blieb zwischen den Seinen stehen, groß, schwer, breitschultrig. Über ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade führten, stand Bebel, die dunkelglühenden Augen fest auf den Redner gerichtet, während seine Finger sich nervös bewegten, sich spreizten und wieder zusammenzogen, als prüften sie ihre Kraft.
Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten Aristokraten, begann Kardorff zu sprechen: »Wir sind der Überzeugung, daß der vorliegende Antrag das einzige Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung wir für ein großes vaterländisches Interesse halten ...«
»Vaterländisch?!« fragte jemand ironisch; ein schallendes Gelächter antwortete.
Der Redner gab sich nicht die Mühe, den Lärm zu überschreien. Gleichgültig sah er über die Menge hinweg und wartete, bis der Präsident die Ruhe wieder hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht die Mühe, überzeugen zu wollen; in seiner ganzen Art lag eine souveräne Verachtung des Gegners.
»...Daß die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen auch gegen den Willen der Minorität durchsetzt, ist eine grundlegende Forderung unseres konstitutionellen Lebens...«
Tosender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedrängten Haufen, der sich allmählich immer näher zur Rednertribüne emporschob, erhoben sich geballte Fäuste. »Räuber!« — »Taschendieb!« — »Volksverräter! —«, wie Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft. Die Mitglieder der Rechten erhoben sich und besetzten wie zum Schutz die andere Seite der Treppe. Kardorff sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser geworden, und seine schmalen Hände umklammerten krampfhaft das Pult. Hier stand nicht mehr der einzelne, der um einen momentanen Vorteil kämpft, — in diesem Mann erhob sich vielmehr die alte Welt wider die neue und umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit dem dunklen Glanz tragischer Größe.
Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen Reden über die Zulässigkeit des Antrags.
»Acht Tage läßt sich die Sache wohl noch hinziehen,« meinte einer unserer Reichstagsabgeordneten, den wir in der Wandelhalle trafen, »dann ist der Zolltarif angenommen. Ein Pyrrhussieg für die Rechte, — der Nagel zum Sarg für die Nationalliberalen!«
»Und hundert Mandate für uns!« fügte ein anderer frohlockend hinzu; »das wird ein Wahlkampf werden, der seinesgleichen nicht hatte!«
In einem Kaffee der Potsdamerstraße erwartete uns Weber. Fragend sah er von einem zum anderen. Mein Mann reichte ihm die Hand.
»Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer sagt, wir würden die Eroberung von Frankfurt-Lebus nicht erleben, — das gab den Ausschlag. Die gebratenen Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir nicht. Wir wollen uns zusammen ein Wild erjagen.«
Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte von seinem eigenen Leben: wie er als armer Schustergeselle in die Welt hinausgewandert war, sich schließlich seßhaft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten.
»Eine verbissene Zähigkeit gehört dazu, wenn's gelingen soll,« meinte er, »dieselbe Zähigkeit, die wir haben müssen, soll die Partei vom Flecke kommen. Nur ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die seit Jahren den steinigen Boden beackern, unermüdlich, in täglicher Kleinarbeit, gegen den Haß und die Verfolgungssucht des ganzen bourgeoisen Klüngels, — und doch sind wir ein gut Stück weitergekommen. Seit zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an, die seit dem ersten Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt im Winkel steht. Der schönste Tag meines Lebens wär's, wenn ich sie einmal flattern sehen könnte!« Und mit dem breiten Schusterdaumen wischte er sich einen feuchten Tropfen aus dem Augenwinkel.
Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im Reichstage brutaler; selbst die politisch Gleichgültigen wurden aufgerüttelt und verfolgten ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen versuchte die Mehrheit die Kraft der Minderheit zu erschöpfen, aber mit trotziger Ausdauer hielt sie stand, und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige Haß zerriß in zügelloser Leidenschaft alle Bande äußerer Gesittung. Konservative Abgeordnete bezeichneten die Arbeiter Berlins, die in riesigen Versammlungen gegen den Umsturz der Geschäftsordnung durch den Antrag Kardorff protestierten, als »skrophulöses Gesindel«, und ihre Presse forderte von der Regierung: »der Bestie den Zaum anzulegen«. Die »Bestie« blieb ihre Antwort nicht schuldig. Die größten Säle der Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die nichts mehr war, als ein Wille: nieder mit der Reaktion! und eine Hoffnung: der Rachefeldzug der nächsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen in den Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat gehörten. Bewunderung für die wilde Energie der kleinen Schar Belagerter riß so manchen aus dem politischen Schlummer, und der Groll führte andere hierher; sie fühlten ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen Vertreter im Reichstag — die Bassermann, die Richter — schmählich verraten. Zu früh vernarbte Wunden brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, durch die Kunst und Wissenschaft tödlich getroffen worden wären, wenn die Roten im Reichstag sie nicht so wütend verteidigt hätten; und die Rede des Kaisers klang lauter, als da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die sich bisher vom Getümmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei und ihren Schreibtisch zurückgezogen hatten. »Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr,« hatte er angesichts der vollendeten Standbilder in der Siegesallee erklärt, und die großen Eroberungen neuer künstlerischer Möglichkeiten, wie sie denen um Manet und van Gogh, um Liebermann und Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen in den Rinnstein bezeichnet. Jetzt rötete das Schamgefühl manchem die Wangen, der den Streich ruhig empfangen hatte. »Wahrlich, es gilt mehr als den Zolltarif,« sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, »es gilt die Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. Wenn es zu diesem Ende nichts anderes gibt, als den Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner zu bedienen wissen.« Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor, und im stillen hoffte ich wieder, daß sie zu einer Revolutionierung der Geister führen würde.
Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages rüsteten sich schon für die kommenden Wahlen. Was der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für unmöglich gehalten hatte, das geschah. Junker und Fabrikant vereinigten sich, da der gemeinsame Feind drohte: die Sozialdemokratie. Und der Kaiser selbst wurde in diesem Kampf der erste Agitator: »Zerreißt das Tischtuch zwischen Euch und diesen Leuten, die Euch aufhetzen gegen Thron und Altar, um Euch zugleich auf das rücksichtsloseste auszubeuten und zu knechten —;« wie auf Windesflügeln durcheilten diese seine Worte, die er an eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das Reich, denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter, immer lauter wurde der Groll: »Wer anders beutet uns aus als die Zollwucherer, die uns das Fleisch vom Tisch nehmen und das Brot verteuern? Wer anders knechtet uns als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch der Fronarbeit auf unsere Schultern laden?«
Während die Folgen der schweren Krankheit mir die agitatorische Tätigkeit noch unmöglich machten, stand mein Mann schon mitten im Wahlkampf. Er kam jedesmal hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen Aufgabe wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der Alleinherrschaft über unseren Schreibtisch zur Abfassung einer Agitationsbroschüre, in der ich die politische Situation vom Standpunkt der Frau aus beleuchtete. Für den kommenden Wahlkampf sollte sie die Arbeiterinnen aufklären, anfeuern, mit Waffen versehen. Das Häuflein ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen, aber Hunderttausende gab es, zu denen ich sprechen konnte.
»Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß,« sagte Heinrich eines Abends, als er eben von Frankfurt zurückkehrte. »Gehen wir aus dem Wahlkampf in der Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, so treten die Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit an uns heran, und meine Zeitschrift hat einen Wirkungskreis ohnegleichen ...«
Lindner kam. Mit Wünschen und Hoffnungen und ohne Entschlossenheit, wie immer.
»Sie haben mich lange genug genarrt,« fuhr ihn Heinrich an; »im Vertrauen auf Sie habe ich gewartet und immer wieder gewartet. Nun aber verlange ich ein Ja oder Nein.«
Lindners schmale Gestalt sank förmlich in sich selbst zusammen. Halb verlegen, halb gekränkt versprach er eine rasche Entscheidung.
»Wie kannst du nur!« rief ich, als die Türe sich hinter ihm schloß. »Nun wird er ganz gewiß zurücktreten!«
»Und wenn schon!« lachte Heinrich fröhlich, »glaubst du, die Zeitschrift hinge von ihm allein ab?«
Drei Tage später war der Vertrag abgeschlossen, die Zeitschrift gesichert. Lindner schien umgewandelt; die Aufgabe, die er vor sich sah, wirkte auf ihn wie Morphium auf Hysterische: sie gab ihm Kraft, Tatendurst, Selbstbewußtsein.
»Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,« sagte er, nachdem er seinen Namen unter das Schriftstück gesetzt hatte, »und morgen kann die Arbeit losgehen!«
Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden Bewegung auf den Arm: »Arbeiten müssen wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten Zeitpunkt des Erscheinens wollen wir noch andere hören. Und eine notarielle Beglaubigung?« — Er lachte — »Ich denke, solche Scherze schenken wir uns. Unser Wort genügt, auch wenn wir es nicht schriftlich gegeben hätten.«
An einem der nächsten Abende folgten die Führer der Revisionisten unserer Einladung. Wie zu einem Feste hatte ich unser Zimmer geschmückt und unsere Tafel bereitet. Und festlich war mir zumute, — wie den Soldaten nach der Kriegserklärung. Die frankfurter Fahne fiel mir ein, die eingerollt im Winkel stand, — eine im Sturme immer voran flatternde sollte unsere Zeitschrift werden!
Unsere Gäste gratulierten uns, — aber sie hatten doch viel Bedenken, ob unser Plan durchführbar sei. Sie anerkannten die Wichtigkeit der Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, — aber an der Stärke der Wirkung zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, — aber ohne den Enthusiasmus für die Sache, den ich erwartet hatte. Der Name der Zeitschrift wurde bestimmt: Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres Erscheinens wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem Parteitag. — Es war eine nützliche und verständige Besprechung, die wir hatten, aber wir feierten kein Fest. Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir leid.
Was ich schon oft empfunden hatte, das verstärkte sich jetzt: der Revisionismus besaß den Verstand und die Einsicht des Alters, das Feuer der Jugend war ihm jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die Zukunft erobern will, der muß es erhalten, muß es mit seiner Liebe, seinem Haß, seiner Hoffnung nähren, damit es weithin leuchtet und wärmt, und die Fackeln derer, die ihm folgen, sich daran entzünden können.
An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 war ich zu meiner ersten Wahlagitation von Berlin weggefahren, das grau und grämlich, jenseits aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen hatte. In Gusow verließ ich den Zug. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann, die Schirmmütze keck auf ein Ohr gezogen, eine Nummer unserer märkischen Parteizeitung in der Hand — unser Erkennungszeichen. Er lachte mich fröhlich an.
»Ich bin der Jenosse Merten,« sagte er. »So was war noch nich da in Jusow und Platkow. Alles, aber auch alles lauert auf Ihnen —«
Wir stiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren zwischen Weiden und Erlen die Straße hinauf. Überrascht sah ich um mich. Ich hatte es gar nicht gewußt, daß es schon Frühling geworden war!
»Welch eine Luft!« sagte ich mit tiefen Atemzügen.
»Nich war, jut ist sie!« antwortete mein Begleiter mit einem Stolz, als wäre sie sein eigenstes Werk. »Wenn die nich wäre, wir gingen längst auf und davon. Aber wenn wir — meine Kollegen und ich — Sonnabends von der Arbeet aus Berlin nach Hause fahren und unsere Kinder kommen uns entgegen, nich so blaß und dünn wie die berliner Jöhren, und wir können im Jarten in der Laube sitzen, an unserem eigenen Jemüse rumpusseln und an unseren Obstbäumen, — dann vergessen wir gern die Plackerei der ganzen Woche.« Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte nach rechts und links. »Kommst du ooch nach Platkow?« redete er sie an.
»Jawoll —« »Natierlich,« riefen sie.
»Sind das alles Maurer? fragte ich.
»Wo denken Sie hin,« antwortete er, »da sind Landarbeeter mang, sogar Bauern. Heute kommt alles zu uns. Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne Frau reden jehört.«
Mitten auf der Straße, wo die Aussicht am freiesten war, ließ er den kräftigen Braunen halten.
»Das ist das Oderbruch,« erklärte er und wies nach links, wo sich das Land weit, endlos weit in der Ferne verlor, und darauf verstreut, wie Spielzeug, zwischen knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen mit breiten Türmen hervorsahen. Blaßblau, wie von durchsichtigem Kristall, wölbte sich die Himmelsglocke über der Ebene. Aus den dunkeln Ackerfurchen stieg lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergessene Geschichten fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare Land dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den märkischen Junkern, den Itzenplitz, den Marwitz, den Finkenstein, die hier ringsum seit Generationen die Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo der Boden sich hob und Wälder den Horizont begrenzten.
»Hier oben sind die Rittergüter, da sitzen lauter Agrarier, — unsere ärgsten Feinde,« erzählte er. »Die sind schlau gewesen, von Anfang an. Haben sich die guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht erreichen konnte; während die Bauern unten alljährlich drauf gefaßt sein mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. Sie kennen doch die Jeschichte, die unsere Kinder in der Schule lernen müssen: ›Hier habe ich in Frieden eine Provinz erobert,‹ soll König Friedrich gesagt haben, als er mal hier in die Jegend kam. So'n Mumpitz! Als ob es nich arme Luders wie wir gewesen wären, die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!«
»Aber den Gedanken hat doch der König gehabt,« meinte ich.
Ein mißtrauischer Blick streifte mich. »Für'n König mag das freilich ooch schon 'ne Anstrengung gewesen sein!« spottete er.
Eine breite Kastanienallee führte in das Dorf Gusow. Einstöckige Häuser, mit weißen Vorhängen an blanken Fenstern, umgaben in weitem Bogen den Dorfteich, seitwärts öffnete sich der kiesbestreute Weg zum Schloß, dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur Kirche, unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein Begleiter sah nach der Uhr.
»Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park gingen? Sie glauben nich, wie schön der ist!« Dabei bekam sein breites Gesicht einen fast schwärmerischen Ausdruck.
An dem stillen Schloß vorbei betraten wir den Park. Weite Rasenflächen dehnten sich vor der Terrasse, mit einem lichten Schimmer jungen Grüns überzogen. Zu Füßen uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen Himmel standen, guckten Schneeglöckchen neugierig aus der Erde hervor und Krokusblüten schlugen verwundert ihre blauen Augen auf. Ein schmaler Pfad wand sich zwischen hohem Gebüsch, das plötzlich zur Seite wich, um dem Wunder fremdartig märchenhafter Bäume Platz zu machen; grau schimmerten ihre Stämme wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig über das dunkle Moos des Bodens.
»Zedern sind es,« sagte mein Begleiter, »Zedern vom Libanon;« und blickte bewundernd auf den Traum des Südens. Über uns in den Kronen der Bäume brauste der Frühlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und Linden die dürren Äste.
Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und jede Pflanze, — mit scheuer Zärtlichkeit strichen seine rissigen Hände über die ersten kleinen Knöspchen an den Sträuchern.
»Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land so lieben!« staunte ich.
Er schüttelte sich: »Landarbeeter?! Nee! Das is nischt for unsereens!«
Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer Fahrt.
»Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,« sagte Merten, »Strohdächer, — Fenster, wie Mauselöcher, Türen, daß sich ein ordentlicher Mann bücken muß, — wahrscheinlich, damit man's nich verlernt! Nischt als Leisetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die Erde zogen, wenn die herrschaftliche Kutsche sie mit Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders, sage ich Ihnen, janz anders —« dabei strahlte er förmlich — »sehen Sie dort, das Weiße, das ist unser Gewerkschaftshaus!«
Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation der Partei so gut wie unzugänglich gewesen war, weil kein Lokal ihren Versammlungen zur Verfügung stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet. Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die Schankkonzession, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf, einen freien Raum zu freier Rede.
»Sie hätten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus eins — zwei — drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule herauswuchs!« erzählte Merten. »Wir hatten ja nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen man so. An eenem Sonntag in aller Frühe, als sie nach Jusow zur Kirche fuhren, fingen wir zu buddeln an, und als sie nach dem letzten Amen wieder vorbeikamen, sahen die Mauern schon aus der Erde!«
Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll Menschen. Sie schoben sich hinter mir in den kleinen Saal; auf den Bänken an den Wänden saßen schon die Frauen mit heißen Gesichtern.
Ich sprach vom Sturm, der draußen den Staub von den Dächern fegte und alles Morsche zu Boden riß. Und von dem Sturm des Sozialismus. Ich schilderte die politische Lage Deutschlands und zählte die Sünden der Regierung und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs bis zum Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die dem armen Mann in Gestalt von indirekten Steuern, Zöllen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel gezogen werden, während sein Weib daheim im kleinen Haushalt seufzend mit jedem Pfennig rechnen muß. An der Hand der Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter wies ich nach, wie die Verteuerung der Lebensmittel auf die Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die ärztlichen Forschungen heran, um zu zeigen, wie ganze Volkskreise entarten, wenn die Ernährung eine unzureichende ist: »Schwächerer Wille, schneller versagende Aufmerksamkeit, raschere Erschöpfung sind die Folgen einer Politik, die das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ständig im Munde führt, in der Tat aber die Leistungsfähigkeit der Arbeiter untergräbt, und unsere Stellung auf dem Weltmarkt erschüttert. Die wirtschaftliche Krise, unter der wir alle leiden, die Zunahme der Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge von Kinderjammer und Frauenausbeutung sind ein Beweis dafür. Keine ›gepanzerte Faust‹ kann uns davor retten ... Einmal im Laufe von fünf Jahren ist es jedem Deutschen vergönnt, Urteil zu sprechen über die, die sein Schicksal sind. Des Volkes Not und Unterdrückung liegt auf der einen Schale der Wage, des Volkes Glück und Freiheit auf der anderen. Wir, die ›Vaterlandslosen‹, wir, die ›Elenden‹, wir, die ›Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen‹, machen unser Urteil davon abhängig, welche Seite der Wage schwerer wiegt ...«
Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, mit den Händen gefaltet im Schoß, die Männer, ohne den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da sah ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen Erde trug sein Herz nicht auf den Lippen und wußte nichts von der Reaktion empfindlicher Nerven, worin oft der ganze Beifall des Städters besteht. Aber nachher, als ich nicht mehr über ihnen stand, ging ein Fragen und Erzählen an, das mehr als jedes Händeklatschen bewies, wie jedes Wort vom durstenden Boden ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen, aber ein jeder umschloß das große Leid der Welt.
Ich wurde in Arbeiterhäuser geführt: so klein, so arm, so eng. »Und hier is doch so ville Sand, auf dem jut noch zehn Häuser stehen könnten!«
Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen Raum hauste ein uraltes Paar mit vier kleinen Enkelkindern. Das einzige Bett nahm fast die Hälfte der Stube ein.
»Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut jearbeetet,« sagte der Mann, eine zusammengeschrumpfte Gestalt mit einem kleinen braunen Gesicht wie eine Wurzelknolle, »nu essen wir's Jnadenbrot —,« dabei kicherte er halb verlegen, halb höhnisch. »Det Schloß aber, det hat woll an die fufzich leere Zimmer ...«
Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof. Einer, der jüngste der Schar, begann mit heller Stimme zu singen. Allmählich fielen die anderen ein. Die Türen der Häuser, an denen wir vorüberkamen, öffneten sich. Einige der Bewohner traten neugierig bis zur Schwelle. Andere lockte das Lied und die feuchtwarme Märznacht, — sie folgten uns. Und so ging es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer länger wurde der Zug singender Menschen.
klang es schmetternd hin über das schlafende Bruch.
Allmählich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern nähertrat, gewann ich es lieb, und die weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene Schönheit, und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie fühlten noch nicht die Distanz zwischen sich und mir, darum begegnete mir nirgends Neid oder Mißtrauen. Fingen sie doch kaum an, das Allerhandgreiflichste zu empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer Hütte zum Herrschaftsschloß. Und gerade an diesem Punkt ihres Wesens sah ich, wo ich eingreifen mußte.
»Wer andere Zustände schaffen soll, muß doch erst den Druck der eigenen empfinden lernen,« sagte ich zu Romberg, der mir meine agitatorische Tätigkeit durchaus verleiden wollte.
»Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in einer Dorfkneipe Unzufriedenheit predigend,« antwortete er ärgerlich.
»So überzeugen Sie sich durch eignen Augenschein, daß ich es kann,« meinte ich. Auf meiner nächsten Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein Leiterwagen, der uns in strömendem Regen über aufgeweichte Landwege nach einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel mit Namen.
»Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem Wetter?« fragte ich den alten Genossen, der uns an der Bahn empfangen hatte.
»Jut, — sehr jut,« entgegnete er. »Was unser oller Pfarrer is, der hat vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. Sie sollten man bloß nich in die Versammlung jehn, hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am wenichsten, wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus det Mittagbrot kochen und mit die Kinder beten sollte. Nu können Se sich denken, daß se justament in die Versammlung jehn. Proppenvoll war's schonst heut morjen.«
Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt, Fußgänger mit aufgeweichten Sohlen, denen das Wasser von der Mütze tropfte. Wir luden auf, so viel der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen hatten sie Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors erzählten sie ihre Abenteuer. Auf manchem Hof hatten sie über Zäune klettern müssen, weil das Tor vor ihnen verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche bis in die Gesindestuben der Rittergüter vorgedrungen, der andere hatte mit demütigem Gesicht, als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die Zettel in die Hand gedrückt; im Vorübersausen hatte der Radler sie geschickt durch offene Türen und Fenster geworfen.
In der Wirtsstube von Lehmannshöfel glühte der eiserne Ofen. Nasse Mäntel und Stiefel trockneten daran. Tabaksqualm zog in schweren Schwaden an der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen rechts und links zwei Blumensträuße in flachen weißen Papiermanschetten.
»Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut —,« erklärte dunkel errötend ein junges Mädchen, das als letzten Rest der alten Tracht die strohblonden Flechten unter dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in der Kirche saßen die Leute vor mir: rechts die Männer, links die Frauen, — lauter Gesichter, in die kein anderer Gedanke als der an die nächste Not des Daseins seine Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung hier gewesen. Ob ich den Ton finden würde, der zu ihnen drang? Ich erzählte von ihrem eigenen Dasein, wie es in ewigem Gleichmaß dahinfließt, nach der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten, arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für sie nur ein kurzer Rausch ist mit bösem Erwachen — ein Alkoholrausch, ein Liebesrausch — und die Sorgen allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und Schönheit ist; wie das größte und schönste, was die Menschheit in Jahrhunderten gedacht und empfunden, in Tausenden von Büchern und Statuen und Bildern aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. »Aber eine Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen Zauberstab besitzt, dem öffnet sich die Pforte ...«
Ein junger Mann, der ein bißchen stumpfsinnig vor mir gesessen hatte, sah plötzlich auf — mit ein paar Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht flammte.
»Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht die Seele eines Dichters, — mit vierzehn Jahren schon muß es Kartoffeln buddeln und Rüben ziehen, und die Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen Füßen seine Seele tot ...«
An der Tür drüben sah ich ein altes Mütterchen, das den weißen Kopf schluchzend in den knochigen Händen vergrub.
»Für diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit lebenslänglicher Zwangsarbeit bestraft wird ... Tränen darüber sind genug vergossen worden. Vor lauter Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der Kanzel herab haben sie gepredigt, daß die Ergebung in das Geschick eine Tugend ist. Ich sage Euch, sie ist ein Laster. Denn an all dem Elend in der Welt sind wir schuld, — wir mit unserer Demut, unserer Unterwürfigkeit, unserer Trägheit ... Jeder Blick in das bleiche Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um Nahrung sollte der Frau nicht Tränen fruchtlosen Leids erpressen, sondern sie anspornen, ihrem Kind die Zukunft erobern zu helfen ... Wo die Mutter unfrei und furchtsam ist, wächst ein Geschlecht von Knechten mit knechtischer Gesinnung empor, und der Wert einer Mutter wird in Zukunft nicht blos daran gemessen werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und genährt hat, sondern ob sie sie zu Kämpfern erzog und ihnen mit dem Vorbild tatkräftiger Begeisterung voranging.«
An Beispielen des täglichen Lebens suchte ich ihnen klar zu machen, wie jeder Einzelne, auch der Bescheidenste, an dem großen Befreiungsfeldzug des Sozialismus teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen würde ohne die Arbeit des einzelnen. Mir war, als hörte ich die Atemzüge der Menschen vor mir und ihre Seufzer. O, daß ich sie doch ins Herz getroffen hätte!
Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier über den Feldern. Wir fuhren stumm zurück. Frostgeschüttelt lehnte ich mich in die Kissen, als wir endlich den Zug nach Berlin bestiegen hatten.
»Wie Sie das verantworten können!« brach Romberg los, der bis dahin kein Wort gesprochen und den armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte, sein Unbehagen so deutlich fühlen ließ, daß ich schon bedauerte, ihn mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus dem Halbschlaf auf.
»Ich verstehe Sie nicht!« sagte ich.
»Um so schlimmer!« rief er. »Sie nehmen diesen Menschen das einzige, was sie besitzen, was ihnen das Leben erträglich machte: ihre Unwissenheit, ihren Stumpfsinn, — ohne ihnen irgend etwas dafür geben zu können.«
»Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?!« entgegnete ich heftig. »Sich durch die Teilnahme an dem Befreiungswerk der Klassengenossen über sich selbst und sein kleines Schicksal hinauszuheben, — das wäre nichts?! Von Ihnen hörte ich zuerst das Wort von der Politik der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die Disharmonien des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grausamkeit der Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord ihrer Lösung.«
»Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!«
»Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen!«
Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen Erstaunen wehe tat, streifte er mich.
»Ist Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein Attribut der Weiblichkeit?« fragte ich, und das Herz klopfte mir, als fürchtete ich die Antwort.
»Ich weiß selbst nicht recht —,« meinte er zögernd. »Aber daran soll unsere Freundschaft nicht Schiffbruch leiden.«
»Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?« fing er nach einer Pause wieder zu sprechen an, als der Zug sich Berlin schon näherte. Ich sah auf. »Ich möchte, daß Sie wenigstens zwischendurch wieder ein Kulturmensch werden!«
Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, versprach ich ihm, mich am nächsten Tag seiner Führung zur »Kultur« anzuvertrauen. Am Bahnhof empfing uns Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen Gegend seines Wahlkreises zurückgekehrt war. Wir waren beide so erfüllt von unseren Erlebnissen, daß wir im Eifer des Erzählens Romberg fast vergaßen. Er verabschiedete sich steif und verstimmt.
»Bildung und Politik sind für mich schwer vereinbare Begriffe —,« sagte er am nächsten Morgen, als wir zusammen in die Stadt gingen.
»Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen, der bisher nur einer Frau gestattet war,« entgegnete ich ärgerlich. »Es ist noch nicht lange her, daß Sie mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen habe, die Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der Zeit feierten.«
Er lächelte. »Frauenlogik! Es tut mir ordentlich wohl, diesen weiblichen Zug bei Ihnen zu finden! Was hat mein Urteil über den Klassenkampf des Proletariats mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebildeten an der Politik zu tun?! Wir sollten um höhere Werte ringen —«
»Gibt es höhere, als die Befreiung der Menschheit von all den Fesseln, die sie an die Erde schmieden und ihren Höhenflug hemmen?!« unterbrach ich ihn erregt.
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — die alte Parole, unter der schon die Bastille gestürmt wurde,« entgegnete er mit spöttischem Lächeln; »fügen Sie noch das Ideal des Christentums, — die selbstentsagende Nächstenliebe hinzu, so beweist das alles, wie unsäglich arm eine Zeit sein muß, die selbst einer so gewaltigen Bewegung wie der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen können.«
Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden, das ich um so energischer zu unterdrücken gesucht hatte, als mir die Wege dunkel erschienen waren, zu denen es hätte führen können.
Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins. Der Holzbogen der Eingangshalle, der in seinen geschwungenen Linien alle Sprödigkeit des Materials siegreich überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare Lichtspender von innen strahlend, lagen auf grauem Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen und Diademe; Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchsichtigem Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber; Perlen in phantastischen Formen standen neben Edelsteinen von unerhörter Farbenpracht —
»Ein Schmuck für Märchenprinzessinnen, von einem Dichter geschaffen,« sagte Romberg bewundernd und versenkte sich in den Anblick. Er mochte weißer Arme gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenköpfe mit lachenden Lippen und duftenden Locken. In meinen Augen aber hafteten andere Bilder: rissige Hände, gebeugte Rücken, sorgendurchfurchte Gesichter —, ich wandte mich ab, im Innersten verletzt.
Der nächste Raum war voll sanften Lichtes und tiefer, weicher Sessel.
»Wie wohltuend, wie ruhig!« meinte jemand. »Eine schöne alte Frau mit sehr weißen stillen Händen müßte ihren Lebensabend hier verträumen.« Aber die Armenstube von Platkow sah ich vor mir.
Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, blumendurchwirktem Rasenteppich, der sich im stillen Wald verlor und zärtlich eine Quelle umgab, die diesen Frieden mit keinem Plätscherlaut stören mochte, kniete ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu der Jungfrau erhoben. Aus der Säulenhalle des Tempels tretend, krönte sie ihn; lange, schmale, durchsichtig bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, so schlank und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das alles leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur, in sattem Grün, — weitab allen grauen Tönen der Wirklichkeit. Fast nahm die fremde Wunderwelt mich schon gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park vor mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitshänden zärtlich die kleinen Knospen streichelte. Ich war sehr einsilbig.
Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks Pelleas und Melisande unter der Direktion eines jungen Revolutionärs der Bühne zur Aufführung kam. Böcklins Landschaften schienen lebendig geworden:
Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schloßtürme und der weiße Marmorbrunnen verschmolzen mit den schwebenden Gestalten, dem Sonnenglanz und dem Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst.
Die lärmende Straße draußen zerstörte den Traum. Mit schmerzhafter Klarheit empfand ich die gähnende Kluft zwischen all der ästhetischen Kultur, die um uns her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken und Wünschen der Millionen, die erst anfingen, um die Befriedigung ursprünglichster Triebe zu kämpfen. Rombergs Gedanken begegneten den meinen.
»Fühlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen stehen, deren ganzes Bedürfen in etwas mehr Zeit, etwas mehr Brot gipfelt?« sagte er. »Sie müssen Ihre Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr Sprachrohr werden zu können.«
Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder.
»Wie eng Sie denken!« lachte ich. »Nicht abstumpfen, steigern muß ich meine Empfänglichkeit, damit ich immer weiß, wie groß das Entbehren ist und wie ungeheuer der Gewinn unseres Kampfes.«
»Machen Sie sich denn gar nicht klar, daß, wenn die Masse erreichen sollte, was Sie heute haben, Sie und Ihresgleichen ihr wieder um tausend Jahre voran sind?!« sagte Romberg. »So wird die Kluft bleiben, — immer bleiben, und die Gleichheit ist eine Chimäre.«
»Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen; wie der Baum aus diesem Boden wächst, darüber entscheidet seine eigene Kraft,« antwortete ich.
Wir brachen ein Gespräch ab, das uns nur voneinander entfernen mußte. Aber einen Gedanken hatte es wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr einschläfern ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abschütteln wollte, so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und Herz. Hörbarer, als da die Völker wanderten, um sich neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde unter den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt hatten, um dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen fehlte die einheitliche Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale lag sie nicht. Und was Marx ihnen gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erklärungen über die Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung gewesen, die nur so lange über den Mangel hinwegtäuschen konnten, als sie unerschüttert waren.
Ein Ereignis bestärkte mich in meiner Idee. Mitten im Wahlkampf, der all unsere Kräfte auf ein Ziel, — die Niederwerfung des Gegners, — hätte konzentrieren müssen, entspann sich ein wüster Krieg zwischen den Parteigenossen selbst. Er wäre unmöglich gewesen, wenn nicht jenes Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges Mißtrauen zur Folge haben mußte. Was der eine ruhigen Gewissens tat oder ließ, das erschien dem anderen als ein Verstoß gegen die Partei.
Ein halbes Dutzend Parteigenossen, — ich gehörte zu ihnen, — hatten seit Jahr und Tag an einer bürgerlichen Wochenschrift mitgearbeitet, die eine Tribüne war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte kamen. Die literarischen und künstlerischen Kritiken, die ich darin veröffentlicht hatte, — Augenblicksarbeiten, denen ich gar kein längeres als ein Augenblicksinteresse beimaß, — hatten oft weniger dem Bedürfnis nach Aussprache, als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu verdanken. Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verfügung, und um so seltener, je mehr ich des Revisionismus verdächtig war. In ähnlicher Lage wie ich waren die meisten derer, die mit mir ›gesündigt‹ hatten. Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im heftigsten Feuer der Wahlkampagne. Aber das hinderte einige radikale Wortführer nicht, uns in breitester Öffentlichkeit als Schleppenträger der gegnerischen Presse zu verdächtigen.
Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als ich schon am Schreibtisch saß, um uns dagegen zu verteidigen. Die Ansicht, daß wir jede Tribüne benützen müssen, von der aus wir gehört werden können, hatte sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin beeinflußt, angesichts des Frauenkongresses verleugnet hatte, nur befestigt. Unsere Presse, unsere Versammlungsreden erreichten immer nur dieselben Kreise, und abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den Darstellungen der Gegner kennen lernten. Ich legte meine Erklärung den Mitbetroffenen vor. Sie sollte in derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen hatte. Ich wurde daran verhindert; man wünschte die Ausdehnung des Zwists zu vermeiden, indem man die öffentliche Antwort, wie ich sie beabsichtigt hatte, in eine Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte. Dieser aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne Auseinandersetzung einzugehen, — die ganze Presse hatte sich schon der Sache bemächtigt, unsere politischen Gegner schlachteten sie gegen uns aus —, er veröffentlichte seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf an einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in hämischer oder gehässiger Weise kritisiert. Die ganze Provinzpresse druckte natürlich die lapidaren Sätze des Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt vor den Genossen, in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern waren die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor ihnen zu diskreditieren. Darüber verging uns das Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort gewesen wäre. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem Parteiführer an die Hand gab, mißliebige Blätter auf den Index zu setzen, einen weiteren Schritt zum Papismus, wir empörten uns, daß gerade diejenigen, die in der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern, die dem Verdienst nachgehen mußten, die Zugehörigkeit zur Partei unmöglich zu machen suchten, und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir Überläufer aus der Bourgeoisie, die im Kampf gegen alle Autoritäten, — die der Familie, der Bildung, der Religion, des Staats —, den Weg zur Sozialdemokratie gefunden hatten, wären die letzten gewesen, eine neue Autorität, — die des Parteivorstands, — anzuerkennen. Und mein Mann, der seine Frondeurnatur am wenigsten verleugnen konnte, wurde unser Wortführer gegen ihn: in einem geharnischten Artikel verteidigte er die Freiheit der Meinungsäußerung. Nun erst entbrannte der Kampf, der seit dem Münchener Parteitag schon im stillen die Geister erhitzt hatte, auf der ganzen Linie, — mit all jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu Feinden werden.
Im stillen fürchteten wir, was unsere politischen Gegner hofften: daß die Wahlen dadurch zu unserem Nachteil beeinflußt werden könnten.
Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit, sollte ich in Frankfurt a. O. die Festrede halten. Mir war im Augenblick wenig festlich zumute: mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich die Agitation begonnen, — sollte sie vergebens gewesen sein?! Sollte ich am Ende an ihrer Erfolglosigkeit mitschuldig sein, weil ich — es klang wie der dumme Witz eines Possenreißers — in einer bürgerliche Zeitschrift über Halbes Theaterstücke und Laura Marholms Frauenbücher geschrieben hatte?! Aber schon als der Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verließ und statt der hohen grauen Häuser sich draußen Laube an Laube reihte, von dem ersten jungen Grün überhaucht, mit bunten Fähnchen lustig bewimpelt, und Menschen in Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Äste bewegten, den Versammlungen entgegeneilten, in denen ihres Frühlingsglaubens Auferstehungsbotschaft gepredigt werden sollte, verschwanden all meine törichten kleinlichen Ängste. Was hatten die dogmatischen Zänkereien der Priester mit der Religion der Massen zu tun?
Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, mit blauen Bändern in den Zöpfchen und frisch gewaschenen weißen Kleidern, die sich um sie bauschten, so daß sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie führten mich hinunter in die Stadt über den Platz mit seinen geharkten Wegen, seinen artigen Rasenfleckchen und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an Häusern vorüber mit nüchternen Fassaden und ablehnend verhangenen Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen wirkte hier wie erschreckender Lärm. Als wir aber um die Ecke bogen, wo die Kastanien über das holprige Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu vieren und fünfen, mit weißen und braunen und gelben Kinderwägelchen dazwischen, die Männer im Sonntagsrock, die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, so zogen sie durch die Straße. Und an jeder Gassenmündung gesellten sich andere hinzu, und wo die Gärten größer und die Häuser kleiner wurden, kamen Landleute mit Stulpenstiefeln, Mädchen mit Kopftüchern über die Feldwege. Alles grüßte einander mit dem Blick frohen Erkennens. Weit hinunter bis zu dem silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten Weiden umrahmt, üppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie auf die Erde gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butterblumen daraus hervor. Von der anderen Seite des Wegs, wo der Boden sich hob, nickten über Weißdornhecken rosig blühende Bäume; darüber klang der langgezogene Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt der Rotkehlchen, das vielstimmige Zwitschern buntgefiederter Meisen.
Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben, und eins war ich mit ihnen. Aus dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir zogen, tönte Musik. Auf der Bühne der Festhalle, die wir betraten, warteten schon die Sänger. Ich stieg die Stufen hinauf. »... Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben...« sang der Chor. Durch die hohen weit geöffneten Fenster strömte die Sonne in breiten Wogen; ihre Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit herein und berührten all die braunen und blonden Scheitel der andächtig lauschenden Menge.
Dicht unter der Bühne hatten sich die Kinder zusammengeschart, die kleinsten in ihren bunten Kleidchen, wie ein Beet farbenfroher Sommerblumen, am weitesten nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis auf die Rampe geklettert, ein strohblondes Mädchen schmiegte sich schüchtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare — ein schwarzes und ein blaues — hingen an mir wie eine große verwunderte Frage.
Sehr feierlich war mir zumute, als stünde ich, ein geweihter Priester, zum erstenmal auf der Kanzel. Aber es war nicht die Religion der Liebe, die ich predigte, — jener Liebe, die den Haß der Welt in sich trägt, es war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, — jene Seligkeit, in die nur Eingang findet, wer zu kriechen und den Kopf zu bücken gelernt hat. Was als unklare Empfindung in den Herzen unserer Väter lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern waren, die dem steigenden Licht im Lenz die Neugeborenen weihten, — das ist die Grundlage unserer Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne abtötet, sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr am feinhörigsten ist, um alle Schönheit der Welt in sich aufzunehmen, der ist der Heiligste unter uns. Und ein Anrecht auf unser Himmelreich gewinnt nicht, wer leidet und duldet, sondern wer handelt und genießt. Dulden und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen Kultur vermag zu genießen, nur der Wissende handelt.
»Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um Jahr in der Forderung des Achtstundentages zu diesem Frühlingsfest vereinigen, so tun sie es, weil sie wissen, daß sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die Voraussetzung für Wissen und Genuß ...«
Halb enttäuscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen der Kinder noch immer zu mir empor. Mit demselben Ausdruck bettelte mein eigen Kind um eine Geschichte, wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume und die Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese Kleinen hier sollten nicht vergebens warten: von den Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die auszogen, ihre verlorenen Königskronen wiederzufinden ...
Draußen im Garten kamen sie dann alle und dankten mir. Die Kinder hatten die Fäustchen voll Wiesenblumen und legten sie mir in den Schoß. Die Alten luden mich an ihren Tisch. Sie wußten nicht, daß ich ihnen zu danken hatte. Ich war wieder stark und froh, ich hatte in ihnen die Erde berührt, die kraftspendende.
Der Tag der Entscheidung rückte näher. Immer leidenschaftlicher wurden die Angriffe unserer Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugblättern. Mit dem alten Märchen vom gewaltsamen Teilen suchten sie den Bauern, der an seiner Scholle hängt, den kleinen Handwerker, der sich an den kläglichen Rest seiner Selbständigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu fesseln. Mit der Autorität des Kaisers stützten sie ihre Angriffe auf die sozialistischen Agitatoren.
»Zerreißt das Tischtuch zwischen Euch und jenen Leuten,« — dieses kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf. Weite Kreise des Volkes, denen der Thron noch so heilig war wie der Altar, scharte er unter ihre Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellungnahme des Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, trieb er zu uns herüber. Hochauf loderte der Zorn in unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte an bitterer Enttäuschung und stillem Groll, das brach flammend hervor. Zu Regimentern, die wider den Gegner aufmarschierten, wurden die vielstelligen Zahlen, die Milliarden, die Armee und Flotte, China und Afrika verschlungen hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie drüben mit blutigen Farben das Bild der Revolution und rissen dadurch den Gleichgültigen aus dem verschlafenen Winkel seines Daseins, so beschworen sie hüben alle Gespenster der Not und des Hungers herauf und schreckten mit ihnen die Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben. Der ehrliche Kampf mit offenem Visier auf freiem Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimtückischen Listen und nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen Lager hin und her auf leisen Sohlen schlich die Verleumdung; wen das Schwert nicht niederstreckte, den vergiftete sie.
Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich als einzelne behaupten wollen, gegenüber der Suggestion der Masse. Aber je länger ich im Kampfe stand, desto schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen. War ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen Füße von selbst im Takt der anderen marschieren, der die gleichen Waffen trägt, und, vom Rausch des Krieges überwältigt, einen persönlichen Feind in jedem Glied des gegnerischen Heerbannes sieht?
Der Gegenkandidat meines Mannes war ein alter Reaktionär, den der Bund der Landwirte auf seinen Schild erhoben hatte. Der Zolltarif galt ihm als ein »gigantisches Werk«; die Arbeitslosenversicherung, die in diesem Jahre wirtschaftlicher Depression für uns eine immer dringendere Forderung geworden war, erklärte er für »unmoralisch«; dem gesetzlichen Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem Wege zu unseren Zielen lag, müsse, so sagte er, ein »Stopp« entgegengerufen werden, und wider den Großkapitalismus, dessen Entwicklung eine Voraussetzung des Sozialismus war, galt es, den Mittelstand mobil zu machen. Als der typische Konservative war er der willkommenste Gegner, weil sich hier, klar voneinander geschieden, zwei Weltanschauungen gegenüberstanden. Zwischen ihnen schwankten, als das Zünglein an der Wage, die Liberalen des Kreises hin und her. Sie wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück Weges zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller liberalen Grundsätze gleichkam, wenn sie den Konservativen Gefolgschaft leisten wollten.
Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir uns zu Hause, so schrieben wir zusammen Flugblätter und Artikel, wobei er mit der ruhigen Sachlichkeit seiner Beweisführung die Gegner zu entwaffnen und ich mit dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben versuchte. Hie und da trafen wir uns in Versammlungen, dann hörte ich, daß er sprach, wie er schrieb: er wandte sich an den Verstand, er suchte zu überzeugen, wo ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache des Dozenten, nicht die des Agitators. Wen er dem Sozialismus gewann, der wurde zum Bekenner. Was ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk sein.
In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. Schon blühten Pfingstrosen in den Gärten, und von Flieder und Hollunder dufteten die Lauben. Über den staubigen Chausseen brütete die Sommersonne. Die Menschen in den engen Sälen atmeten rasch und schwer wie im Fieber. In den Dörfern gab's Schlägereien. War einer als Genosse bekannt, so spieen die Bauern vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen aus dem Wege. Die Kinder aber in der Schule ließ der Lehrer mit besonderer Vorliebe patriotische Lieder singen. Säle, die uns zur Verfügung gestanden hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein Herr der Situation, stand der Gendarm vor der Türe, wenn wir den Eingang erzwingen wollten. Kamen wir auf freiem Felde zusammen, der Sonne und dem Regen trotzend, so löste er die Versammlung auf, hatten wir irgendwo einen Raum für sie gefunden, so erklärte er ihn für feuergefährlich, kam ich als Rednerin in irgend ein abgelegenes Nest, so hieß es: »Frauenspersonen dürfen nicht sprechen.« Aber die Genossen waren immer wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in ein kleines Dorf, das weltverlassen zwischen zwei blauen Seen in der Niederung liegt. Nur arme Schiffer wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als der Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte seine ganze arme Kate ausgeräumt, um die Versammlung zu ermöglichen. Das Hausgerät stand auf dem Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all seine Armseligkeit. Die leeren Stuben faßten trotzdem die Menge nicht, das Gärtchen stand noch voll von ihnen. Selbst auf den Gemüsebeeten trampelten schwere Stiefel, aber als ich ein Wort des Bedauerns äußerte, sagte des Schiffers Frau mit glänzenden Augen: »Wenn's auch mit Erbsen nischt is dies Jahr, wenn's man mit die Stimmen für den Sozi wat sein wird!«
Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in Frankfurt an. Im Hauptquartier der Partei herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich Radfahrer, um zum morgigen Dienst ihre Marschorder in Empfang zu nehmen, blutjunge Leute unter ihnen, die sich mit um so größerem Enthusiasmus in den Dienst der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht wählen durften; dort stellten sich Frauen zur Verfügung, um die Säumigen an die Urnen zu holen, und in später Nachtstunde kamen andere hungrig, heiß und verstaubt von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. Als die Stadt schlief, huschten die Unermüdlichen noch durch die Straßen, und am Morgen leuchtete in weißen und roten Lettern ein »Wählt Brandt!« an den Zäunen und auf dem Trottoir.
Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten sich allmählich die Bürger ein, ruhigen Schrittes, ohne sonderliche Erregung; mit dem Zwölfuhrglockenschlag wurde es auf den Straßen lebendig, und durch die Türen schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt, wie die Fabrik und der Bau sie entlassen hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der sich meldete, strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung an die ihrer Aufgabe wartenden Frauen. Und die suchten dann die Säumigen in den Wohnungen, auf den Arbeitsstätten. Nachmittags lag wieder sommerliche Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich schon mit rosigen Wolken überzog, hallte das Pflaster wider von raschen Tritten. Sie kamen in Scharen: die jungen, rüstigen voran, und zuletzt, von Frauen, von Kindern geführt, Alte, Kranke und Krüppel. Der Zettel in ihrer Hand, das war ihr einziges, freies Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen Tage die Gestalter ihres Geschicks.
Es dämmerte. In den Wahllokalen saßen unter spärlichen Gasflammen, vor rauchenden Petroleumlampen die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es keiner erklärenden Worte, die leersten Gesichter waren sprechend geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht drückte sich in ihnen aus.
Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im Hause, wo die Partei ihr Bureau aufgeschlagen hatte, waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben war es noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte vor dem Tisch mit dem großen Tintenfaß und den unbeschriebenen weißen Blättern der kommenden Dinge. Sie grüßten uns kopfnickend, sie waren blaß und schweigsam vor Erregung. Über Webers Stirn standen helle Schweißtropfen, seine blanken Augen waren verschleiert. Wir setzten uns. Nach und nach füllte sich der Raum. Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie ebenso viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf der zweite, der dritte, der vierte — die Wahlbezirke der Stadt.
»Schlecht steht's!« knirschte der eine und warf den Zettel auf den Tisch.
»Der Westen Frankfurts —,« sagte Weber, »immerhin: zum erstenmal Stimmen für den Sozi! — Das Zentrum, — na, besser hätt's sein dürfen! — Und die Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf Kommando wählten! — Aber hier —,« sein Gesicht strahlte — »das reißt die ganze Stadt heraus!«
»Hurra!« rief einer und schwenkte die alte Soldatenmütze zum offenen Fenster hinaus.
»Bravo!« antwortete es vielstimmig von unten.
Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle Plätze an den langen Tischen besetzt.
»Warum dauert das nur so lang —,« seufzte ich.
»Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht hier sein —,« sagte Weber, der wieder und wieder nach der Uhr sah.
»Telegramme!« schrie jemand. Der Postbote drängte sich durch die Reihen.
Mit bebenden Fingern riß Weber sie auf: »Berlin erobert! — Ganz Sachsen unser —!«
Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Straße weiterpflanzte, aber rasch verklang. Das Schweigen war eine einzige Frage. »Und wir?!« — Jetzt aber tönte von unten ein donnerndes »Hoch!« Wir stürzten zum Fenster: über das Pflaster sprangen Lichter in langer Kette, Räder blitzten auf —, die Treppen stürmte es empor: atemlos, blaurot, mit zitternden Knien standen sie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die hellen Freudentränen tropften ihnen über die Wangen. Mit einer fast feierlichen Gebärde breitete Weber die Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen hatten wir gewonnen. Dicht unter den Augen der Gegner, auf Gutshöfen, in Dörfern hatten die Landleute für uns gestimmt. Stumm streckte ich dem Maurer Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen seinen harten Fingern.
Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch fehlten die entferntesten Bezirke, — Buckow, Fürstenwalde. »Entschieden ist noch nichts,« murmelte Weber angstvoll.
Wieder ein Lärm auf der Straße. »Die Oderzeitung bringt ein Extrablatt!« schrieen sie zu uns empor. In weitem Bogen flog es von der Tür über die Köpfe hinweg auf unseren Tisch: »Depeschen aus Süddeutschland — München, Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt — alles unser!«
Und nun löste ein Depeschenbote den anderen ab; jede Siegesnachricht steigerte die elektrische Spannung, selbst die Nachtluft draußen schien erfüllt von ihr.
Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der Marienkirche aus.
»Im Haus der Oderzeitung löschen sie die Lampen,« — rief ein junger Bursche, und brach sich mit Ellbogenstößen freie Bahn in den Saal. Die Gesichter ringsum erhellten sich.
Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen säumiger Wähler, nahm aus ihrem bis dahin sorgfältig gehüteten Korb einen großen Strauß roter Nelken und stellte ihn vor uns auf den Tisch. — »Ist's nicht zu früh?!« — Ein Brausen lag in der Luft, — war's nicht das pochende Blut in meinen Schläfen? Oder waren's die vielen Stimmen vor dem Haus?
»Die ganze Straße steht schwarz voll Menschen,« flüsterte ein baumlanger Arbeiter neben mir in scheuer Angst. Es war heiß, — glühend heiß im Saal, und doch schien mir, als müßten alle frieren wie ich.
Da — »Fürstenwalde!« und wie ein Echo: »Buckow!« Weber war weiß im Gesicht, — sekundenlang bohrten sich seine Augen in das Papier. Wir hielten den Atem an, — dann stieß er mit rauher Stimme ein einziges Wort hervor: »Gesiegt!«
Einen Augenblick war es noch still. Einem alten Mann, den ich nicht kannte, und der bis zu mir vorgedrängt worden war, drückte ich krampfhaft die Hand. Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie, das jauchzte, das schluchzte —, alte Männer fielen einander um den Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den Schultern der Nächsten. Und draußen zerriß ein einziger Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen nach ihrem Gewählten.
Auf die Fensterbrüstung trat er. »Nicht mir dieses Hoch, Parteigenossen —,« und seine tiefe Stimme klang voll und warm und die Luft selbst schien sie weiter und weiter zu tragen, »— Euch vielmehr, die ihr den Sieg erkämpftet, und unserer großen Sache vor allem, die die Siegesgewißheit in sich trägt! Ein Hoch der Sozialdemokratie, ein dreifaches Hoch!« Und wieder brauste es, als schlügen orkangepeitschte Wellen an Felsenriffe.
Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun kam er zurück. Er trug die alte Fahne, von grauen Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm er langsam die Hülle ab, hob die schwere Stange hinaus, und das rote Tuch rollte auseinander und wehte, aufglühend, wo das Licht es traf, wie entfachte Flammen über die stumme Menge.
»Genossin Brandt! — — Alix Brandt!« — Riefen sie mich?! — Man schob mich zum Fenster, — man hob mich empor, — ich sah keine Menschen, ich sah nur ein wogendes Meer, — ohne Anfang, ohne Ende. Und ich streckte die Arme weit aus —
Alle Vorbereitungen für das Erscheinen der Gesellschaft waren getroffen. Es sollte eine Zeitschrift großen Stiles werden. Hervorragende Parteigenossen des In- und Auslandes hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt. Eine junge Künstlerin, von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den Umschlag gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen die Feuerflammen der kommenden Zeit emporschlagen. Es gab Leute, die angesichts der schönen Ausstattung, des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die wir festgesetzt hatten, bedenklich die Köpfe schüttelten. Aber der Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an unsere Sache, den wir von jeher besessen hatten, nur noch gestärkt. Jetzt war wirklich die Zeit gekommen, wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu werden begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbständig praktische Politik zu treiben. Breite Schichten der Arbeiterschaft, die erstarkten Gewerkschaften an der Spitze, verlangten danach, und die Masse der Mitläufer, die unseren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifellos nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat zu uns gekommen, sondern durch die Hoffnung auf Reformen der Gegenwart.
Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem Bureau: »Der Lindner läuft umher wie die Jungfrau von Orleans: ›und mich, die all dies Herrliche vollendet, mich freut es nicht, das allgemeine Glück‹. Sollten die Schwarzseher ihn schon beeinflußt haben?! Das könnte mir passen!«
Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann kam ein Brief; — während mein Mann ihn überflog, veränderten sich seine Züge: »Hier hast du den Wisch,« rief er wütend und warf die Türe hinter sich ins Schloß.
»Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zusammenarbeiten zwischen uns nicht erreichbar sein wird, trete ich von unserem Vertrag zurück —,« las ich.
Das ist doch nicht möglich, — das kann doch nicht sein, fuhr es mir durch den Kopf; wie kann er sein Wort brechen, jetzt, in diesem Augenblick, wo er weiß, das damit alles steht und fällt!
Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. »Nichts zu machen,« knirschte er, als er nach Hause kam, »mein Anstand, oder sagen wir lieber meine Dummheit, die mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, ermöglichen diesen erbärmlichen Rückzug.«
Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese Frage nur eine Antwort: »Erst recht!«
Ich fühlte mich im ersten Augenblick wie gelähmt und war geneigt, im Rücktritt Lindners etwas zu sehen, das einem Wink des Schicksals oder einem Gottesurteil gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei zerstreuten den Nebel, der meinen Blick vorübergehend verdunkeln wollte.
Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern stattgefunden. Hunderte von Rednern hatten das »Unser die Welt!« in die überfüllten Säle hinausgeschmettert und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann aber war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle Schweigen war eingetreten, das jedem großen Ereignis zu folgen pflegt. Man konnte sich nicht vorstellen, daß nun der Alltag wieder da ist, — genau so wie vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren entsprach, das wir erlebt hatten! Doch es geschah nichts. Nur der Sommer war gekommen mit seiner Blumenpracht, — wie immer. Ein unbestimmtes Gefühl der Enttäuschung erkältete die eben noch glühenden Herzen. Die durch den Kampf aufgepeitschten Nerven erschlafften plötzlich; eine nörgelnde Empfindung der Unzufriedenheit entstand; kaum einer war, der sich ihr entziehen konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den Sieg gerungen hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt.
Einige der führenden Geister in der Partei waren sich bewußt, daß die nervöse ungeduldige Frage der Massen nach dem Preise des siegreichen Kampfes Antwort heischte. Aber sie empfanden nicht, daß die Antworten, die sie gaben, angesichts der Größe der Erwartungen wie eine Verhöhnung wirken mußten. Kautsky, der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr als der Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich nur mit den Wahrscheinlichkeiten der künftigen Haltung unserer Gegner beschäftigte, und im übrigen die Gemüter durch den Hinweis auf »die alte, bewährte Taktik der Partei« zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen, der Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen praktischen Resultaten zu gelangen, acht Tage nach dem Siege auf die Frage: was folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als die: ein sozialdemokratischer Vizepräsident im Reichstag! Was in ruhigen Zeiten vielleicht zu einer Erörterung innerhalb der Fraktion geführt hätte, das wurde jetzt das Signal zum Aufruhr.
Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu Markte getragen, darum haben drei Millionen Deutsche einundachtzig Sozialdemokraten in den Reichstag geschickt, damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten wird, vor dem Kaiser zu katzbuckeln, — dem Kaiser, dessen Faust wir von Essen und Breslau her noch auf unserer Wange brennen fühlen?! So tönte es von allen Seiten.
Vergebens, daß Vollmar von München aus versuchte, der kühlen Vernunft zu ihrem Rechte zu verhelfen, indem er die tatsächlichen Vorteile der Vertretung der Partei im Präsidium hervorhob und die Haltlosigkeit der prinzipiellen Gegnerschaft zu dem »Hofgang« dadurch illustrierte, daß die Parteigenossen in den Einzelstaaten es mit ihrer republikanischen Gesinnung vereinigen müssen, dem jeweiligen Landesherrn Treue zu schwören, der Eid aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller Besuch im Kaiserschloß, — bis nach Norddeutschland drang seine Stimme nicht. Zu tief empfanden Alle die unbewußte Verhöhnung ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte. Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck nicht entziehen.
Die Empörung über Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen Wut auf die Revisionisten, die sie ihrerseits mit einem Ungeschick, das sich nur aus ihrer Temperamentlosigkeit erklären ließ, schüren halfen.
»Wir müssen die liberalen Parteien ersetzen —,« erklärte der eine; die aufgeregten Massen lasen daraus: wir müssen unsere sozialdemokratischen Grundsätze in die Tasche stecken.
»Ein proletarischer Klassenkämpfer sein, das heißt nicht auf die bürgerliche Gesellschaft unterschiedslos drauflos prügeln —,« sagte ein anderer; die Arbeiter ergänzten: wir sollen mit ihr liebäugeln.
Sie hatten unrecht — zweifellos —, wie jeder unrecht hat, den die Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen vorwärts reißt, sondern blind und taub macht für alles, was rechts und links geschieht. Aber weit größer war das Unrecht derer, die imstande gewesen waren, an dem Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde Flammen die Begeisterung der Kämpfer entfacht hatten, ihr armseliges Süppchen zu kochen und es den Andächtigen, deren Glauben noch glühender brannte als das Feuer, als sättigende Speise darzureichen.
Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der noch immer wundergläubig gewesen war, wie sie; einer, den, wie sie, der Sieg trunken gemacht hatte: August Bebel. In einer Erklärung, die dem Pronunziamento des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle gleichkam, verurteilte er Bernstein und die Seinen und drohte überdies mit der Entscheidung des nächsten Parteitages. Nun erst, nachdem der Führer gesprochen, entbrannte der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was Bebel nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort aus der Partei, wer uns den Sieg verekelt.
Ich fürchtete das Schlimmste. Meine persönlichen Besorgnisse verschwanden wie Tautropfen im Meer. Jetzt galt es, den Bedrohten einen Mittelpunkt schaffen, der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung werden könnte. Aus tiefster Überzeugung wiederholte ich Heinrichs: »Erst recht!«
Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt zu unserem Ziel. Heinrich wandte sich an einen der größten Verleger, der seine Bereitwilligkeit aussprach, das Archiv zu übernehmen, wenn der alte Herausgeber ihm erhalten bliebe. Er bot ein Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens der Sorgen enthoben hätte. Wir besannen uns keinen Augenblick, seine Vorschläge zurückzuweisen.
»Nun bliebe noch Romberg,« sagte ich zögernd; ich wußte, seit jener ersten Anfrage war eine leise Entfremdung zwischen den beiden Männern eingetreten.
»Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende Vormund,« brauste Heinrich auf.
Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg. Wenige Tage später war er in Berlin. Ich setzte ihm die Lage auseinander.
»Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse für die Zeitschrift,« sagte ich, »die heute eine der angesehendsten ihrer Art ist. Es lag Ihnen daran, sie in die Hand zu bekommen; — Sie sprachen seinerzeit davon, als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn ich nun aber statt meines persönlichen Interesses, das sich nicht verändert hat, meine Freundschaft entscheiden ließe?!« rief er aus. »Mir scheint, ich müßte Sie vor einem Unglück bewahren!«
»Das lassen Sie meine Sorge sein,« antwortete ich herb. Er schwieg verletzt, und als gleich darauf mein Mann eintrat, stellte er sich auf einen ausschließlich geschäftlichen Standpunkt und verhandelte nur mit ihm.
Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entschieden: Mit zwei anderen Herren übernahm Romberg das Archiv.
Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht wiedergewonnen und lud ihn ein, den Abschluß fröhlich mit uns zu feiern. Aber er war schon abgereist.
»Dann geben wir uns allein ein Fest,« meinte mein Mann; »wir haben Ursache genug dazu als selbständige Inhaber der Neuen Gesellschaft!« Doch es schien, als sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit unsere Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder.
Der Hader in der Partei nahm immer bösartigere Dimensionen an. Was Bebel an Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das klang so maßlos, daß die Vizepräsidentenfrage und die Mitarbeit der Parteigenossen an bürgerlichen Blättern unmöglich die einzige Ursache seines Vorgehens sein konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn er alle politische Klugheit so völlig zu vergessen vermochte und den Gegnern die bittere Pille der Wahlniederlage durch den Kampf in den eigenen Reihen versüßte.
»Die Zeit des Vertuschens und Komödienspiels ist vorbei —,« rief er; »jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt gibt's kein Ausweichen mehr —,« was hieß das anders, als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten?
»Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!« mahnte er; was bedeutete das anders, als daß sich Verräter in ihrer Mitte befanden? Aber während Bebels Zorn vom Feuer der Leidenschaft noch immer verklärt erschien, sekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit der Kälte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte im Proletariat, auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten, der Pöbel. Er warf sich keifend auf alles, was nicht mit ihm lärmte.
Wir, die wir dem Revisionismus eine selbständige Zeitschrift schaffen wollten, standen, das zeigte sich bald, mit auf der ersten Seite der Liste der Konskribierten. Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes erschienen war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen gebrandmarkt; von Mund zu Mund ging der Klatsch, daß wir einen reichen Gönner gefunden hätten, der es wie einen Sprengstoff in die Partei werfen wollte, und in einer der wild erregten Versammlungen, die dem Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das verächtliche Wort, das wohlgefällig weitergetragen wurde: »Geschäftssozialisten.«
Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten wir eine gesicherte Existenz von uns gewiesen, — und nun dies Wort!!
Ich brütete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf die Straße, denn ich fühlte mich wie beschmutzt.
Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen begegnete, die unter dem Namen Revisionisten zusammengefaßt wurden. Das zahnlose alte Weib, der Klatsch, ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den dürren Fingern, die in jeder Gosse gierig wühlen. Als Mandatsjäger wurde der eine verdächtigt, als lügnerischer Verleumder Bebels der andere. Und wessen wir bisher fälschlich beschuldigt worden waren, — eine geschlossene Gruppe zu sein, — das machte die Verfolgung aus uns. Den Kopf umnebelt von den giftigen Dünsten, die rings um uns aufstiegen, erschien uns der Haß der Personen, die uns bekämpften, als das Primäre; kaum einer war, der noch wußte, daß es der Gegensatz der Anschauungen war, der ihn zeugte, und niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er an kleinen Symptomen die ganze Richtung erkannte, — die Richtung, die seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er die ganze Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, erschüttern mußte, wenn sie zur allgemeinen Anerkennung kam.
Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen entlud, die im Augenblick als die Sünder erschienen, so entlud sich der unsere auf einen Mann, der seit Jahren das Feuer schürte, das uns verbrennen sollte, der, ohne sich jemals in das Gewühl der Volksversammlung zu wagen, von der Abgeschiedenheit seiner Studierstube aus Jeden verfolgte, der kein Buchstabengläubiger des Marxismus war. Seine glänzende journalistische Fähigkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen; die fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner verfolgte, hatte sie erhalten helfen. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen. Selbst seine Gesinnungsfreunde fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er gestern noch liebte.
»Er ist das böse Prinzip der Partei,« hieß es in unserem Kreise, während tatsächlich nur der konservative Radikalismus mit all seiner Unduldsamkeit, all seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war.
»Wenn wir die Partei von ihm befreien können, so haben wir sie gerettet,« erklärten unsere Freunde.
Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch immer hatte seine überschäumende Willenskraft sich an Aufgaben erproben wollen, die niemand sonst übernahm. Er hörte um so weniger auf die warnenden Stimmen, die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur bestärkte. Die Partei aus der inneren Zerrüttung erretten, in der sie sich befand, sie einer neuen gesicherten Einheit entgegenführen, — keine Aufgabe wäre mir im Augenblick größer erschienen.
Es war am Abend vor unserer Abreise nach Dresden, wo der Parteitag stattfand.
»Es wird ein Kampf bis aufs Messer,« sagte Heinrich; »aber was auch kommen mag, mich soll's nicht kränken, wenn ich nur deiner sicher bin!«
Ich legte beide Arme um seinen Hals: »Du kannst es, Heinz! Noch niemals liebte ich dich so wie heut!« Und zärtlich schmiegte ich meinen Kopf an seine Schulter, während mein Auge in demütiger Liebe an dem seinen hing.
»Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer nur Helden sehen,« meinte er. Seine Lippen brannten auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe, wie in allen glücklichen Stunden unseres Lebens; — der Ehe, die alle Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt, so daß die Liebe, die nur von Sehnsucht lebt, sterben muß.
Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr entsetzt aus dem Schlaf.
»So bleib doch, Liebste,« flüsterte Heinrich traumbefangen. Aber schon war ich im Nebenzimmer am Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten, verständnislos irrten seine Augen an mir vorbei. Und wieder löste sich ein Schmerzensruf von seinen trockenen Lippen. Ich wickelte den zuckenden Körper in nasse Tücher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt erst erwachte mein Mann und erschien an der Türe.
»Papachen,« sagte der Kleine und verzog den Mund mühsam zu einem Lächeln.
»Was ist denn nur?!« rief Heinrich mit gerunzelter Stirn und ungeduldiger Stimme; »komm doch ins Bett, — du erkältest dich ja!«
Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir einen Mantel zu holen.
»Du siehst doch, — Ottochen ist krank,« flüsterte ich ihm im Vorübergehen zu.
»Krank!« wiederholte er laut und trat näher. »Nicht wahr, mein Junge, dir fehlt nichts, — du träumtest nur schlecht, — du siehst ja rund und rosig aus, wie's liebe Leben!«
Mit einem ängstlich fragenden Blick sah der Kleine von einem zum anderen.
»Gewiß, Papa, gewiß,« sagte er dann mit stockender Stimme, »jetzt ist schon alles wieder gut.« Aber seine tränenumflorten Augen, die flehend zu mir aufsahen, sein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger umschloß, strafte seine Worte Lügen. Ich drängte Heinrich hinaus. Wo nur die Berta blieb? Warum der Arzt nicht kam? — Im Wohnzimmer schlug die Uhr sieben.
»Es ist die höchste Zeit, daß du dich anziehst, Alix,« rief Heinrich. Wir hatten uns mit unseren Freunden für den Achtuhrzug verabredet. Ich wechselte rasch die Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und ging ins Schlafzimmer.
»Selbstverständlich bleibe ich hier,« sagte ich, die Stimme dämpfend.
»Das wäre noch schöner!« antwortete er heftig. »Wegen eines Schnupfens, den der Junge im schlimmsten Fall kriegen wird, willst du in diesem Augenblick mich und die Sache im Stiche lassen!«
Ich fühlte, wie das Blut mir siedendheiß in das Antlitz schoß: »So sprich doch wenigstens leise —«
Aber Heinrich wollte nicht hören: »Du weißt, was auf dem Spiele steht, — du kommst mit,« schrie er mich an, und seine Hand umkrallte meinen Arm.
»Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, — ich bleibe hier,« zischte ich, außer mir vor Empörung.
»Mama, — Mama!« rief eine süße weinende Stimme. Der Kleine stand auf der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wie im Schwindel auf den bloßen Füßchen hin und her schwankend. Auf meinen Armen trug ich ihn ins Bett zurück und riegelte die Tür hinter uns zu. Nach kurzer Zeit hörte ich Heinrich das Haus verlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, — nur eine ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzugrübeln, war ich nicht imstande: in wilden Fieberphantasien wälzte sich mein Kind auf seinem Lager.
Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir mein Mann: »Verzeih. Wie geht es?« Mußte ich ihm nicht jetzt, wo er so schweren Stunden entgegenging, die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum diese Rücksicht?! War er doch mehr als schonungslos, war grausam gewesen! Nie würde ich ihm das verzeihen können!
»Otto schwere Blinddarmentzündung,« antwortete ich kurz, dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung entsprechend.
Zwei Tage vergingen und zwei Nächte. Noch immer stieg das Fieber; der kleine Körper krümmte sich vor Schmerzen. Die Schreie der Angst wurden schwächer; an ihre Stelle trat ein Wimmern — jammervoll, ununterbrochen. Ich wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, schien er für Augenblicke ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn schmiegte, verlor sein Blick den Ausdruck tiefen Entsetzens. Einmal glaubte ich schon beglückt, er schliefe. Da riß er sich ungestüm aus meinen Armen, richtete sich hoch auf, starrte mich verständnislos an und schrie: »Mama, — Mama, — warum bist du so weit, — so weit weg, — ich sehe dich gar nicht mehr —« und in verzweifeltem Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz krampfte sich mir zusammen, — und doch hatte ich noch Kraft genug ihm beruhigend zuzulächeln, während ich den kleinen Körper wieder in nasse Tücher hüllte. Er wurde still, er schloß die Augen, er atmete regelmäßiger. Aber in meinen Ohren dröhnten seine Worte: warum bist du so weit weg! Er hatte mich angeklagt, — und ich sprach mich schuldig: War ich nicht Tage, Wochen, Monde lang von meinem Sohn »weit weg« gewesen?! War nicht auf seinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, — hatte nicht mit seinem Herzen gefühlt, — mit seinen Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen wollte?! Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem Bette sank ich in die Kniee; ich faltete die Hände auf seinen Kissen; — ich betete. Nicht zu den Schutzengeln, die mir ein Märchen waren, nicht zu dem Christengott, den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmigkeit, ob es auch keine Worte hatte, mein Gebet war voll Glauben, ob es auch glaubenslos war, mein Gebet war voll Kraft, denn es richtete sich nicht gen Himmel, — es brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum Opfer dar ...
Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein Kind schlief mit einem Lächeln um die blassen Lippen. Ich küßte es leise. Mir war, als wäre ich erst in der letzten Nacht seine Mutter geworden.
Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: »Wie geht es? Rege dich über Zeitungen nicht auf.« Ich mußte den zweiten Satz noch einmal lesen; gab es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich nach dieser Nacht hätte aufregen können?! Ja so! Der Parteitag, — ich hatte nichts gelesen. »Otto besser. Bin ruhig. Wünsche dir das Beste,« antwortete ich.
Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las ich die Berichte. Ich erschrak, als ich sah, daß Heinrich entgegen seiner Absicht, durch den Artikel eines sächsischen Parteiblattes herausgefordert, in der Diskussion über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse als Erster gesprochen hatte. Die ganze Erregung über unser Auseinandergehen, die wachsende Sorge um das kranke Kind mußte ihn beherrscht, seine Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwischen jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die quälende Angst. Über jenen Mann hatte er gesprochen, der sich herausnahm im Kampf gegen uns den Ton anzugeben, der uns um einiger Artikel in einer bürgerlichen Zeitschrift willen wie Verräter verfolgte; und er hatte ihn gekennzeichnet, als das, was er war: ein doppelter Renegat, in der Jugend Sozialdemokrat, gleich darauf der Verfasser einer der giftigsten Schmähschriften gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter. Keiner, so schien mir, würde sich dem Eindruck der Rede meines Mannes entzogen haben, wenn nicht in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren Ursache niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn Bebel unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und jeder Zuruf mußte meinen Mann, dessen ganze Seele wund war, doppelt schmerzhaft treffen. Und dann waren sie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollsten hatten uns, die freien Schriftsteller — »frei« wie der Lohnarbeiter, der seinem Verdienst nachgehen muß —, die Genossen geschmäht, die in sicheren Parteipfründen saßen. Ein Gefühl von Ekel stieg mir bis zum Hals. Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? »Durch eine bestimmte Personengruppierung kann eine Sache rettungslos verloren gehen.« War diese Gesellschaft wütender Proleten wirklich noch der würdige Träger der menschheitbefreienden Gedanken des Sozialismus?
In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, hieß es: »... Die Lage der Dinge ist unbeschreiblich. Die eingeschlossene Luft in diesem engen halbdunkeln Saal scheint gefüllt mit Sprengstoff. Das gezwungene dicht Nebeneinandersitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel ist selbst für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar. Er hat sich stundenlang in sein Hotel zurückgezogen und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn er wieder erscheint. Warum? Niemand weiß es. Er soll sich während der Wahlkämpfe überanstrengt haben, sagen die einen; die Erbschaft, die ein bayerischer Offizier ihm hinterließ, und das, was an Prozessen mit den Verwandten dieses Offiziers darum und daran hängt, soll ihn aufregen, meinen die anderen. Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine Haltung an; und sein Benehmen mir gegenüber läßt wenig Gutes hoffen. Übrigens scheint er auf uns beide ganz besonders wütend zu sein. Als Wanda Orbin die Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges Verbrechen kennzeichnete und dabei von den sündigen ›Genossen‹ sprach, rief er wiederholt mit starker Betonung dazwischen: ›Und Genossinnen!‹ Damit bist Du in erster Linie gemeint ... Man spricht von einer Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten hinausgedrängt werden sollen ...«
Seltsam, wie kühl, fast gleichgültig ich dieser Möglichkeit gegenüber blieb.
Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte von Riesen, die das Zimmer füllten, und am Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht mit ihnen hätte ringen müssen, um sie vom Bett meines Lieblings fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft.
»Wir sind noch nicht über den Berg,« sagte der Arzt mit einem ernsten Gesicht, »aber Sie sollten sich trotzdem schonen —.«
»Ich bin die Mutter,« unterbrach ich ihn.
»Gerade darum,« antwortete er.
Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange seine Augen sich trübten, wenn ich den Platz an seinem Bett verließ!
Während er ein paar Bleisoldaten auf den weißen Berg seiner Kissen klettern ließ, überflog ich zerstreut den neuen Parteitagsbericht. Erst Bebels Rede fing an, mich zu fesseln. Er zählte die Sünden jener Wochenschrift auf, für die wir fünf Angeklagten geschrieben hatten: Vor genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber ihn als »rote Primadonna« verulkt. Ich staunte: sollte Bebel, der große Bebel, von so kleinlicher Empfindlichkeit sein, daß er dergleichen Nebensächlichkeiten als unauslöschliche Kränkungen empfand?! Und im vorigen Jahre während des Zollkampfes hatte derselbe Redakteur sich gegen die Obstruktionspolitik der Sozialdemokraten ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht? Sollte er selbst mit seiner Überzeugung hinter dem Berge halten, wenn er allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit gewährte?
Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, — vielleicht war ich es jetzt, die fieberte, — der Kopf fing an, mir zu brennen. Ich las noch einmal. Aber ich irrte mich nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch unterstrichen durch den »stürmischen Beifall«, mit dem es begrüßt worden war: »Es gibt unter uns Marodeure, die ein solches Blatt unterstützen —«, »Elemente, die moralisch tief gesunken sind —«, »ihnen gebührt nichts anderes, als ein kräftiges Pfui!«
Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle —, traten die Augen nicht schon aus ihren Höhlen? Und der Boden unter mir, auf dem ich stand, schwankte er nicht? — — Meine Familie, meine Freunde, meine Existenz, — alles hatte ich der Partei geopfert, — und jetzt kam dieser Mann und beschimpfte mich, weil ich ein paar literarische Kritiken in ein Blatt geschrieben hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieser Ritter der Frauen, hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen Welt für ehrlos zu erklären?! Ich sprang vom Stuhl, — vergaß mein krankes Kind, — und lief ins Nebenzimmer. Dort in der alten Truhe lag sie noch, — meines Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann wäre —! Meine Hand krampfte sich um ihren Griff, mein Finger suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! Vor ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern!
»Mama!« rief es von nebenan. Ich strich mit der Hand über meine heiße Stirn und warf mit einem spöttischen Achselzucken über die romantische Anwandlung, die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die Truhe zurück. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein Mann, der auf die kleinste Kränkung, die mir angetan wird, mit hellem Zorn reagiert, hat mich in diesem Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem Protest einmütig zusammenstehen.
Aber schon, daß die Diskussion ohne Unterbrechung ihren Fortgang genommen hatte, machte mich stutzig. Freilich, der eine der Angegriffenen, der eben einen Wahlkreis erobert hatte wie wir, verteidigte sich in aufflammender Empörung.
»Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menschen beschmutzt, gebührt ein Pfui,« rief er aus. Aber mitten in seiner Rede war er imstande gewesen, mit sentimentaler Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er für den Beleidiger empfunden hatte! Ich schämte mich, auch nur mir selbst solch ein Gefühl zuzugeben. Und als Bebel nachher ein paar väterliche Worte der Anerkennung für ihn aussprach, bedankte er sich dafür!
Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton und sprach von der ganz besonderen Verehrung, die er für den Veteranen der Partei stets empfunden habe. Der Dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer auf, hatte aber schon vorher reumütig abgebeten. Ich schüttelte mich. Wer sich so behandeln ließ, war wert, daß er so behandelt wurde. Mein Mann, dachte ich triumphierend, wird anders zu sprechen wissen!
Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern. Unwillkürlich suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen, nach den wilderregten Szenen, die sein Zorn hervorrufen mußte; — und da stand es ja schon: »stürmische Unterbrechungen« — »große Unruhe« — »Skandal«. Aber das bezog sich gar nicht auf eine Zurückweisung der Beleidigungen Bebels. Meine Hände, die das Blatt hielten, begannen zu zittern.
Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe Entschuldigung?!
»Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift nicht mehr mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei es fordert ...« Und dann: »Ich erwarte von Bebel, daß er das schwere und bittere Unrecht, das er begangen hat, einsieht und durch eine Erklärung gut zu machen sucht.« War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte die Hände und drückte die Nägel ins Fleisch, ich preßte die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Nur nicht weinen, nur jetzt nicht weinen, — wiederholte ich immer wieder. Die große Uhr über dem Schreibtisch tickte laut und vernehmlich, — meines Vaters Uhr, die ich vor fremden Händen gerade noch gerettet hatte.
»Er hat dich nicht verteidigt, — nicht verteidigt —,« sagte sie unaufhörlich; oder war es des Vaters Stimme? — »Nicht verteidigt —«
Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und forderte ihn auf, Bebel zu einer Rücknahme seiner Beleidigung zu veranlassen. Mein Wunsch wurde abgelehnt. Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über meine Ehre entscheiden sollte. »Wegen der Meinungsäußerung eines Genossen über den anderen kann ein solches nicht angerufen werden,« lautete die Antwort. Jetzt also war ich vogelfrei; ausgestoßen aus meiner alten Welt, als Ehrlose gebrandmarkt in der neuen!
Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich spielte lächelnd mit meinem Sohn, der sich langsam erholte. Es gab Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar war, das mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte, als Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein ist deine Welt.
Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die Berichte zu lesen.
Inzwischen war die Abstimmung über die Erklärung des Parteivorstandes zur Frage der Mitarbeit von Genossen an bürgerlichen Preßunternehmungen vor sich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit war sie zur Annahme gelangt. Ich lachte unwillkürlich laut auf. So orthodox war bisher nicht einmal die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie benutzte jede Tribüne, wenn es galt, auch nur eine Seele zu gewinnen.
»Nicht darauf kommt es an, wo Parteigenossen schreiben, sondern was sie schreiben. Je mehr sie mit ihrer Überzeugung und ihrer Person in die Reihen der uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist es für unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich zu ihrem Gottesdienst in ihrer Kapelle verschließt, sondern eine Bewegung, die der ganzen Menschheit dienen und die Welt erobern will ...«
Das wäre eine unserer sozialistischen Grundsätze würdige Erklärung gewesen. Niemand beantragte sie. Nur vierundzwanzig — unter ihnen mein Mann, Göhre, Vollmar — hatten den Vorstandsbeschluß abgelehnt.
Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der Partei, die Vizepräsidenten-Frage, auf der Tagesordnung.
Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete ich eine wütende Philippika. Aber das, was er sagte, übertraf jede Erwartung. War das derselbe Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen war?
»Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei uneiniger als jetzt —;« das erklärte er, nachdem wir eben einmütig den größten politischen Sieg erfochten hatten! »So geht's nicht weiter, — jetzt müssen wir endlich reinen Tisch machen,« und: »Wer nicht pariert, der fliegt hinaus!« War das noch die Sprache des Führers einer demokratischen Partei, oder nicht vielmehr die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten als von den Leuten, die mit der Bourgeoisie liebäugeln, und verlangte, daß man sie öffentlich denunzieren müsse, damit die Genossen sich vor ihnen hüten könnten. Er erklärte auf der einen Seite, um einen Gewerkschaftsantrag zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion viel zu schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und versicherte auf der anderen, daß, wenn die Partei heute zur Herrschaft im Staate käme, sie schon morgen wissen würde, was sie zu tun habe. Der heimliche Haß gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats unzerreißbar mit sich verband, ohne zu fühlen, daß er dem ersten Grundsatz des Sozialismus dadurch ins Gesicht schlug, durchglühte seine Rede.
»Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr ihnen Vertrauen schenkt!« »Stürmischer Beifall« stand daneben. Und doch waren es Akademiker gewesen, die dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich warnte er noch vor »dem anderen Teil der Revisionisten, den Proletariern in gehobenen Lebensstellungen«. Und niemand lachte ihm ins Gesicht, — und niemand wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte, Redakteure, Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier in gehobenen Lebensstellungen, — und ihn selbst, der ein wohlhabender Mann geworden war. Fielen denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder war ich nur vorher blind gewesen?
Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei seit Jahren angesichts der praktischen Forderungen des Tages ein Vorurteil nach dem anderen habe fallen lassen, wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik geworden sei, was kurz vorher als hochverräterische Forderung gebrandmarkt worden war. Dann aber wandte er sich persönlich gegen Bebel, — der erste und der einzige, der es mit der Autorität seines Namens zu tun vermochte.
»Ein ungezügeltes Temperament schadet nicht nur auf Fürstenthronen, sondern auch auf denen der Partei,« rief er aus. »... In welchem Ton hat Bebel sich an die ganze Partei gewandt? ›Ich werde nicht dulden ...‹, ›Ich werde den Kopf waschen ...‹, ›Ich werde Abrechnung halten‹. Ich, ich, ich — so hat der Lordprotektor Cromwell zum langen Parlament gesprochen ...«
Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner Ehre war diese Anklage gewesen. Nur eins verstand ich nicht: er betonte die innere Einheit der Partei mit derselben Schärfe, wie Bebel sie geleugnet hatte. Wie konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieses Parteitages möglich gewesen, wenn eine innere Einheit bestanden hätte? Sie waren doch nichts anderes als Symptome der Zerrissenheit. Aber die Revisionisten schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben Männer, die ständig und, wie mir schien, mit Recht diese und jene Programmforderungen der Sozialdemokratie kritisierten und einer Umänderung für bedürftig hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle Gegensätze nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur Schwäche? — Schwäche, die in ihren Folgen viel gefährlicher ist als sie? Und ich befand mich plötzlich in Übereinstimmung mit einem der schroffsten Radikalen in der Partei: »Das ist ja der Jammer des deutschen Revisionismus, daß er nie mit einem bestimmten Programm hervorkommt,« sagte Kautsky, nachdem er versucht hatte, den auch seiner Ansicht nach vorhandenen Gegensatz als den zwischen der Zusammenbruchs- und der Evolutionstheorie zu kennzeichnen; »die einen erwarten die Befreiung von der sozialen Revolution, die anderen von der allmählichen Entwicklung.«
Mein Mann schrieb mir noch einmal: »Für die Partei wird diese traurige Tagung mit ihren zahllosen Hintergründen von Gemeinheit, Klatsch und Verhetzung schließlich noch zum guten Ende führen. Der Resolution des Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre schärfsten Spitzen, auf denen wir gespießt werden sollten, genommen worden, und ihre einmütige Annahme scheint danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder herstellen wird.«
Ich antwortete umgehend: »Ich verstehe Dich und die anderen nicht. Selbst wenn die Resolution ihrem Wortlaut nach annehmbar wäre, so ist sie es ihrem Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden, sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung nicht zugegen zu sein. Ich würde, — und wenn ich die einzige bliebe, — laut und deutlich Nein sagen.«
Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam, wurde mir die Haltung der Revisionisten vollends unverständlich. Wie viele unter ihnen hatten dem Eintritt des Sozialdemokraten Millerand in das französische Ministerium zugestimmt, hatten eine allmähliche Eroberung der Regierungsgewalt überall für möglich, ja für wahrscheinlich erklärt, und jetzt beugten sie sich einer Resolution, in der es hieß: Die Sozialdemokratie kann einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten laut und leise die lediglich negierende Haltung der Partei gegenüber der Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten sie sich selbst zum »energischen Kampf« gegen sie. Aber daß dreihundert ja sagten, traf mich immer noch nicht so tief, als daß Heinrich unter ihnen war.
Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden zu beschäftigen, kostete fast noch mehr Zeit als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte der kleine Tyrann immer wieder nach Mama, wenn Berta mich ablösen wollte. Aber meine Gedanken waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem Blick und müden Händen, in den Trümmern meines Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug war. Und ich fand eine unerschütterte Grundmauer: meine politische Überzeugung. Vor der Partei konnte ein Bebel mich diskreditieren, konnte mir die Arbeit in ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unmöglich machen. Aber erschöpfte sich denn der Sozialismus in der Partei?
Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so kalt, so leer in mir. Ich sah mich suchend um, — war die Wärme und die Farbe aus meinem Leben gewichen? Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt! Hatte der eine rohe Griff meines Gatten so viel vernichten können? Oder war es nur ein letzter Herbststurm gewesen, der die schon lange heimlich welken endgültig von den Stielen riß?
Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete sich die Türe, und Heinrich stand vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl, die Augen tief in den Höhlen, dunkel umschattet, die ganze Gestalt gebeugt.
»Heinz!« schrie ich auf und schlang die Arme um ihn.
»Wenn du mich nur noch liebst — du,« flüsterte er und bedeckte mein Antlitz mit Küssen. »Ich fürchtete mich vor der Heimkehr, weil ich dachte, ich könnte auch dich verloren haben, — aber nun ist alles gut, — nun mögen sie mich steinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit, weil deine Liebe mich unverwundbar macht!«
Mir stürzten die Tränen aus den Augen, — Tränen der Reue, des Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an meine Liebe geglaubt haben. War es nicht Liebe, die wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand?
Ich erfuhr allmählich, was geschehen war. Artikel, Erklärungen, Briefe legte er mir vor, voll wütender Angriffe auf ihn, den »Urheber des Dresdener Parteitages«, den »geistigen Vater eines nie dagewesenen Parteiskandals«, voll niedriger persönlicher Verleumdungen. Selbst in unserem Leben wühlten fremde Hände, und unter ihrem Griff wurde auch das Reinste schmutzig.
Es war ein grauer Herbstabend mit tiefhängenden Wolken und langen Schatten in den Zimmern. Ich kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig, mich zu rühren, wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos, — hie und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf, als ob er sich vergewissern müsse, daß er noch lebe.
»Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor Geier: ›Das ist politischer Selbstmord‹. Als ich dann Bebel antworten wollte, wie es nach seinem Angriff allein richtig gewesen wäre,« — so hatte mich Heinrich doch verteidigen wollen! — »da haben sie mich alle bearbeitet, haben im Namen des Parteiinteresses an mich appelliert, und ich war so töricht, durch all die widerwärtigen Szenen so erschöpft, daß ich mich wirklich unterwarf. Was nützte es?! Nichts! Der Skandal nahm seinen Fortgang. Und auf der Strecke bleibe schließlich ich allein!«
Einige Tage später kam Geier zu uns. Die erste Nummer der Neuen Gesellschaft war eben in hunderttausend Exemplaren verbreitet worden.
»Ich muß mit Ihnen reden, Genossin Brandt,« sagte er nach einer raschen Begrüßung. »Sie haben sich, fern von Dresden, hoffentlich so viel kühle Überlegung bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr Mann.«
Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung nach geschehen müsse. Zunächst habe sich Heinrich dem Schiedsspruch eines Parteigerichts zu unterwerfen.
»Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel —,« warf ich bitter ein.
»Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn und müssen zusehen, wie andere den ganzen Gewinn Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!« rief Geier heftig, um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. »Ohne eine Rüge wegen seiner Dresdener Rede wird es natürlich nicht abgehen,« fuhr er fort, »im übrigen aber, dafür lege ich jetzt schon meine Hand ins Feuer, werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und Heinrich wird nachher eine gesichertere Stellung haben als zuvor.«
»Du weißt, daß ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts in meinem Wahlkreis bereits selbst veranlaßt habe,« unterbrach ihn mein Mann, »wozu also das Gerede?! Komm lieber gleich zur Sache!«
»Wie du willst,« antwortete Geier ruhig und wandte sich wieder mir zu. »Er hat Sie, wie es scheint, von meiner anderen Forderung noch nicht unterrichtet: das Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.«
Ich fuhr auf: »In diesem Augenblick sollen wir unsere einzige Waffe von uns werfen?!«
»Eine nette Waffe!« höhnte Geier. »Solange das Dresdener Spektakelstück noch in aller Munde ist, werden vielleicht ein paar Dutzend Leute euer Blatt kaufen. Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe nichts mehr als eine zerbrochene Klinge.«
»Wir haben schon ein kleines Vermögen in die Sache hineingesteckt —,« murmelte ich mit gepreßter Stimme.
»Kann mir's denken,« meinte Geier und kräuselte spöttisch die Lippen; »vorsichtige Geschäftsleute seid Ihr offenbar nicht. Aber so rettet wenigstens, was zu retten ist!«
Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr gerötet. Jetzt blieb er dicht vor Geier stehen.
»Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem revisionistischen Blatt zu befreien,« zischte er ihn an.
Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom Stuhl und hieb mit der Faust auf den Tisch: »Ich komme nach Berlin gereist, um euch einen Freundschaftsdienst zu erweisen, und du begegnest mir so —. Stürze dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben —« Und hinaus war er.
Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her. Inzwischen fanden überall Parteiversammlungen statt, die sich mit den Dresdener Ereignissen und ihren Folgen beschäftigten. In den Angriffen auf die Revisionisten, ganz besonders auf meinen Mann, übertrafen sie noch den Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift gewarnt, mit der wir uns »auf Kosten der Partei« bereichern wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, als sie zunächst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um sie gegen die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen.
»Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni um Ihre Fahnen geschart,« schrieb mir Romberg, »weil sie, von den bürgerlichen Parteien im Stiche gelassen, bei der Sozialdemokratie den Schutz der Geistesfreiheit, den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten. Dresden hat diesen Wahn zerstört, hat gezeigt, daß der Dogmatismus, die Verfolgungssucht Andersdenkender, kurz die ganze Seelenverfassung der Inquisitoren, nirgends in so krasser Form zu finden ist, als bei den privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder vogelfrei. Und Sie?!«
In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte Nummer erschienen war und wir wieder schlaflos den huschenden Wolken draußen und der wachsenden Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir: »Was meinst du, wenn ich ginge?«
Zuerst verstand ich ihn nicht, — dann aber packte ich mit aller Kraft seine beiden Hände und sah ihm mit stummem Entsetzen in das blasse Gesicht.
»Ich warnte dich schon einmal, — vor Jahren,« fuhr er leise und langsam fort. »Ich bringe Allen Unglück, — dir, — der Partei. Mir scheint, ich habe hier nichts mehr zu tun.«
Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte, ich schmiegte mich an ihn, als ob ihm aus meiner Lebenswärme Lebensmut zuströmen könnte. Aber er blieb ernst und fest und wußte immer neue Gründe nicht nur für die Berechtigung, sondern für die Notwendigkeit seiner Absicht vorzubringen.
Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub an die Türe und sprang herein, ohne unsere Aufforderung abzuwarten. Es war das erstemal nach seiner Krankheit, daß er so früh schon aufstehen durfte. Er kletterte eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb überrascht, halb erschrocken. Mit jenem rätselvollen Scharfblick des Kindes schien er das Fremde, Dunkle erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf den Kopf; »so hat Mama auch gemacht, wie ich krank war,« erzählte er wichtig, und dann küßte und streichelte er »den lieben, guten Papa«, bis sich doch noch ein Lächeln um dessen festgeschlossene Lippen stahl.
»Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!« fragte ich leise, als der Kleine wieder davongelaufen war. »Soll dein Sohn einmal von dir glauben müssen, daß du dich feige davonstahlst?!«
Er drückte mir die Hand, fest und lang. Ich wußte: wenn die Gespenster der Nacht auch nicht auf immer gebannt waren, so würden sie doch keine Macht mehr gewinnen über ihn.
Die Schiedsgerichts-Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Es war eine seelische Folter für meinen Mann, und wenn er nach Hause kam, gab ich mir alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie ich selber litt.
Draußen entwickelte sich wieder in der alten Weise der politische Kampf: Radikale und Revisionisten arbeiteten scheinbar einmütig zusammen. Es galt diesmal den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu keiner der zahllosen Versammlungen forderte man mich auf. Ich war die Gezeichnete. Und nirgends schien eine Lücke entstanden, weil ich fehlte. Ich war wie die Welle, die im Meere aufsteigt und zurücksinkt, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden zusammen, — zufällig nur, denn die Revisionisten schienen sich nach Dresden noch mehr aus dem Wege zu gehen, als vorher. Einmal kamen wir in eine ernstere Unterhaltung, und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme der Dresdener Resolution.
»Mir ist es sogar fraglich,« sagte ich, »ob ihre Ablehnung nicht von einem gemeinsamen Austritt aus der Partei hätte begleitet werden müssen.« Aber ich stieß auf allgemeinen Widerspruch.
»Damit hätten die Radikalen erreicht, was sie wollten,« rief der eine.
»Wegen einiger Gegensätze in taktischen Fragen werden wir doch die Partei nicht im Stiche lassen,« sagte der andere.
»Es wäre nichts als Fahnenflucht,« erklärte einer der Gewerkschafter.
»Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne Armee,« meinte mein Mann. Ich ließ mich nicht überzeugen.
»Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen Materialismus aus der Geschichte nicht allzu viel gelernt,« entgegnete ich. »Noch immer ist die Entwicklung die gewesen, daß eine große Bewegung aus sich heraus neue Bewegungen zeugt, deren Träger zunächst nichts sind als ein paar Vorläufer, als Offiziere ohne Armee. Und was nun gar die Gegensätze betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringfügigkeit.«
»Nein,« antwortete einer der anderen, »aber ich glaube, und habe nach unserer bisherigen Entwicklung ein Recht dazu, daß unsere Ideen sich im Proletariat von unten herauf durchsetzen. Wir schließen Lohntarif-Verträge mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb eines Vertuschens der Klassengegensätze; wir arbeiten in den Gemeinden, in den Landtagen, und keiner wagt uns deshalb wegen des Paktierens mit der bürgerlichen Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen an, wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen Macht zu werden, und kein Radikalinski hat uns noch vorgehalten, daß das gegen die Zusammenbruchstheorie verstößt und wir damit bis zum großen Kladderadatsch warten müßten.«
Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte gegenüber meinen unklaren Theorien doch wohl recht haben.
Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht von Frankfurt-Lebus dem Parteitag des Kreises die Resultate seiner Untersuchungen vor, und die Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig das Vertrauensvotum.
»Und du freust dich gar nicht?!« sagte mein Mann, als er nachts aus Platkow zurückkam, wo die Versammlung stattgefunden hatte.
»Gewiß freue ich mich, — aber im Grunde ist doch das alles selbstverständlich und macht das Geschehene nicht ungeschehen,« antwortete ich und dachte an die Zeitschrift, mit der wir unsere Aufgabe, wie mir schien, geopfert hatten, an die ungesühnte Kränkung, die noch immer wie eine schwärende Wunde an mir fraß, an das verstümmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst in so leuchtenden reinen Farben vor mir gestanden hatte, an die große Flamme meiner Liebesleidenschaft, die über dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte.
Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu Vorträgen aufgefordert. Seltsam genug: es gab noch Genossen, die mir vertrauten, obwohl der erste unter ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In diesen Kreisen schien das Verständnis für eine Empfindung zu fehlen, die eine Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein mochte, und offenbar zu jenen »Eierschalen der Vergangenheit« gehörte, über die in der Partei so oft gespottet wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber hinwegsehen konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. Meine Zurückhaltung wurde falsch gedeutet. Meine Bemerkung über den Austritt aus der Partei mochte irgendwie durchgeackert sein. Ich sah, daß ich die Stellung meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums eine schwierige geblieben war, noch mehr erschwerte. Und ich hatte mir vorgenommen, ihm nach wie vor ein treuer Kamerad zu bleiben.
»Sie können wieder über mich verfügen,« schrieb ich nach Frankfurt und stürzte mich in die Arbeit, von der ich hoffte, daß sie sich als Morphium für die Schmerzen meiner Seele erweisen würde. Und so lange ich am Schreibtisch über den Zeitungen und Broschüren saß, hielt sie, was ich von ihr erwartet hatte.
Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer dafür zu sorgen, daß wir nicht im Bruderzwist aufgehen konnten. Der Riesenstreik der Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit Wochen mit einer Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag kämpften und dem lockenden Gold der Unternehmer ebenso standhielten wie den Verfolgungen der Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind so einig waren wie immer. Und die russische Revolution, die wie ein vom Sturm gepeitschter Brand von einem Ende des Riesenreichs zum anderen übersprang, entzündete in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern der Menschheitserlösung nun wirklich im Osten auf. Daß Preußen-Deutschland sich zum Schleppenträger des Zarismus erniedrigte, daß russische Polizisten im Verein mit den unseren die russischen Gäste der Hauptstadt verfolgen konnten, daß ein Minister die Reichstagstribüne benutzte, um die russischen Studenten der Berliner Universität samt und sonders als Anarchisten zu verdächtigen und ihre weiblichen Kollegen der Unsittlichkeit zu zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von »Schnorrern und Verschwörern« sprach, — das löste einen Schrei der Entrüstung aus. Die Partei stand wieder auf dem Posten als die einzige, die leidenschaftlichen Protest erhob. Und wenn die politischen Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit in den Genossen aufs neue zu festigen, so sorgten unsere Gegner dafür. Sie schufen den Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um uns damit zu fesseln, verband uns nur.
Ich sah das alles. Ich schöpfte Hoffnung daraus nicht nur für den Kampf nach außen, sondern auch für die innere Entwicklung, die um so kräftiger zu sein pflegt, je unbeachteter sie ist.
Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf die Rednertribüne trat und all die vielen Augen sich auf mich richteten, da versagte meine Kraft. Das Blut brannte mir in den Wangen; — sahen die Menschen mir den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! Und ich fühlte feindselige Blicke, spöttisches Lächeln, ich sprach wie gegen ein Tor von Erz. Meine Zuhörer blieben kalt.
»Was fehlte dir nur?« fragte Heinrich mich kopfschüttelnd. Ich gab eine ausweichende Antwort.
Noch ein paarmal machte ich ähnliche Versuche. Von nervöser Aufregung geschüttelt, die mir sonst fremd gewesen war, trat ich schon vor die Versammlung. Und dann sprach ich, daß ich mich selbst nicht wieder erkannte.
»Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,« bat ich eines Tages, mit den Tränen kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, ihm die Ursache meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen. »Das alles war ein wenig viel für mich ...«
Er stimmte mir ohne Besinnen zu. »Wenn es nichts weiter ist, als daß du Ruhe brauchst!« sagte er aufatmend und entwarf mir die schönsten Reisepläne. »Ich würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, wenn ich sicher wäre, daß meine Alix wieder gesund und froh würde.« Und in alter Zärtlichkeit zog er mich an sich.
Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach Italien, noch an die See.
»Ich möchte nach Grainau —,« bat ich zaghaft, denn ich wußte, es regte sich immer eine leise Eifersucht in ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin trieb, wo so viele Erinnerungen geweckt wurden. »Ilse weiß von Tante Klotilde, daß sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, — die Bahn ist also frei, und ein Zimmer find' ich schon irgendwo für mich und den Kleinen.«
»Der Bub soll mit?« fragte er mißbilligend. »Dann hast du ja keine Stunde Ruhe!«
»— Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,« antwortete ich.
Eine Woche später fuhren wir den Bergen entgegen. Ich biß mir die Lippen wund, um die Tränen zu unterdrücken, als ich im blauen Dunst der Ferne die ersten weißen Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange leben können ohne sie!
Es war früh im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade an, die Betten zu lüften und die Fenster weit aufzureißen. Vier Wochen noch, dann kamen erst die Fremden. Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer begegnete uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen standen voll bunter Frühlingsblumen, voll goldgrüner Spitzen die Bäume, und aus dem Walde kam der erste süße Maiblumenduft.
Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor zum Eibsee führt, stand ein neues blitzblankes Haus mit einer großen himmelblauen Madonna in der Mauernische. Der Hof vom Bärenbauern sah daneben ganz alt und griesgrämig aus.
»Bä-cke-rei,« buchstabierte mein Junge, der auf seine Lesekünste sehr stolz war; »hurra! — da gibt's immerzu weiße Brötchen,« rief er und machte einen Luftsprung — Semmeln waren sein Leibgericht, »— dahin ziehen wir!«
Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem großen schwarzen Hund dahinter um die Wette. In der Tür erschien der Meister, dicht hinter seinem breiten Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den gewichtigen Schlüsselbund über der weißen Schürze, die blonde Hausfrau. Eben erst hatten sie das Haus gebaut, erzählte sie lebhaft, als wir die blankgescheuerte Treppe hinaufstiegen, und schon hätten sie die Kundschaft der ganzen Gegend. An der »feinen« Wohnung im ersten Stock gingen wir vorüber, trotz der neuen städtischen Möbel, die sie uns anpries.
»Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte Bauernkram,« meinte sie entschuldigend und stieß die Türe auf. Ein blauer Schrank mit roten Herzen darauf, eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt und einem kreuztragenden Christus darüber, eine breite gewichtige Truhe voll bunter Heiligenbilder lachten uns an, wie die Wiesen draußen, so farbenfroh. Einem Vogelnest ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der Glastür, und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit seinem faltigen Felsengesicht.
»Da bleiben wir,« sagte ich, und mein Junge lief durchs Haus in den Garten, und den Hügel hinauf zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese, als müsse er von allem ringsum Besitz ergreifen.
Wie gut es war, wieder schlafen zu können und die müden Augen in lauter Grün und Blau gesund zu baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich keiner. Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit einem flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen an seinem verblichenen grünen Hut. Morgens, während mein Junge sich unten am See aus Moos und Steinen einen kunstvollen Hafen baute, saß ich auf der alten Bank, dem Rosenhaus gegenüber, das sich mit seinen geschlossenen Läden und blumenlosen Altanen still und verzaubert im grünen Wasser spiegelte. Alle Rosenbüsche vor der Terrasse waren fort.
»Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben lassen,« erzählte meine Hausfrau. »Sie wird wohl nimmer wiederkommen,« fügte sie hinzu.
»Warum nicht?!« fragte ich erstaunt.
»Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen. Auch so arg brummig und bös. Der alte Doktor von Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.«
Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber nicht, daß es so schlimm um sie stand.
»Das Fräulein von Kleve ist allweil um sie, Tag und Nacht,« berichtete die kleine blonde Frau weiter, die froh war, wenn sie schwatzen konnte, »aber die Theres', die alte Köchin, hat mir kurz vor der Abreis' noch erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach einer anderen,« — dabei traf mich ein neugierig-forschender Blick — »einer, die sich grad so schreibt, wie Sie —«
Ich antwortete nicht ... Mit meiner Ruhe war es wieder vorbei. Alles wurde lebendig, was unter diesen Buchen, an diesem See, angesichts dieser Berge an Haß und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an Trennungsweh und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, geseufzt und gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, und es war nie mehr still um mich. Wo ich ging und stand, — meine ganze Vergangenheit umringte mich, und wenn ich schlafen wollte, flüsterte es mir ins Ohr: anklagend, höhnend, drohend.
Eines Vormittags, — ich saß wieder am alten Platz, mit dem Buch im Schoß und sah zu dem toten Haus hinüber, — kam der Bub vom Bärenbauern mir nachgelaufen:
»A Depeschen wär da für Sie —« Ich riß sie ihm aus der Hand, sie bestätigte nur, was ich erwartet hatte: »Baronin Artern heute morgen verschieden. Ihr sofortiges Kommen erwünscht.«
Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg. Mich erfüllte nur ein Gefühl: daß ich ihr viel zu verdanken hatte und sie im Kummer um mich gestorben war.
In voller Sommerpracht blühte der Garten um das schöne Haus. Weinend empfing mich die Theres'.
»Warum sind's bloß nit a Wochen früher gekommen —,« sagte sie immer wieder. Ich vertraute meinen Sohn ihrem Schutz. »Du herzig's Buberl,« schluchzte sie, »wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt'!« Ich fing an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, daß der Tod dieser Frau meines Sohnes ganze Zukunft sichern sollte.
Einen Augenblick lang fröstelte mich. Aber nein: wie konnt' ich nur zweifeln, — auch die alte Theres' sah in ihrer Liebe zu mir nur Gespenster. Meinem Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte mich zur Treppe.
»Gnä' Frau wollen doch nicht —,« rief die Theres' und griff nach meinem Arm.
»Selbstverständlich,« antwortete ich und nahm den Strauß frischer Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus ihrer Hülle.
»Sie sind alle oben, — die Herren Leutnants und das Fräulein,« flüsterte sie ängstlich.
Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade auf. »Hier bin ich zu Hause gewesen, nicht sie,« sagte ich laut und schritt die Stufen empor. Hinter der Türe des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr.
»Sie wird nicht kommen —,« sagte einer. Ich trat ein. Wie vor einer Geistererscheinung sprangen sie von den Stühlen, meine Vettern und Basen, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gruß an ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren kostbaren Teppichen und seidenen Möbeln, die mir alle so lebendig schienen, so vollgesogen von Vergangenheit. Im Musiksaal, vor der letzten Türe zögerte ich. Mir klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten aus diesem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein Kind gewesen damals; die Töne waren an mir vorbeigerauscht; jetzt erst verstand ich sie: wieviel Leidenschaft, wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der Frau bewegt, die nun auf immer verstummt war.
Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger Blumen umgeben, auf ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt. Ich konnte nicht in die Kniee sinken und nicht den Blick losreißen von ihr: das war sie doch gar nicht, — das war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren Mund diesen grausamen Zug gesehen und auf ihrer Stirn diese vielen finsteren Falten. Die ich gekannt hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als ich das Haus verließ.
Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten augsburger Familien mit den berühmten Namen und unberühmten Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor der dunkeln Pforte des Erbbegräbnisses der Artern weinten von allen, die es umgaben, nur zwei: die alte Theres' und ich. Und von denen, die mir einst nahe gestanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter Lehrer, der Pfarrer.
Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel, und erzählte mir von seinem letzten Zusammensein mit der Verstorbenen. Vor kaum zwei Monaten war es gewesen; sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen.
»Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken ließ,« sagte er.
»Meinen Sie?!« fragte ich zweifelnd und dachte an das fremde Gesicht, das ich auf dem Totenbett gesehen hatte.
»Ich bin dessen sicher,« antwortete er; »sie wird es Ihnen auch noch beweisen,« fügte er bedeutungsvoll hinzu.
Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt der Testamentseröffnung Mitteilung zu machen. »Frau Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt, Sie, als ihre Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,« erklärte er.
Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen Besitz zu ergreifen, und Dankbarkeit löschte alle Erinnerung an die grausamen Züge der Toten aus. Sie hatte mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm sie die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir!
Es kränkte mich, daß die Theres' mich so mitleidig ansah.
»Ich weiß, was ich weiß —,« sagte sie, »die da oben —« und sie ballte die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves mit dem Testamentsvollstrecker verhandelten, »— waren immer bei ihr, — ich hab' oft genug gehört, wie sie von Alix Brandt erzählten —.«
Acht Tage später versammelten sich die Erben zur Testamentseröffnung im Gerichtsgebäude. Ein nüchterner Raum mit kahlen Wänden. Kastanienbäume vor den Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den Pulten der grauköpfige Richter, der krumme Schreiber. Auf den steifen Stühlen wir alle in schwarzen Kleidern. Zwei Schriftstücke aus verschiedenen Zeiten wurden verlesen. Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers. Das zweite, — sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode auf dem Krankenbett geschrieben, — enthielt nur ein paar Zeilen: »Hiermit enterbe ich meine Nichte, Frau Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und Schrift der Umsturzpartei dient.«
Es wurde ganz still im Zimmer. Die Köpfe all derer, die neben mir saßen, senkten sich; mich aber überkam ein Gefühl des Triumphes. Mit fester Hand setzte ich als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verließ das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die scheu zur Seite wichen, erhobenen Hauptes.
Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum Opfer gefallen. Die Schmach von Dresden war ausgewischt. Das Schicksal selbst zwang mich auf meine eigenen Füße. Nun war ich stark genug, allein zu gehen.
Draußen auf dem Asphalt brannte die Sommersonne. Ein Geruch von Pech und Staub erfüllte die gewitterschwere Luft. In dem dunkelsten Winkel einer jener öden Straßen Berlins, die keine anderen Farben haben als die grellbunten der Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schaufenster fehlt, hatte der Sommer sein ganzes Füllhorn ausgeschüttet: Ein enger Hof war zum Blumenteppich geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. Und öffnete sich die Doppeltür des hohen Gebäudes dahinter, so schlug Sommerblumenduft dem Eintretenden entgegen. War er von der nüchternen Straße in einen Palast geraten? Zwischen blühenden Büschen standen weiße Bänke, auf den Tischchen davor rote Rosen in Gläsern von geschliffenem Kristall. Eine Flucht fürstlicher Räume schloß sich daran, mit weichen Teppichen auf dem Estrich und Gobelins an den Wänden und tiefen Sesseln vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen in den langen Galerien daneben; ein Rascheln und Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Flüstern von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen saßen dicht gedrängt von früh bis spät lauter Frauen und lauschten mit sehnsüchtigen Augen und heißen Wangen den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom Wünschen und Hoffen ihres Geschlechts erzählten.
Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Während acht Tagen wurde in vier Sektionen zugleich verhandelt. Kunst und Wissenschaft, Erziehung und Unterricht, Recht und Sitte — nicht ein Gebiet, das das Leben des Weibes berührt, blieb unerörtert. Die Großen sprachen und die Kleinen, die Vorsichtigen und die Draufgänger, die Weiten und die Engen. Es war eine Revue der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden für alle Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu lernen. Nur die Sozialdemokratie Deutschlands hatte sich selbst ausgeschlossen, obwohl die Leitung des Kongresses ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage hatte überlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit geboten worden wäre, das Elend der Massen zu schildern, das sonst in diese Säle keinen Eingang fand, und die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die Hunderte und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern seiner Gegner gesehen hatten.
Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschluß gefügt: die christliche Idee der notwendigen Einheit von Glaubensdienst und Selbstaufopferung, die ich durch ein Leben der Selbstbehauptung glaubte überwunden zu haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz ergriffen, wo ich mich der Sozialdemokratie anschloß. Die »Sache« war die mystische Macht gewesen, die über mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei Hunderttausenden meiner Genossen, — als wolle Gott, der von uns verlassene, sich an uns rächen, — an seine Stelle getreten. Nun aber war der Bann gebrochen. Daß ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten Musikpalast Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer Befreiung.
Ich sprach überall, wo die Interessen der Arbeiterinnen zur Debatte standen. Und allmählich strömten die Frauen mir nach, wenn ich von einem Saal zum anderen ging, und manche Diskussion, manche persönliche Unterhaltung bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der Freude an der Sensation gelten mochten, daß der Samen des Sozialismus auf guten Boden gefallen war. Gewiß, solche Wirkungen lassen sich nicht messen, sie kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie rufen in Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat jene Kräfte hervor, die von innen heraus an der allmählichen Umwandlung der Geistesrichtung der Menschen tätig sind. Während ich hin und herging und diese und jene hörte, sah ich wie groß die Wandlung schon war, die die Frauenbewegung im Laufe des letzten Jahrzehnts durchgemacht hatte.
Damals hatten sie sich vor mir gefürchtet, als ich in ihrem Kreise der Sozialdemokratie Erwähnung tat, heute stimmten die meisten von ihnen in ihren wesentlichen Gegenwartsforderungen mit denen der Partei überein. Damals war es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung eine vereinzelte Tat gewesen, als ich das Frauenstimmrecht in öffentlicher Versammlung forderte, heute wurde in den Mauern Berlins der Bund für Frauenstimmrecht gegründet So ging es doch vorwärts, auch da, wo meine Parteigenossen nichts als Stillstand sahen, nichts anderes bemerken wollten, weil sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen Reaktion nötig zu haben, um sich selbst in um so hellerem Licht zu sehen, statt auch aus leisen Tönen den Siegesmarsch des Sozialismus herauszuhören. Mein Mann hatte ein wenig spöttisch den Mund verzogen, — zu einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, — als ich an dem Kongreß teilnahm.
»Du bist ein Trotzkopf,« hatte er gesagt; »du übersiehst in dem Eifer, mit dem du dich dem Beschluß der Genossinnen entgegenstemmst, die Folgen, die solch eine Handlungsweise für dich haben kann. Man wird dich vollends boykottieren.«
Ich zuckte die Achseln.
»Solltest du wirklich schon so weit über den Dingen stehen?!« fragte er zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er sollte nicht sehen, daß ich schwächer war, als ich mich zeigte.
Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach Hause kam, meinte er unmutig: »Vor acht Jahren gefielst du mir besser als jetzt, wo du dich freust, weil dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals sittlich entrüstet waren —«
Ich unterbrach ihn heftig: »Wie kannst du mich so mißverstehen! — Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich freue mich, wenn ich höre, wie die Ideen meiner ›Frauenfrage‹ Verbreitung gefunden haben, ich freue mich, daß die Mutterschaftsversicherung, daß selbst die Haushaltungs-Genossenschaft aus dem Stadium des Bewitzelns in das ernster Erörterung getreten ist, und ich leugne auch gar nicht, daß Anerkennung mir wohl tut, als tröpfle mir jemand ein schmerzstillendes Mittel in eine unheilbare Wunde, — aber das Alles ist doch nicht die Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die Entwicklung im Sinne des Sozialismus ist das einzig Feste, was mir noch nach all dem Zusammenbruch geblieben ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was ihn zu stützen, zu kräftigen vermag, so macht mich das stärker.«
»Du bist doch noch sehr jung und sehr bescheiden!« warf Heinrich ein. Ich unterdrückte einen Seufzer. Seine morose Stimmung war imstande, jede Spur erwachter Freudigkeit wieder zu zerstören, wie der Fluß, wenn er im Frühjahr aus seinen Ufern tritt, mit öder weiter Wasserfläche die blühenden Wiesen bedeckt. Ich fühlte, wie auch meine Arbeitskraft darunter litt, wie Gedanke und Gefühl erstarrten, sobald sie in die eisige Atmosphäre seiner Deprimiertheit gerieten.
Leise, unmerklich zunächst und doch von Tag zu Tag mehr, löste ich mich von ihm. Das Problem der Ehe wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und drohte zu überwuchern, was noch an Liebe zu blühen verlangte.
Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer Wind in die Segel gewesen. Alle Fragen, die sie umfaßte, standen wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Das Für und Wider wurde leidenschaftlich erörtert, und in der konservativen kirchlichen Presse erhoben sich lauter als früher die Stimmen derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung der Ehe und der Familie! den Emanzipationsbewegungen des weiblichen Geschlechts gegenübertraten. In einer Versammlung, die von einem der bürgerlichen Frauenvereine einberufen worden war, sollte diesen Angriffen begegnet werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil es mich belustigte, daß lauter ehelose alte Mädchen sich für berufen hielten, über diese Probleme zu urteilen, als in der Absicht selbst zu sprechen.
Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung als die Begründerin eines neuen, schöneren, festeren Ehe- und Familienlebens:
»Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und sittlich gereiften Menschen ist der glücklichste, dauerndste,« sagte sie. »Der Mann wird in der Frau nicht mehr nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen, sondern eine Kameradin, die seine Interessen teilt und fördert. Das Familienleben wird sich dadurch erneuern, denn der Mann braucht nicht mehr außerhalb seines Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch nachzugehen...«
Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach, und die Art, wie sie die Wogen der Frauenbewegung durch das Öl unbeweisbarer Prophezeiungen zu besänftigen suchte. Ich meldete mich zum Wort.
»All Ihre schönen Argumente,« rief ich aus, »beruhen auf einem Trugschluß: der Instinkt der Sinne ist doch nicht identisch mit dem geistigen Verständnis! Nichts gibt die Gewähr dafür, daß zwei geistig reiche Individualitäten, die einander in heißer Liebe begehren, nun auch mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und Geisteslebens zusammenstimmen, Regungen, die um so differenzierter sind, je höher entwickelt der Einzelne ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz geistiger Übereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen anderen Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgefühle und das Liebesbegehren ist vielgestaltiger, differenzierter geworden und nicht mehr so leicht und so unbedingt zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen Sie sich nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen, sammeln Sie vielmehr Ihre Kräfte durch die klare Erkenntnis neuer Probleme. Mit dem durch die Angst um die Gefährdung alten geliebten Besitztums geschärften Spürsinn des Feindes haben die Gegner bald empfunden, was ihnen droht: Je mehr sich das Weib zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt, mit eigenen Ansichten, Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die alte Form der Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht auf Gleichheit, sondern auf Unterordnung, nicht auf Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung. Für den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer von den Kämpfen der Zeit unberührten, nur der Sorge des Hauses lebenden Gattin, der Hafen der Ruhe. Heute findet er daheim neben der ihm geistig ebenbürtigen Frau dieselbe Nervosität, dasselbe geistig angespannte Leben wie draußen. Für die Frau war er das einzige Symbol alles äußeren Lebens, allein von ihm empfing sie gläubig die Botschaften der Welt, die Ansichten und Urteile über sie. Jetzt kennt sie das Leben aus eigener Anschauung, sie denkt selbständig, sie übersteht ihn vielfach; sie findet in ihm so wenig den Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr die Quelle der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: das Zusammenleben, kann heute schärfer trennen, als jede äußere Trennung es vermag ... Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem Bemühen die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung zerschellen, wie manche andere Lebensform, wenn nur der Kern erhalten bleibt: die Liebe.«
Man hatte mir mit steigender Erregung zugehört. Ich sah, wie eine Frau nach der anderen sich mit hochrotem Gesicht zum Worte meldete. Sie überfielen mich förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine mit deren Ideen ihre Begebungen nicht das mindeste zu tun hätten, griffen sie mich an.
»Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,« antwortete ich nochmals. »Die ersten Träger einer Entwicklung sind nur in seltenen Fällen zugleich die Propheten ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine 93 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, glaubte er, die Zyklopenmauer der katholischen Kirche, die hier und da abzubröckeln begann, fester aufzubauen. Als Montesquieu seinen 'Esprit des lois' und Rousseau seinen 'Emile' schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete des Staats und der Gesellschaft aufzuhellen. Keiner von ihnen wußte, daß sie die Brandfackel in das ganze Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen und werden zu Trägern der Revolution...«
Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Zischen mit vereinzeltem Beifall; als ich aber den Saal verließ, leuchteten mir aus jungen Gesichtern dankerfüllte Blicke entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben gewesen, das ich in Worte gefaßt hatte.
An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß ich es wußte, gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich.
»War das ein Bekenntnis?« fragte er. Ich nickte. »Wollen wir nicht auch unsere Liebe retten?« fuhr er leise fort und zog meinen Arm durch den seinen. Mir wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes Schuldbewußtsein bemächtigte sich meiner: Waren es nicht im Grunde lächerliche Kleinigkeiten, die uns voneinander entfernten, war es nicht frevelhaft, aus selbstischen Motiven den großen Schatz der Liebe aufs Spiel zu setzen? Ein böser Zauber hatte ihn in die Tiefe versenkt, war er es nicht wert, daß ich ihn durch meine Hingabe erlöste?
Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich hatte es bisher nicht sehen wollen. Je mehr er litt, desto schweigsamer wurde er; nur an den gefurchten Zügen, an den finsteren Blicken, und hie und da an einem hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er sich in selbstquälerischen Vorwürfen verzehrte. Die Schatten des Dresdener Kongresses fielen noch breit über den Weg der Partei, — er fühlte sich mitschuldig daran. Und er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch er der Partei wieder hätte helfen können, die Schatten zu bannen: die Neue Gesellschaft.
»Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,« sagte er zuweilen. Aber war nicht der Verkauf des Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich hatte ihn darin bestärkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch litt! Und in diesem Augenblick hatte ich ihn im Stiche lassen wollen! Hatte mich bitter gekränkt gefühlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte, weil er es an Liebesbeweisen fehlen ließ!
Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug sprach er davon: die Neue Gesellschaft wollte er wieder erscheinen lassen. Aber wenn er mich dabei fragend ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte mir jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte Frage an mich, so äußerte ich rücksichtslos meinen Widerspruch.
»Nicht drei Monate würden wir mit dem bißchen, was wir aus dem Zusammenbruch gerettet haben, die Zeitschrift halten können,« sagte ich, »und ich habe schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges dem vollständigen Ruin entgegenzugehen.«
Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dresdener »Jungbrunnen« höhnte, wenn jedes ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gelächter der bürgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer 81 Abgeordneten lahmgelegt blieb seit Dresden, so waren das nicht vereinzelte Erscheinungen, sondern Symptome der allgemeinen Stimmung der Partei gegenüber. Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen? Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns nahegestanden hatte. Noch kam ich zuweilen in Künstler- und Literatenkreise, aber ich fühlte sogar ein persönliches Sichzurückziehen. Das Interesse wandte sich augenscheinlich ganz anderen Gebieten zu. Die l'art pour l'art-Stimmung breitete sich aus. Mit dem Verschwinden der Arme-Leute-Bilder und Dramen verschwand die oppositionelle Gesinnung. Dichter und Maler, die noch vor kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken und fliegende Krawatten den Bohemien markiert hatten, exzellierten jetzt in tadellos weltmännischen Allüren und beurteilten den lieben Nächsten nach seinem Schneider. Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die Parole der künstlerisch-literarischen Jugend gewesen war, so wurde jetzt die Vornehmheit Trumpf. Nicht jene echte der Bewegung und Gesinnung, die der Gefahr des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die müde der Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen Finger genügend lang, dessen Gestalt genügend schmal und dessen Charakter genügend biegsam ist.
»Und von diesem dürren Boden glaubst du ernten zu können?!« fragte ich meinen Mann.
»Nein,« entgegnete er, »aber ich bin optimistisch genug, um auch ihn für bearbeitungsfähig zu halten.«
Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die Ereignisse in der Sozialdemokratie die feindliche Haltung gegen die Revisionisten gar zu deutlich hervortreten ließen, kam es vor, daß er selber sagte:
»Es ist doch vielleicht noch zu früh!«
Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei den heftigsten Streit hervorzurufen. So war einem der in die Dresdener Skandale verwickelten Revisionisten die Kandidatur eines sächsischen Wahlkreises angeboten worden. Alle höheren Parteiinstanzen erklärten sich dagegen; die Vernichtung der bisher geltenden Autonomie der Wahlkreise war die Folge, und nun entspann sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der Presse, die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand.
»Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen,« hieß es kategorisch auf Seite der Radikalen.
»Die Sozialdemokratie hat jede Art von Machtentfaltung, die die Minderheit in ihrer Existenz bedroht, zu bekämpfen, also zu allererst die in den eigenen Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn die Rechte der Minderheit schutzlos sind,« lautete die Antwort auf Seite der Revisionisten.
In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in bezug auf die Zollfragen theoretisch von den Ansichten der Partei abweichende Meinungen. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und sein Ausschluß aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube, nicht Geistesglaube war für die Dogmatiker Voraussetzung der Parteizugehörigkeit.
Ich hörte überall dieselbe Dissonanz heraus, die in mir tönte: Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, — Individualismus gegen Sozialismus, — dieselbe Dissonanz, die dem Dresdener Konzert zugrundegelegen und keine Auflösung gefunden hatte. Ob mein Mann und mit ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte waren, wenn sie behaupteten, daß die Einheit in der praktischen Tagespolitik über diese inneren Gegensätze hinweghelfen würde?
Wenn ich meine Zweifel äußerte, so war es Reinhard vor allem, der sie auf Grund seiner Erfahrungen zu entkräften suchte.
»Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,« sagte er; »da besteht diese Einheit tatsächlich und ist die Grundlage unseres wachsenden Einflusses geworden.«
Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den Politikern der radikalsten einer gewesen war, und ich konnte mich der Empfindung des Bedauerns nicht erwehren: damals durchglühten die Ideale des Sozialismus seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Denken den Horizont des Auges nicht mehr zu überschreiten. Arbeiterrechte und Freiheiten rang er mit eiserner Energie dem Unternehmertum ab und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts konsequent nur auf den nächsten Schritt. Darin lag vielleicht seine Kraft. Aber die Stimmung praktischer Nüchternheit, die ihn beherrschte, war nicht die Atmosphäre, in der die umfassenden Ideen der Menschheitsbefreiung sich entfalten.
Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die Forderungen des Tages das Heilmittel für die inneren Schäden der Partei zu finden glaubte, beschäftigte sich viel mit den Gewerkschaften.
»Das sind die Kerntruppen,« meinte er, »ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen wir kennen, wenn wir einmal mit unserer Zeitschrift wirken wollen.«
Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit herrschte hier. Mit tiefgründiger Kenntnis wurden sozialpolitische Fragen behandelt, besonders die des Heimarbeiterschutzes, die damals im Mittelpunkt des Interesses standen. Es war bezeichnend für den Geist der Gewerkschaftsbewegung gewesen, daß fast zu gleicher Zeit, wo die Einladung zum Frauenkongreß von den Sozialdemokratinnen abgelehnt worden war, die Generalkommission der Gewerkschaften den Heimarbeiterschutz-Kongreß einberufen und die Interessenten aus bürgerlichen Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte.
Aber wenn die bewußte Beschränkung der Bewegung auf der einen Seite einen erstaunlichen Grad von Wissen, von Energie, von Zielsicherheit zeitigte, so entwickelte sich auf der anderen Seite eine gewisse Engigkeit, ein Organisationsegoismus, der vom Standesdünkel alter Zeiten nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte selbst für die Gewerkschaften; ich verfocht in Versammlungen die Forderungen zum Heimarbeiterschutz, die wir im Kongreß aufgestellt hatten, ich wußte, wie notwendig das alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen vermocht, und es schien mir nicht unbedenklich, daß so viele tüchtige Kräfte, von der politischen Bewegung angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur gedämpft hierher, wo sich Kräfte und Gedanken im engen Kreis der Organisationsarbeit, der Sozialreform bewegten? Lagen hier nicht die Keime einer gefährlichen Entwicklung von Egoismus gegen Sozialismus?
Allmählich war's, als öffneten sich mir immer neue Tore mit weiten Ausblicken auf unbekannte Gebiete der Arbeiterbewegung. Eine Schulvorlage, die von der preußischen Regierung schon lange in Aussicht gestellt war und auf Einführung konfessioneller Schulen hinauslief, rief in der Presse und in Versammlungen eine lebhafte Kontroverse über Erziehungsfragen hervor. Der bloße selbstverständliche Protest dagegen, die bloße Forderung der Trennung von Schule und Kirche genügte nicht mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten beteiligte, der hatte sich auch mit den Details der Frage beschäftigt, und ein Verlangen nach weiterer Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Versammlung vor den Toren Berlins hörte ich einen alten Arbeiter von Pestalozzi sprechen. Er hatte ihn nicht nur gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte die Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der »Paukschule« der Gegenwart treten würde, mit demselben Enthusiasmus, wie ein anderer sich über den Zukunftsstaat verbreitet haben würde. Auf solche und ähnliche Erfahrungen hin wagte ich es, die »pädagogische Provinz«, Goethes Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines Vortrags zu machen. Ein Riesenauditorium, das nur aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter Aufmerksamkeit allem, was ich sagte, und in der Diskussion zeigte sich nicht nur, daß ich verstanden worden war, sondern auch wie viele ihren Goethe gelesen hatten. Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den nicht politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte mit wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur fordernde. Wo religiöse, wo philosophische Fragen angeschnitten wurden, war das Interesse am stärksten. Jener brutale philosophische Materialismus, der alles leugnete, was sich nicht mit Händen greifen ließ, und für die Masse der Sozialdemokraten um so mehr an die Stelle kirchlich-dogmatischen Glaubens getreten war, als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung mit dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen Materialismus, zusammengeworfen hatten, beherrschte nicht mehr so uneingeschränkt wie früher die Gemüter. Der Unglaube, der geblieben war und neben alles Unabweisbare sein Fragezeichen aufrichtete, schien erfüllt von Sehnsucht und Heimweh.
Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer freien Zeit verschlangen, was ihnen an philosophischen Schriften erreichbar war: neben Kant und Schopenhauer das seichteste Gewäsch sogenannter Popularphilosophie, neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual, mit der sie immer wieder versuchten, die geistige Vernachlässigung ihrer Jugendjahre zu überwinden, die Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen fehlten, nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leiblichen Not.
»Wir sind alle gute Sozialdemokraten,« sagte mir einmal ein älterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter zum einflußreichen Gewerkschaftsbeamten gebracht hatte, »und der Sozialismus ist das, was uns zusammengeschweißt hat, uns im Kampf gegen die Feinde unüberwindbar macht; aber nun will doch jeder auch etwas für sich sein.«
Das war der Wunsch nach Persönlichkeit, der sich regte, die Reaktion gegen die geistige Nivellierung, die die Stärke und die Schwäche des Sozialismus war.
Und alles Wünschen und Suchen ging in die Irre. Niemand antwortete darauf, niemand sprang hinzu, um Taumelnde zu halten, Blinde zu führen. Eintönig, wie die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieselbe Formel entgegen:
»Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch den Klassenkampf bringt allen Erlösung.«
Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Bewußtsein kam: Über die Befreiung von Not und Elend hinaus muß es ein persönliches Ziel geben, für das die Erreichung dieses ersten, rohesten nichts als der Ausgangspunkt ist. Würden sie im Suchen danach nicht auf Abwege geraten, sich nicht entfernen vom Wege, der notwendig zuerst zu jener ersten Etappe führen mußte?
In Rußland warf die Revolution ihre Brandfackel in Städte und Dörfer. Die Blüte der Jugend, die geistige Elite des Landes trugen die Fahne voraus, und die schwerfällige Masse des Riesenvolkes geriet in eine ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern in ihren einsamen Steppen grüßten das Licht, das sie flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen, Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer Zitadellen, Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke Sibiriens verschleppt, aber Tausende füllten die Lücken wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen hatte. Die Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben galt ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit war. Das große Reich, der Hort der europäischen Reaktion, schien in seinen Grundvesten erschüttert. Vor Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen streckte der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie der Himmel über der Grenze sich rötete. Und vielen, auf deren Seelen der häßliche Parteizank lastete, die sich ernüchtert fühlten durch den langen staubigen Weg, den sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde der Glanz zu einem Hoffnungsschimmer.
Von der Weltenwende der russischen Revolution, von dem Zusammenbruch des Zarismus sprachen prophetisch die Redner in unseren politischen Versammlungen.
»Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen Revolution —,« damit wurden die Nörgler und Zweifler niedergeschlagen.
»Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen ist, die Marx voraussah, wo die Evolution in die Revolution umschlägt —?«
Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen. Meine Empfindung, meine Phantasie war auf ihrer Seite, meine Hoffnung entzündete sich daran.
Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend erwartungsvoll im dunkeln Zimmer saß, hatte der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben, wo die Mutter den Baum putzte, durch das Schlüsselloch drang, mir die ganze Seele erhellt und alle Angst vor der Finsternis um mich vertrieben. So war mir jetzt zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch kannte ich seine Quelle nicht; nur daß er da war, bannte die Furcht.
Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Aufgabe: die Neue Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen, durch sie zusammenzufassen, was in der Arbeiterbewegung nach allen Richtungen auseinanderzufließen drohte: den geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der Gewerkschaften und Genossenschaften, die Schwungkraft der kämpfenden Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer neuen tieferen Einheit Richtung geben sollte, so sollte sie im Kreise der intellektuellen Jugend dem Sozialismus Anhänger werben. Wir bedurften dieser Jugend, das lehrte uns Rußland, das predigten uns die stummen Lippen all der Suchenden, die der geistigen Führer entbehrten. »Die Wissenschaft und die Arbeiter«, — ein Kind dieses Bundes war der Sozialismus gewesen, ihn zu zerstören und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat.
Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die zuerst wieder von unserer Zeitschrift sprach. Und was ich so lange entbehrt hatte, geschah: Heinrichs verdüsterte Züge erleuchteten sich wie von innen heraus. Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft zurück, und im Überschwang der Freude glaubte ich das Mittel wieder gefunden, das auch die klaffenden Wunden unserer Ehe schließen würde. In gemeinsamer Arbeit, mit demselben großen Ziel vor Augen würden wir enger, unauflöslicher zusammenwachsen.
Ein Umstand half uns, mit etwas größerer Zuversicht an die Arbeit zu gehen. Meine Schwester, eine der sechs Erben der verstorbenen Tante, hatte, empört über die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die Annullierung des letzten Testaments, das meine Enterbung aussprach, durchzusetzen. Und als die Verwandten einmütig erklärt hatten, den letzten Willen der Toten respektieren zu müssen, tat sie allein, was sie von den anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung meines Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu meinen Gunsten. Es war zunächst nur wenig, was ich bekam, — der größte Teil des Vermögens lag in Grundstücken fest, — aber für uns, die wir von Anfang an mit einer so geringen Summe rechnen mußten, daß kaum ein anderer daraufhin den Mut gehabt hätte, eine Zeitschrift zu gründen, war es eine willkommene Hilfe. Nur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar tausend Mark für meinen Jungen festlegen zu wollen, — ich errötete dabei über mich selbst. Drüben, im Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich könnte mit dem lumpigen Gelde knausern!
Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden Mitarbeiter im eigenen Lager, die unsere Ideen teilten, wir fanden aber auch Künstler und Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren und mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, einmal zum Volk zu sprechen. Und zuerst leuchteten uns überall die aus den schwarzen Schornsteinen glutrot aufsteigenden Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen.
Daß innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen uns gehetzt, vor einem Abonnement unserer Zeitschrift gewarnt wurde, daß uns die Genossen wieder als »Geschäftssozialisten« öffentlich an den Pranger stellten, — dafür hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten, wir wollten wühlen, kritisieren; sie würden sich bald eines Besseren belehren lassen, denn wir dachten nur daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen Sturmwolken auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter erfrischte Luft, zu neuem Segen durchtränkte Erde.
Der Strom der russischen Revolution, der drüben alles mit sich riß, schien zuerst an Deutschland vorüberzubrausen, als wäre die Grenze ein Felsengebirge. Allmählich aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren, und die deutsche Reaktion warf angstvoll Wälle auf. In den Einzelstaaten kam es zu Wahlrechtsverschlechterungen, und die Angriffe auf das allgemeine Reichstagswahlrecht wurden lauter. Unter dem Deckmantel der scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preußische Landtag darauf aus, mit den Seelen der Kinder die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch das Proletariat lernte von den russischen Freiheitskämpfern. Zum erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter die Straße zu gewaltigen Massendemonstrationen. In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz durchzogen Tausende und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend, die Stadt. Und wenn sie auch der Hartnäckigkeit der Regierung nichts abzutrotzen vermochten, sie fühlten sich nicht geschlagen, denn die Siege jenseits der Grenzen stärkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln Massen, dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als drohende Rufe von finsterer Entschlossenheit zeugte, war die wiener Partei vor dem Parlament aufmarschiert, während in ganz Österreich die Arbeit ruhte, und eroberte im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor wenigen Wochen noch von der Regierung abgelehnt worden war. Und angesichts der blutgetränkten Straßen Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltischer Schlösser versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung.
Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg der Reaktion Sturm zu laufen: gegen den Landtag. Wir schürten in unserer Zeitschrift mit allen Mitteln den Brand.
»Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens, das in den Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,« schrieb mir Romberg damals, »bleibt Ihre Schornsteinzeitung mir unsympathisch, — jetzt vollends, wo ich mit aufrichtiger Trauer sehe, daß Sie jene Vornehmheit preisgeben, deren Aufrechterhaltung durch alle Fährnisse proletarischer Versuchung mir bisher so bewundernswert erschien. Den ganzen giftigen Zorn der Renegaten schütten Sie über Ihre eigenen Klassengenossen, die Junker, aus.«
»Über Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,« antwortete ich, »er führt uns, fürchte ich, weit voneinander. Aber mir die Preisgabe der Vornehmheit vorzuwerfen, dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich Aristokratin war und blieb, weiß ich zu scheiden zwischen dem Adligen und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen, die Mirabeau und Lafayette, die Struve und Krapotkin, — das waren Aristokraten, das heißt freie Herren, keine Fürstenknechte, keine Sklaven des Herkommens. Ich bin stolz, zu ihnen zu gehören und werde, wie sie, bis zum letzten Atemzug gegen die Junker, das heißt die Dienstmannen, kämpfen.«
Im Abgeordnetenhause erklärte Graf Roon: »Wenn jemals die Regierung daran denken sollte, uns in Preußen die geheime Wahl zuzumuten, so würden wir zur schärfsten Opposition übergehen.«
»Auf das nachdrücklichste lege ich dagegen Verwahrung ein, daß das allgemeine geheime Wahlrecht als Wahlrecht der Zukunft hingestellt wird,« sekundierte ihm Herr von Manteuffel. Hüben und drüben schlossen sich die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen?
In den Köpfen der Parteigenossen spukte diese Frage, der die andere auf dem Fuße folgte: wie bereiten wir uns vor? Das Mittel immer wiederholter Arbeitseinstellungen hatte sich in Rußland als das eindrucksvollste erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen Partei erörtert. Es trennte die Geister nach einem Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament riß mich rückhaltlos auf die Seite derer, die den Massenstreik verteidigten; mein Mann stand im entgegengesetzten Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten. Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander.
»Glauben Sie, es läßt sich beschließen, übermorgen nachmittag um vier in den Massenstreik einzutreten?« höhnte Reinhard. »Revolutionen sind keine Paraden, die vorher einexerziert werden.«
»Aber die Truppen müssen dafür vorbereitet sein wie für die Kriege,« entgegnete einer unserer Mitarbeiter; »wir müssen den Gedanken in die Köpfe hämmern, damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.«
»Von unseren drei Millionen Wählern sind nur viermalhunderttausend politisch organisiert, und von zwölf Millionen Arbeitern nur anderthalb Millionen gewerkschaftlich!« rief Reinhard aus. »Mir scheint, wir müssen zuerst die Köpfe haben, ehe wir daran denken können, eine Idee in sie hineinzuhämmern.«
Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des neu entfachten theoretischen Streites, der bei uns Deutschen so oft an Stelle des Handelns tritt. Die Demonstrationen gegen den preußischen Landtag beschränkten sich auf ein paar große Versammlungen, denen erst das Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. Die Schulvorlage wurde angenommen. Graf Bülows Politik der Ablenkung des Volksinteresses bewährte sich wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu unseren Kerntruppen gehörten, richteten sich wie hypnotisiert auf die internationalen Verwickelungen. Von der feindseligen Verstimmung sprach der Reichskanzler, als die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging: »Deutschland muß stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten zu können!«
Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine stets schlagbereite Armee zu haben, sprach der Kaiser. So wurde gegen die revolutionäre die patriotische Stimmung ausgespielt.
Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft vorwärts gerichtet, besinnungslos. Wir hatten unser Programm erfüllt, waren jeder tieferen Volksregung nachgegangen; es hatte an aufrichtiger Anerkennung nicht gefehlt, und trotz allen lauten und leisen Wühlens gegen uns war in kurzer Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen worden. Aber die Kosten der Zeitschrift überstiegen bei weitem die Einnahmen. Wir konnten nicht länger die Augen davor verschließen, daß unsere Mittel auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzen waren.
»Drei Jahre müssen Sie aushalten können, dann haben Sie sich durchgesetzt,« sagte uns ein treuer Genosse, der zugleich ein guter Geschäftsmann war.
»Drei Jahre!« wiederholte ich in Gedanken. »Wo wir kein Vierteljahr mehr gesichert sind!«
»Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute weniger als je,« erklärte mein Mann; »denn jetzt schädigen wir dadurch die Sache.«
Die Furcht flüsterte mir zu: »Gib auf, solang es noch Zeit ist.«
»Heinrich ertrüge es nicht,« antwortete die Stimme meines Herzens.
Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin zurück. Sie war in einem Sanatorium gewesen und hatte dann eine lange Seereise gemacht.
»Nun bin ich heil und gesund,« damit trat sie wieder vor mich hin, »und jetzt komme ich zu dir und will arbeiten.« Mit ungläubigem Lächeln sah ich sie an. »Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses Leben aus?« schmollte sie, weil ich sie nicht ernst nehmen wollte.
»Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der ein heimlicher Genosse ist,« fuhr sie zu plaudern fort. »Er holte nach, was du zu tun versäumtest; gab mir Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin überzeugte Sozialdemokratin.«
»Aber Ilse!« lachte ich. »Du?! Die Ästhetin?! Du mit deinem Grauen vor dem Pöbel?!«
Nun wurde sie wirklich böse. »Ist es so unwahrscheinlich, daß man sich entwickelt? — Bist du vielleicht als Genossin auf die Welt gekommen?! — Ich bildete mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich werde dir beweisen, wie ernst ich es meine: noch heute will ich mich dem Vertrauensmann meines Wahlkreises vorstellen, ich werde sogar Flugblätter austragen, wenn er mich brauchen kann.«
Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen Wandlung meiner Schwester, als Heinrich sie begrüßte. Er fand sich rascher in die veränderte Situation.
»Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,« sagte er lebhaft.
»Ja, — ob ich aber schreiben kann?!« meinte sie zögernd.
»Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?« wandte er sich an mich. »Und prädestiniert sie nicht ihre ganze Vergangenheit, gerade das wichtige, noch so sehr vernachlässigte Gebiet der künstlerischen Volkserziehung zu dem ihren zu machen?«
Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden hatte, war jetzt vergessen. Die kleine Ilse war wieder mein Kind, wie einst, da sie nichts so gerne hörte wie meine Geschichten, mit nichts spielen mochte als mit den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide Hände entgegen:
»Du brauchst keine Flugblätter auszutragen, um zu beweisen, daß du zu uns gehörst. In der Partei ist viel Raum für Kräfte wie die deinen.«
Am Abend sah ich an Heinrichs grüblerischem Gesichtsausdruck, daß irgendein Gedanke ihn beschäftigte. Er ging schweigsam im Zimmer auf und nieder. Endlich blieb er vor mir stehen: »Was meinst du, wenn wir Ilse aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft mit einem Kapital zu beteiligen?«
Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu begegnen.
»Um Gottes willen nicht!« rief ich aus.
»Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,« entgegnete er stirnrunzelnd. »Daß wir alles aufs Spiel setzen, ist dir selbstverständlich; daß Ilse einen Bruchteil ihres Vermögens opfern soll, kommt dir unmöglich vor. Und doch könnte das ihr geben, was ihr fehlt: einen ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr ist als Laune und Spielerei.«
Ich widersprach auf das heftigste: »Was wir tun und lassen, ist unsere Sache, aber die Verantwortung für Ilse dürfen wir nicht auf uns nehmen. Niemals ertrüg' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!«
Heinrich brauste auf. »Wie kannst du von Ruin sprechen, wo uns nichts fehlt als die Mittel, noch einige Zeit auszuhalten, — wo wir in zwei, drei Jahren über das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so gar keinen Glauben an die eigene Sache?«
»Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewiß —,« meine Hände preßten sich flehend ineinander, »— aber lieber will ich mir die Finger blutig schreiben, lieber will ich von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die Neue Gesellschaft zusammenzubringen, als daß ich mich an Ilse wende.«
Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. »Ich finde deinen Standpunkt kleinlich, — deiner und deiner Schwester unwürdig. Sie wird sich freuen, mit einem Teil ihres Überflusses etwas Nützliches leisten zu können.«
Aber ich ließ mich nicht überzeugen. »Laß uns wenigstens noch versuchen, ob sich nicht auf anderem Wege Hilfe schaffen läßt,« bat ich. Heinrich schwieg, sichtlich verletzt.
Alle Schritte, die er in den nächsten Wochen unternahm, waren umsonst. Immer näher rückte die Zeit, die uns vor die letzte Entscheidung stellte. Mich schauderte im Gedanken daran.
Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen Reise zurückkehren sah, — so müde, so gebrochen, da hielt es mich nicht länger: »Geh zu Ilse,« sagte ich.
War es der Leichtsinn der Jugend, war es die Überzeugungskraft der Reife, die Ilse ohne einen Augenblick des Überlegens dem Vorschlag Heinrichs entsprechend handeln ließ? Wie kam es nur, daß in dem Augenblick, wo sie sich nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln mit mir vereinte, ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume meiner Schwesterliebe fiel? Irgendeine Fessel, die die freie Bewegung meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft angezogen.
Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede ruhige Stunde als Unterlassungssünde empfanden ließ. Selbst in den Augenblicken, wo die Sache, der ich diente, mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, daß ich arbeiten mußte, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren. Daß die Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere Liebe zueinander festigen sollte, — daran dachte ich kaum mehr. Kam mir in heißen Nächten nach gehetzten Tagen die Erinnerung daran, so grauste mich's. Ich saß meinem Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuskripte und Korrekturen gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, mich für den Geliebten zu schmücken, keine Zeit mehr für das süße Spiel der Liebe, für Suchen und Finden, Zurückstoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind stahl ich mir morgens und abends noch eine Stunde; aus der Frische seines Denkens und Fühlens floß mir der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter schaffen zu können.
Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun schon lange der Berta. Zuweilen wunderte ich mich wohl, daß er bei seiner Einfachheit so kostspielig war. Aber jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die Berta uns nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es nicht, die unter Hinweis auf die entstehenden Kosten jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein besorgte?
Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem Nähtisch liegen. »Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag geschenkt,« sagte sie.
Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend war, ein Paket für »Fräulein Berta«, die Uhrkette sei darin, die sie sich durch sie habe besorgen lassen, fügte sie erklärend hinzu. Ich wurde stutzig und ließ mich in ein Gespräch mit ihr ein.
»Auch das Armband hat mein Mann besorgt,« schwatzte sie, »es kostete nur sechzig Mark. Und Fräulein Berta kann sich wohl mal was selber gönnen, nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.«
Nach Hause?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war doch, wie sie oft genug erzählt hatte, in behäbiger Lage. Nun verfolgte ich erst aufmerksam ihr Tun und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle Beweise in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen worden. Im ersten Gefühl der Empörung wollte ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige bringen. Aber dann schämte ich mich. War ich nicht die Schuldige gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen eine Freiheit gelassen, eine Selbständigkeit aufgebürdet hatte, der sie geistig und moralisch nicht gewachsen war; ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit Geschenken überhäuft hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken mußten? Sie war für die Lebenssphäre, in die sie zurücktreten mußte, bei mir und durch mich verdorben worden.
Ich entließ sie; ich bekannte meinem Mann meine Schuld. Von nun an mußte ich mich um die täglichen Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem die Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu gehen. Ich war viel zu ängstlich, um ihn sich selbst zu überlassen. Wie müde fühlte ich mich, wenn ich abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich morgens erwachte! Wie lange noch würde ich aushalten können?!
Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze Nervenkraft, die volle Anspannung des Willens. Ein neuer Parteiskandal forderte gebieterisch unsere Stellungnahme. Die Auseinandersetzungen über den Massenstreik hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder die Formen persönlichen Gezänks, gegenseitiger Verdächtigungen angenommen. Zur Empörung der radikalen Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer Parteitag eine wenigstens äußere Verständigung zwischen beiden Richtungen herbeiführte und auch die Preßfehde zu schlichten schien, ließ sich Groll und Mißtrauen nicht durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion, die ihre Ansichten weder dem Votum der Masse unterwerfen, noch sich zu einem Inquisitions-Tribunal hergeben wollte, des Revisionismus verdächtig. Kaum war der Parteitag vorüber, als der Parteivorstand mit den Berlinern in Verhandlungen eintrat, deren Resultat die Entlassung und der Ersatz eines oder mehrerer Redakteure und die Neugestaltung der Mitarbeiterschaft über den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter verschlossenen Türen, mit strengstem Schweigegebot für die Teilnehmer und — unter Ausschluß der Angeklagten ging das alles vor sich. Ein Fehmgericht nach demselben Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die Gleichheit, wo die Brüderlichkeit?! Als die Redaktion trotz aller Vorsichtsmaßregeln von den Vorgängen erfuhr und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein allen Grundsätzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten schroff zurückwies, handelte sie, wie organisierte Arbeiter handeln, wenn der Unternehmer ihre Kameraden ohne sie zu hören mit Aussperrung bedroht: sie erklärte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre Entlassung ein und begründete ihre Handlungsweise vor der Öffentlichkeit. Mit gezückten Schwertern standen einander nun wieder zwei Richtungen in der Partei gegenüber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien der Demokratie, sondern die der Despotie.
»Wie können wir noch mit freier Stirn unsere Ideale gegenüber der Willkürherrschaft monarchischen Absolutismus verteidigen,« schrieben wir in der Neuen Gesellschaft, »wie können wir die Selbstherrlichkeit des Unternehmertums, seinen rücksichtslosen Herrenstandpunkt gegenüber dem Arbeiter angreifen, wenn der Gegner uns mit den eigenen Waffen zu schlagen vermag? Wie können wir an den endlichen Sieg unserer Sache glauben und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, wenn die Ansichten einzelner, — hier des Parteivorstands, ganz besonders die Bebels, — zum Kredo erhoben werden und jeder Andersgläubige der Ketzerei beschuldigt wird, — ungehört, wie bei den Hexenprozessen? ... Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan, tun wir die unsere! ...«
Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, nicht nur weite und immer weitere Kreise zieht, sondern auch den Grund aufwühlt, sodaß dieser plötzlich in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt, so war es hier. Man hatte vergessen, den Grund zu säubern und auszumauern, ehe der frische Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die Moral der bürgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum mit Feuer und Schwert und Verfolgung eingeimpft hatte, beherrschte alles menschliche Denken und Fühlen.
»Besser unrecht leiden, als unrecht tun,« predigten salbungsvoll unsere Parteiblätter; also sich beugen, sich der Macht unterwerfen, Demut und Unterwürfigkeit für der Tugenden größte erklären, — konnte, durfte das die Ethik des Sozialismus bleiben?
Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; ich hatte keine Zeit, Gedanken zu formen; ich hatte auch keine Kraft.
Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als stünde mir eine große Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, sodaß die Nägel mich in der Handfläche schmerzten: ich durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit meinem Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein Schwindel. Dann lehnte ich mich an irgend eine Mauer, und er blieb vor mir stehen, die großen ernsten Augen ängstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich abends mit irgend einer notwendigen Näharbeit bei ihm war, und er mir mit all dem überzeugten Pathos des Kindes vorlas, — Märchen und Gedichte, die feierlichsten am liebsten, — dann brauste es mir vor den Ohren, sodaß ich kaum seine Stimme noch hörte. Was war das nur?
Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein Junge war mein Vertrauter und mein Verbündeter zugleich. Er hatte mir versprechen müssen, dem Vater nichts zu sagen.
»Papachen hat soviel Ärger, er soll sich nicht auch noch um mich Sorge machen!« — Und dies erste Zeichen eines freundschaftlichen Vertrauens seiner Mutter hatte ihn sichtlich reifer gemacht.
Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte unaufhörlich an die Scheiben; um meinen Kopf lag es wie ein Band von Eisen. Plötzlich aber mußte ich vom Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. Wie hatte ich nur so lange fragen können, was mir fehlte: ich war guter Hoffnung. »Guter« Hoffnung?! Sehnsüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünscht, hatte, wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein Naturgebot empfunden, mehr seinesgleichen zu gebären. Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da ich ihn unter dem Herzen trug: schwach, schwermütig, arbeitsunfähig. Und ich mußte doch arbeiten!
Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die Rechte der Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe auf das »parteischädigende Treiben der Neuen Gesellschaft«. Auf wessen Tisch die rotleuchtende Flammenschrift unseres Blattes entdeckt wurde, der erschien schon verdächtig.
Wenn meine Schwester kam, wurde mir heiß und kalt. Etwas wie Schuldbewußtsein machte mich ihr gegenüber immer scheuer. Wir mußten uns durchsetzen, — um jeden Preis! — Und ich biß die Zähne zusammen und trug schweigend meine Qual, bis ich nicht mehr konnte.
Meine Ärztin machte ein ernstes Gesicht: »Sie müssen sich vollkommen ruhig halten, sich vor jeder Aufregung hüten,« sagte sie mit scharfer Betonung.
Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging heim, als schleppte ich eine Zentnerlast mit mir. Und wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel hätte verkriechen können, sie würde weiter drückend auf mir liegen. Wen einmal die Sorge umstrickt, den hält sie fest.
Eine krankhafte Angst bemächtigte sich meiner. Ich fürchtete mich vor dem keimenden Leben in mir wie vor einem Mörder. Ich malte mir in dunkeln Nachtstunden den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin vor der Türe stand.
Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in meinem Schoß Leben gewesen war, starb es. Während der langen dunkeln Stunden, die ich nun regungslos auf dem Rücken lag, richtete das Ungeborene zwei starre Augen auf mich, anklagend, richtend. Und ich beweinte es, als hätte es schon in meinen Armen gelegen.
Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner Großmutter Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben gemaltes Bild: ein Köpfchen mit weißen Rosen bekränzt, — ihr jüngstes Kind, das gestorben war, ehe seine Lippen das erste »Mutter« zu lallen vermochten. Ich stellte es auf den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte mich zu jeder Stunde daran erinnern, daß mein Kind zum Opfer gefallen war.
Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur Kraft.
Eines Abends saß ich mit meinem Sohne zusammen unter der grünumschirmten Lampe. Er war in das Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tische lag.
»Das mußt du hören, Mama,« rief er aus; seine Augen glänzten vor Entzücken.
las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu.
Ich richtete mich auf. »Ausduldend will ich zeugen, von welchem Stamm ich bin,« wiederholte ich leise, nahm meines Kindes Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis.
»Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den Soldaten zusammengeschossen,« — »fünfzehntausend Gefallene bedecken Straßen und Barrikaden —,« so meldete der Telegraph aus Moskau; »die Regierung hat uns betrogen! Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« — so klangen die Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und schwer und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1906.
Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus halten unsere russischen Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen Ranken unserer Hoffnung wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.
Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der Siegeszuversicht. Ein rocher de bronce war Preußen noch immer, dem er galt, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts im Landtag endlich zur Besprechung kam, da erklärte die Regierung: das Reichstagswahlrecht ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte Drohung hinzu: »das Gefühl der Unlust besteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieses angeblich ideale Wahlrecht besitzen.« Noch! — Wir hatten achtzig Abgeordnete im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion sie mit einer Handbewegung beiseite schieben. Es klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, wenn der Kanzler die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, um »Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzessen.
Die Einführung des Zolltarifs stand vor der Türe. Mit neuen Steuern und Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, die mondelang in Algeciras beisammensaßen, um es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß zu füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien und malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um sein Verdikt gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenossen das Feld überlassen.
»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen lieber, als eine große Menge unsicherer Mitläufer,« hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte ein Trost sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung einer Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen hatte sich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — das war der Trunk gewesen, an dem sich deutsche Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entsprach, und die Genossen die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit.
In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuschung gefallen. Es schien fast, als ob alle Knospen daran sterben sollten.
An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen der Demonstration gegen das Dreiklassenwahlrecht gewidmet war, sprach ich in einem kleinen Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abseits zwischen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die Begeisterung, an die Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenschauer hatten das Holz naß gemacht, so daß es nur knisterte. Wir protestierten gemeinsam gegen die preußische und gegen die russische Reaktion, aber mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der Wille zur Tat, sondern ein resigniertes Gefühl der Ohnmacht.
Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der Kraft. War sie nicht mehr die der Massen, daß sie sie nicht hören wollten?
Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern vorbei. Wir saßen gebückt am Schreibtisch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu schauen. Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die Dürftigkeit der nächsten Nähe. Dann durstete ich so sehr nach Luft und Sonne, daß ich jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte.
Meine Schwester hatte sich verlobt.
»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit glühenden Wangen und heißen Augen zugeflüstert. Das Leben war ihr viel schuldig geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr gegenüber freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie führte uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter dessen auffallender Schweigsamkeit ich den Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen Alb übernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie schrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und sandte Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele nur wie ein Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich danach nur noch dichter und dunkler zusammenzog.
Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern der verschiedensten Parteien bestehenden englischen Komitee, dem unter anderen auch eine große Zahl englischer Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen aller deutschen Parteien die Einladung zu einem Besuch nach England. Angesichts der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der Presse sollte diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre Gesinnung des englischen Volkes kennen zu lernen und die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. Auch bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft lief sie ein, von einem Brief meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, wir würden ihr Folge leisten.
England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus seinem Labyrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung sah einen Weg aus der Not und der Enge heraus, — und wenn's nur ein flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes.
»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, — in unserem Namen,« fragte ich zögernd. »Ich möchte fort, — hinaus, ein einziges Mal nur!« —
Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir soviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragischen Gebärde!« antwortete er ruhig.
Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, der nicht anders denken mochte: »Ich werde Berichte schreiben, — neue Beziehungen anknüpfen. Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit die Korrespondenz für ein englisches Blatt.«
Der Gedanke besonders elektristerte mich: das wäre doch eine Sicherheit, wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche.
Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich lese Ihren Namen unter denen der Journalisten, die nach England fahren,« begann er erregt.
»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? Keine der berühmten bindenden Parteitagsresolutionen hindert mich daran!«
»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; wollen Sie sich denn gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! Kein Genosse wird es begreifen, daß Sie mit einer Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!«
»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« rief ich aus. »Haben wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß mit Gegnern zusammen gearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es verdacht werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, deren Zweck durchaus im Interesse der Partei liegt? Wir Mitreisenden sollen uns doch nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit geboten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.«
»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete er, »trotzdem dürfen Sie — gerade Sie, deren Stellung doch schon schwierig genug ist — nicht als einzelne der Empfindung der Massen entgegenhandeln.«
Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß diese Reise nicht nur meine persönliche Angelegenheit war. »Ich verstehe Ihre gute Absicht,« sagte ich, »aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch bestärken könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so verächtlich gewesen wie Lakaiengesinnung, gleichgültig ob sie vor dem einzelnen oder vor der Masse zum Ausdruck kommt —«.
»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« unterbrach er mich heftig.
»Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte mich der Empfindung der Masse beugen, nicht weil sie die rechte, sondern weil sie die herrschende ist?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere Einsicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur einen noch beschränkteren, noch despotischeren Herrscher, als unsere Fürsten es sind.«
»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; »es handelt sich doch in diesem Fall nur um eine kleine Konzession, für die Sie größere Werte eintauschen werden.«
Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger verleumden, wenn ich auf die Reise verzichte. Aber man wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, wenn ich auf meinen Entschluß beharre, — auch jetzt, wo mir die Folgen klar sind.«
Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war einer der Besten und Selbständigsten unter den Genossen. »Ich fürchte, wir haben ihn verloren,« sagte mein Mann. Ich unterdrückte einen schweren Seufzer.
Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven führte, freute ich mich der Gegenwart Theodor Barths; — ein freier Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, mit denen sich über alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff fanden sich die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten, unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anwesenheit sie beunruhigte. Sollten sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin behandeln? Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres Dampfers unverfälschten Ausdruck zu geben. Offenbar störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein Benehmen keinen besseren Anlaß dazu bot.
Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen atmete ich die frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küste entfernten, fiel mehr und mehr von mir ab, was lastend und quälend mein Herz bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland ausgestoßen hatte. In dem Antlitz der meisten blitzte etwas wie Zukunsfshoffnung auf. Fast dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm einem neuen entgegen zu gehen.
In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater für die deutschen Gäste den ersten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unsere heimische Bühnenkunst hat uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, das vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrschende war. Ich erwartete statt dessen Stratfords Besuch.
»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander gingen?« fragte er nach der ersten Begrüßung.
Ich nickte lächelnd: »Ein Mann, wie Sie, gehört der Sache des Sozialismus, sagte ich Ihnen.«
»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete ich, und Sie riefen mir zu: ›wir werden sie beide zerbrechen müssen‹ — nun haben wir sie zerbrochen!«
Überrascht sah ich ihn an.
»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,« fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu.
Ich drückte ihm die Hand.
Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben. »Haben Sie das Kettenbrechen bereut?!« fragte er zweifelnd.
»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker Betonung, »nein! Ich erinnerte mich nur der wunden Hände, die es kostet.«
Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der Themseterrasse des Parlaments. Mir schien, als sei es gestern gewesen, daß er mir auf den Marmortisch die Situation der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte.
»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe des Gesprächs.
»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen preßt uns zwar zusammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über seinen Ring hinaus, er trägt auch dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen Kleinkrieg verzetteln.«
»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf ist Leben und weckt Leben! Sie sind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht übersehen kann, während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutsche Revisionismus siegt nicht nur, — er hat schon gesiegt.«
Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen apodiktischen Sätzen und lenkte die Unterhaltung auf sein eigenes Wirken.
»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich keine Arbeit schreckt, wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu gewinnen,« sagte er, »ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert und dazwischen moralische Bomben wirft, ist in meinen Augen Anarchist.«
Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in respektvoller Haltung. Unser langes Gespräch setzte ihn offenbar in Erstaunen. Er wartete darauf, vorgestellt zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John Burns von heute war ja Minister!
Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich mich von da an nur selten. Ich hatte meine leise Freude an den verblüfften Gesichtern meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen, daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politische Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede herbeiführt, und ich merkte erst jetzt, wo ich einmal wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte.
Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, daß die photographischen Kameras der englischen Reporter sich plötzlich auf mich richteten.
Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem sarkastischen: »Da haben Sie wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis der deutschen Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt.
Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der ›Vorwärts‹ beschuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Vertreterin der sozialdemokratischen Presse bei der Englandreise deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenschaft gezogen werden würde.«
Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und schleuderte es zu Boden. »Das glaube ich nicht,« stieß ich zornig hervor.
Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil nichts folgerichtiger ist! Die deutsche Partei ist von nichts freier als von — Freiheit. Sie ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und die bürgerlichste Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten. Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, widersteht sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile, die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und bezeichnet denjenigen, der sich von den Freuden tugendhafter Entrüstung zu den Arbeiten praktischer Verwaltung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung in öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter. Freiheit vom Dogmenglauben ist eines der Grundprinzipien des echten Sozialismus, — die Deutschen sind dogmatischer als die Kirchenväter. Der Wille zur Macht ist ein anderes, — die Deutschen machen den Willen zur Phrase daraus. Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals, — die Deutschen stellen das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrschaft der Masse.«
Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, nicht unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir begann eine Saite, die schon lange leise tönte, lebhaft mitzuschwingen.
Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie.
»... Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches der Grund sein konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise zu verurteilen,« hieß es darin. »Es ist für uns Sozialisten in England eine selbstverständliche Gewohnheit, gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, wenn es im Interesse der Förderung einer großen und guten Sache gelegen ist. Unsere Erfahrung hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unsere deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt folgen müßten, aber im vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig unverständlich ...«
Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses und wurde von Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffassung hatten, als daß die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem Gelächter der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen stets die gleiche Antwort: »Die Sozialdemokratie, der ich stolz bin anzugehören, hat mit den Quertreibereien einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter Genossen nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die Zeitungen schickte, — nicht nur den ›Vorwärts‹, sondern eine ganze Anzahl anderer Parteiblätter, — da schämte ich mich und ging den Interviewern so weit als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. Und doch war es weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die Gehässigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte sie sein, um alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen der Partei beiseite zu schieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reise, — gleichgültig, ob man sie verurteilte oder nicht, — zu einem Parteiskandal aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche der Pöbelgesinnung zu verteidigen, als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, — es blieb mir nichts zu sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, mit der er für mich eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, statt sie zu schließen.
Der Schatten, der sich mir über Englands schöne Sommertage breitete, wich nicht mehr.
Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, gegen Gesellschaftsreisen und dergleichen eine ausgesprochene Abneigung gehabt. Wem Kunst und Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge still und allein gegenüberstehen. Und wer vor den Heiligtümern der Menschheit seine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer, die seine Nächsten sind.
Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, — es war wie ein Sakrileg. Wir kamen in sein Geburtshaus und in die blumenumrankte, strohgedeckte Hütte seiner Liebsten, — aber Shakespeares Geist floh vor uns.
Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, die sich den Typus der mittelalterlichen Klosterstadt noch erhalten hat. Wer ihre Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume in den Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an einen alten Pfeiler lehnen und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel geschnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, und Cromwell, und Newton.
Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen und hörten Reden und Tellergeklapper.
Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlassen hatte, sprach ich meinen Freund Stead, der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.
»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in seinem Heim gegenüber saßen.
»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen.
»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?« fragte er dagegen.
»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend.
»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle anderen entwickeln: leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. War ich schon so alt, daß er mir solch einen Glücksbegriff zumutete, der mir nur mit äußerster Selbstverleugnung Hand in Hand zu gehen schien?
»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife darunter die stärkste Selbstbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußersten Maß ihrer Leistungskraft ...« Wir wurden unterbrochen; es war gut so, denn um so stärker prägten sich mir seine Worte ein.
Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen der Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den Briefen meines Mannes spürte ich immer deutlicher den schweren Atem der Sorgen. Um irgend eine ihrer Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreise immer wieder aufschiebend, weil eine neue leise Hoffnung mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives. Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands meiner Reise wegen über mich hergefallen, — die vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, — das mochte die höflich ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich entschließen, mit leeren Händen zurückzukehren. Nur einer Einladung wollte ich noch Folge leisten.
In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer uralten Burg überragt wird, fand eines jener historischen Festspiele statt, an denen sich alljährlich in den verschiedenen Gegenden Englands die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park des Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen Teiles der englischen Geschichte, von der seine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen und hängenden Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer sanft verschwimmenden Hügellandschaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt vereinigten sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß und zu Pferde in den Rüstungen und Gewändern aller Zeiten. Nun kommt die Schlußapotheose, dachte ich, mit der Büste des Königs und einem »Rule Britannia« aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.
Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürsten und Könige langsam und leise hinter Bäumen und Büschen verschwanden. Nur einer blieb zurück, allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen hervorzubringen, der größer ist als alle: William Shakespeare.
Der Wille zur Macht, — die höchstmögliche Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, — der Übermensch als Ziel der Menschheit —: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten sich plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten. Mein Herz schlug zum Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen zur freien Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die alte vertraute Welt seiner Jugend, und doch erscheint sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes Kind war ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: »Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; sondern dir! sondern dir!« — Galt nicht derselbe Ruf heute der Menschheit?
Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte.
»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; »aber der Nacht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie sich gewiß.«
Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, die, von den Gefährten ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte meiner einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen.
»Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafschaftsrats, nichts Ähnliches zeigen können,« sagte ich.
»Man hat aufgeräumt, — gewiß,« antwortete sie ruhig, »und an Stelle mancher elenden Häuser neue gebaut, aber das Elend ist immer dasselbe. Die einen sterben, andere wandern zu ...«
»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur ertragen?! Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?!«
Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, denen für allen Erdenjammer der Himmel offen steht.«
Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen als in diesem Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer richtete er sich auf zwischen den Menschen und ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine schrille Dissonanz. Ich war der schaffende Künstler nicht, der die einheitliche Lösung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, beherrschte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren Händen zu kommen.
Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, sodaß ich ihm angstvoll forschend ins Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« wehrte er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, — nur müde.« Aber allmählich erfuhr ich doch, was geschehen war: eine Gruppe von Parteigenossen seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung seines Mandats, weil — ich mich an der Englandreise beteiligt hatte, und ein außerordentlicher Kreistag sollte darüber entscheiden.
Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen hingen die Blätter schon gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und doch umgaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Gusow nach Platkow führte. In dem kleinen Saal herrschte unerträgliche Schwüle. Er war schon gefüllt, als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten rührten kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm meines Mannes, — außer ihm hatte ich hier keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war die Sprache des »Vorwärts«, den sie führte. »Das hat Berlin diktiert!« rief Heinrich. Die Falten auf der Stirn unserer Richter vertieften sich.
Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, wie häufig schon hervorragende Parteigenossen sich mit politischen Gegnern zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe. Und als einer wütend dazwischen schrie: »Die Monarchentoaste!« erklärte er, daß die Teilnahme an dieser Form internationaler Höflichkeit um so weniger als eine Verleugnung der republikanischen Gesinnung angesehen werden könne, nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden der Landtagsabgeordneten unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber verharrte weiter in finsterem Schweigen. Die nach ihm sprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton gestimmt: daß die Partei durch uns geschädigt worden sei.
»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief der Maurer Merten; »die Akademiker, die nich Fleisch sind von unserem Fleisch, die zieht's eben immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen« — dabei hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch — »sowas dürfen wir uns nich länger gefallen lassen, am wenigsten von unserem Abgeordneten. Was wäre verloren, wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo sie hinfuhr, sehen wir, daß sie kein proletarisches Bewußtsein hat; daß sie den Klassenkampf in Harmonieduselei verwandeln möchte und statt gegen die Gegner neben uns zu stehen mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt ...«
»Bravo, Bravo« — klang es von allen Seiten, während mein Mann wütend vom Stuhl sprang und ein »Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß. Mich packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir die Erde gespalten: standen wir allein auf der einen Seite und jenseits die selbsterwählten Gefährten?!
»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie von weit her sagen. Ich sammelte mich rasch. Aller Augen sah ich auf mich gerichtet.
»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten Standpunkt vertreten, er hätte nur hinzufügen müssen, warum bei uns zum Verbrechen gestempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des Revisionismus verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier aufführen, wäre noch kläglicher, als es so wie so schon ist, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen schliefen. Sie stehen auf dem Boden des Klassenkampfes, — wir auch; Sie hassen die kapitalistische Wirtschaftsordnung, — wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, führen Sie den Klassenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit Jahrtausenden die Lastträger der Menschheit sind, würden es schon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und Unterdrückten vertauscht würden. Sie sehen in jedem Vertreter der herrschenden Gesellschaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße Sattsein neiden müssen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens genährten Haß nicht mitfühlen, denn nicht persönliches Leiden machte uns zu Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht die veränderte Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die uneingeschränkte Herrschaft der Menschheit über die Natur. Die Erde wollen wir erobern, um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, nicht Feindesland, das Unterworfene beackern sollen ...«
Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. Sonst war alles eine schwarze Masse, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.
»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer Stimme drohend aus dem dunkelsten Winkel.
Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war geladen mit Sprengstoff gegen mich.
Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher und leise fuhr ich fort: »Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, — was bedeutet das gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern auf demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben zusammen diesen Wahlkreis erobert, und in jener Nacht, da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges über uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte, auf immer verbunden, — aber was bedeutet das gegenüber dem Verbrechen der Kaisertoaste! Der Zweck der Reise war nichts anderes, als was im Interesse des Sozialismus gelegen ist, — was bedeutet das gegenüber der Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen zu haben! Dafür ist's nicht genug, daß unsere Presse mich beschimpfte, wie kein bürgerliches Blatt jemals zuvor, — nein, es muß auch noch ein Exempel statuiert werden: der Genosse Brandt muß fallen! ... Nicht um unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn Sie den vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse der Partei erwarte ich von Ihnen seine Ablehnung. Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie eine schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu können ...«
Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die von einem roten Papierschirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein unsicher flackerndes Licht über heiße Gesichter.
Mein Mann sprach noch einmal, — kalt, zornig. »Ich verlange nicht nur, daß Sie den Antrag ablehnen, sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte er.
Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich schwindeln. Während der Pause, die die Genossen zur internen Beratung anberaumt hatten, verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht. Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen Schatten auf den Sand.
»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung seines Mandats zu veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte der Vorsitzende, als wir wieder eintraten.
Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten uns mit einem förmlichen Gruß. Auf unserem Wege nach der Station geleitete uns niemand.
Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit wieder vertieft, als ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliste der Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und verlangte, gehört zu werden.
Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen die Männer, in der Mitte an einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war der Staatsanwalt. Sie zählte alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. Aber auch meine Verteidigung war eine Anklage: ich verschwieg nichts. Mitten in meiner Rede erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz; ich sah, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im nächsten Augenblick stand sie vor mir und erhob die Faust, — einer der zunächst sitzenden Genossen sprang dazwischen.
»So diskutieren wir nicht!« rief er empört.
Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genossen stutzig gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen Folgen blieb der Beschluß bestehen.
Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. Jeder Kampf um Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn er mit den schärfsten Waffen geführt wird. Aber was ich erlebte, war so eng, so klein, hinterließ einen so arm, mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, undurchdringlicher. Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze Partei.
Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution hatte der Jenaer Parteitag gestanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten schrie, hatte sich aller bemächtigt; die Resolution zum Massenstreik hatte angesichts dieser Stimmung, so vorsichtig sie gefaßt war, wie eine Fanfare geklungen. Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen Vorwürfen machte sie sich Luft.
Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker den leisen Hohn, mit dem die Gewerkschafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theoretisieren über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, und auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von dem stagnierenden Sumpf der gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die wirkungslos verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, von dem Mißverhältnis zwischen Worten und Taten war viel die Rede. Nicht ohne berechtigten Stolz wiesen sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen gewerkschaftlich Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten als die viermalhunderttausend Mitglieder der sozialdemokratischen Wahlvereine.
»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen Führer; »aber wenn die Dinge sich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts sind als gewöhnliche Spießer, bilden sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, bloß weil sie so laut ist. Sie sollen sich wundern!«
Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwischen Bebel und Legien. Keiner war unbestrittener Sieger, Wunden trugen beide davon, die sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein Pflaster. Und die schweren Nebelschwaden senkten sich tiefer.
Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger vorausgesehen hatte: die Regierung forderte einen Nachtragsetat für den Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die Reichstagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolonialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren Grausamkeiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde der Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweisen, daß der Konstitutionalismus in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter sie desavouieren, sondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt hinausgeworfen, wenn sie das persönliche Regiment nicht jasagend anerkennen.
Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, als wir mit Romberg im Kaffee des Kaiserhofs saßen. Und hier, wo eine Anzahl der politischen Berichterstatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief sie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht kannte.
»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief der eine stirnrunzelnd, der andere frohlockend.
»Nun geht's in den Kampf —« Ich mußte an mich halten, um es nicht jubelnd herauszustoßen. Ich sah wieder entwölkten Himmel, weiten Horizont.
»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch immer die Regierung zugesprungen, um die Wunden zu heilen,« sagte mein Mann. Romberg zuckte die Achseln:
»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuschen sich über ihre Bedeutung.«
Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Not, die ihn zum Gefolge hat, macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. Alle unsere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, rüsteten sich bis an die Zähne wider uns. Ich war überzeugt: das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das Schlachtfeld und rief die staatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieses Eingreifen des höchsten Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger zu hellem Zorn entflammen, — dessen war ich gewiß.
Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum anderen trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden sich die Menschen ein wie sonst, aber der Sturm, der in den Schornsteinen heulte, der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenster flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken.
Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto fieberhafter arbeiteten wir. Den Husten, der mir des Nachts den Körper erschütterte, suchte ich zu ersticken, meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken selbstvergessener Hoffnung, wo die bösen Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die Flucht ergriffen, wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor der aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entscheidung hängt auch unsere Zukunft ab.
Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am Abend der Wahl im Gewerkschaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau den Korb voll roter Nelken neben sich, und die Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Genossen, die sich allmählich hereindrängten, machten ernste Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobsposten. Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer Stimmen! Dazwischen die Depeschen aus anderen Kreisen: Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten Nachrichten gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach dem anderen. Es schlug Mitternacht, — die Nelken welkten schon im Korbe. Wir waren nur noch ein Häuflein in dem großen öden Raum, — wir wollten uns nichts ersparen: die Schlacht war endgültig verloren.
Wenige Tage später — in der Nacht nach den Stichwahlen — gingen wir durch die Straßen Berlins: da kamen sie in langen Zügen, unsere Überwinder — kein Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. Vor dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. »Heil dir im Siegerkranz —« brausend stiegen die Töne durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenster empor, an dem der sich zeigte, der heute in Wahrheit der Sieger war: der Kaiser.
Vor einem halben Menschenalter war's. Ich stand allein auf Bergesspitze im Gewittersturm. Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen das Wasser brausend in die Tiefe schoß, unter mir ballten sie sich zusammen und verdeckten jeden Ausblick auf stille Dörfer und freundliche Heimstätten. Der Donner rollte; die Berge antworteten ihm, — ein Gelächter der Riesen über das kleine Menschengeschlecht. Jeder Blitz öffnete die Wolkenwand; das Himmelsgewölbe dahinter stand in Flammen.
Ich aber konnte nicht vor, — nicht zurück. Ich mußte mich dem Wetter preisgeben, — und ich fürchtete mich — —
Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als schliefe er, aus Schonung für den anderen. Unsere Arbeit lähmte Hoffnungslosigkeit. Wir lächelten, als wären wir froh, um dem anderen nicht wehe zu tun.
»Ilse meldet sich an —,« sagte Heinrich, als er eines Morgens die Post durchsah.
»Jetzt?!« rief ich erschrocken. Sie kam schon am nächsten Tage, hatte einen seltsam verängstigten Zug im Gesicht und ein erzwungen leichtsinniges Lächeln um die Lippen.
»Ich muß einmal wieder Großstadtluft atmen,« meinte sie; »die Stille bei uns ist oft schaurig.«
Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war der Telegraphenbote unser häufigster Gast. Zuerst glaubte ich, ihres Mannes besorgte, sehnsüchtige Liebe käme in diesem Depeschenwechsel zum Ausdruck. Warum hatte sie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm gekommen war?
Da, eines Morgens, stürmte einer in unser Zimmer, die Haare zerzaust, die Augen rot unterlaufen, — der Gatte meiner Schwester. Vor seinen Verfolgern sollten wir ihn schützen, schrie er verzweifelt und barg den dunkeln Kopf in Ilsens Schoß, die mit erloschenem Blick auf ihn niedersah, die kleinen schwachen Hände auf seinem Haar. Noch am selben Tage kam er ins Irrenhaus. Er war tobsüchtig. Dann brach auch Ilse zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht über ihr Schicksal, sie war nur wie erstarrt. Auch als sich herausstellte, daß ein großer Teil ihres Vermögens am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war, zuckte sie nur die Achseln.
Um so furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der Verlust des Geldes, mit dem sie sich an der Neuen Gesellschaft beteiligt hatte, keine ernste Frage für sie gewesen. Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft zurück, eine des Fiebers.
»Wir müssen aushalten, Heinz, wir müssen!« sagte ich, und wenn eine seiner vielen Bemühungen, Hilfe zu schaffen, wieder vergeblich gewesen war, so trieb ich ihn zu immer neuen Versuchen an. Und hie und da glückten sie. Für ein paar Monate konnten wir weiter schaffen, konnten leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung schöpften, erschien sicherlich irgendein Hetzartikel in der Parteipresse gegen uns, oder in den Wahlvereinen wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Geschäftssozialismus wurde laut. Wir spürten das alles an der Abnahme der Abonnenten.
Wie kann ich Geld schaffen, — wie?! Die Frage beherrschte meine Gedanken immer mehr. Ein »freier« Schriftsteller war ich, — einer von den Tausenden, die ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber die Not heftet sich an ihre Füße, zuerst ein Zwerg, und dann ein Riese, der sie in seine Dienste zwingt.
»Lieber sterben!« stöhnte ich.
Doch dann sah ich mein Kind, — wie es blaß war, welch forschende Augen es auf mich richtete! Ich riß es in meine Arme:
»Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken für dich,« dachte ich verzweifelt.
Ich beschloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das war nichts Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universität bekommt ein Honorar für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er den Hörern vermittelt. Trotzdem widerstrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloser Scham trieb mir den Angstschweiß jedesmal auf die Stirn, wenn ich die Rednertribüne betrat. Ich hatte immer einen vollen Saal. Ich »zog«, — ich war eine Sensation. Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen ein paar Mark Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft, ohne sich etwas zu vergeben, die berüchtigte Sozialdemokratin ansehen, — mit dem Opernglas sogar. Meine Zuhörer trugen rauschende Kleider und viele Brillanten an den weißen Händen, mit denen sie Beifall klatschten, um zu erzwingen, daß ich mich vor ihnen verbeugte.
»Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden Saal zu reden und sich von diesem Publikum bezahlen zu lassen —,« sagte eine Besucherin, als ich gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren —.
Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die nicht mehr die meine war. Im letzten Wahlkampf hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und rauh geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine Worte so leicht und willig bis in jeden Winkel trug. Doch: — was bedeutete das jetzt?! Es war mehr verloren gegangen als der helle Ton meiner Stimme.
Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere. Zuweilen auf die Einladung irgendeines literarischen Vereines hin. In Hannover sagte mir der Vorsitzende:
»Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, daß Offiziere unter unseren Mitgliedern sind.«
In Köln hieß es: »Wir rechnen darauf, daß Sie auf unsere jungen Mädchen Rücksicht nehmen.«
Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können!
Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein Sohn mit überströmender Zärtlichkeit. Wie ich ihm fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch bedurfte er immer mehr der Freundschaft der Eltern! Über hundert Rätselfragen des Daseins begann er in seinen vielen einsamen Stunden nachzugrübeln. Und seine Phantasie, deren üppige Ranken ohne Stütze blieben, ohne die Hand des Gärtners, der sie zur rechten Zeit zu beschneiden versteht, überwucherten sein Gefühl. Er fürchtete sich oft vor seinen eigenen Träumen, so daß ich ihn des Nachts zu mir betten mußte.
»Du verzärtelst den Jungen —,« sagte Heinrich dann ärgerlich. Und für übertriebene Sentimentalität hielt er es, wenn ich von der Atmosphäre des Unglücks sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So lernte ich schweigen, auch über das, was mir am tiefsten das Herz bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bemächtigte sich meiner ein fremdes, böses Gefühl. Dann häufte ich auf meinen Mann alle Schuld.
In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er war voll aufrichtiger Teilnahme.
»Lange halte ich es nicht mehr aus,« sagte ich, den Kopf in den Händen vergraben. Er sollte nicht sehen, daß meine Kraft nicht einmal mehr ausreichte, um die Tränen zurückzuhalten.
»Ich wüßte eine Hilfe,« begann er dann langsam, »eine, durch die Sie frei würden und sorgenlos.«
Ich hob den Kopf; alles Blut strömte mir zum Herzen. Eine Hilfe! Er zögerte. Dann sah er mich an mit einem festen warmen Blick, der die Freundschaft langer Jahre in sich schloß und sagte, jedes Wort betonend:
»Trennen Sie sich von Ihrem Mann.«
Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, erhob er sich.
»Zürnen Sie mir?« fragte er.
»Nein,« antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend. Dann überliefs mich kalt. Auch jetzt lag die seine schlaff und kraftlos zwischen meinen Fingern.
Ich überlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal vor der kühlen Ruhe, mit der ich es zu tun vermochte. Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, der Last der Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich verdiente, würde ich, wenn auch noch so bescheiden, von meiner Arbeit leben können. Und ich wäre frei, — frei! Unwillkürlich streckte ich die Arme weit aus, als gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen Leidensgenossen, — den Vater meines Kindes! Ich fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden mußte. Und wie er mich liebte!
Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und wenn es nur wenige Veilchen waren. Das schlimmste suchte er mir aus dem Wege zu räumen, so lange es ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärtlichkeit für mich. Und mein Junge hing an dem Vater.
»Ich kann nicht, lieber Freund,« sagte ich mit einem wehen Lächeln, als Romberg wiederkam. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Sie müssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor allem!« bat ich. »Haben Sie mich nicht selbst verspottet, als ich einmal die freie Liebe predigte, weil ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch lösen zu können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf dem Standesamt nicht die stärkste Fessel ist, die sie unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die sich voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, ohne ihren Bund nach außen sanktionieren zu lassen. Nach kurzer Zeit sind sie bedauernswertere Sklavinnen geworden als die staatlich abgestempelten Ehefrauen. Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne abhängig, und jeden Tag konnte er sie verlassen. Darum klammerten sie sich an ihn, unterwarfen sich ihm, ertrugen seine Brutalität, seine Launen, seine Treulosigkeiten. Ich erkannte, daß die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau die Voraussetzung des freien Liebesbundes sein muß..«
»Nun — und sind Sie etwa wirtschaftlich abhängig?! Sie, mit Ihrer Begabung, Ihrer Arbeitskraft?« unterbrach er mich heftig.
»Nein, gewiß nicht,« entgegnete ich; »diese Fessel trag' ich nicht mehr, und keine Frau brauchte ihre Menschenwürde von ihr erdrosseln zu lassen, wenn sie arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, — zart und weich wie Seide, — die unzerreißbar sind. Mein Sohn liebt seinen Vater. Wie kann ich sein Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine Seele tragen?«
»Ein Kind überwindet rasch,« antwortete Romberg mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war, rückte plötzlich weit, weit von mir ab. Ihm von Heinrichs Liebe, von seinem Unglück und den anderen für mich unzerreißbaren Fesseln zu reden, wäre mir wie eine Preisgabe vorgekommen.
Und doch: irgend etwas mußte geschehen.
»Bald, — bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,« hatte ich immer wieder beim Abschiednehmen mein Kind getröstet.
»Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?« fragte es, und jedesmal wurde der Ausdruck seines Gesichtchens quälender.
Meine nächste Vortragsreise führte mich nach Leipzig. Dort wohnte einer jener stillen Genossen, der für den Revisionismus eine offene Hand zu haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse der Neuen Gesellschaft einmal schriftlich an ihn gewandt hatte, war seine Antwort ein unfreundliches glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die Wirkung einer persönlichen Unterredung. Es galt einen letzten verzweifelten Versuch.
Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick, wo ich, zitternd vor Scham und Angst, in des reichen Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, daß ich als Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum Sitzen nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß mir die Kniee bebten. Ich hatte einen Mantel an. Während der Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir nicht ab. Er ließ mich reden, ohne eine Miene zu verziehen. Und dann sprach er — langsam, jedes Wort betonend, sodaß es mir weh tat, wie lauter Schläge: »Ihr Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am Archiv bewiesen. Aber er ist ein schlechter Geschäftsmann, sonst hätte er das prosperierende Archiv, das ihm eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben, um ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen. Ich mag nicht Wasser in ein hohles Faß schöpfen.«
»Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, selber an, daß die neue Aufgabe, die er sich stellte, wichtig, ja notwendig war,« wandte ich ein.
»Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, um die Sache durchzuführen.« Damit erhob er sich.
Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Nun war der Moment, der einzige, der mir noch blieb. Ich war ja nicht gekommen, um einen Rechtsanspruch durchzusetzen, — ich mußte bitten — bitten. Ich fühlte die Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Nur nicht weinen, — jetzt nicht weinen, dachte ich und biß die Zähne aufeinander. Da aber sah ich plötzlich mein Kind vor mir — ganz deutlich: mit dem ernsten Blick und der sehnsüchtigen Frage auf den Lippen. Mein Kind! Glühende Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, der Atem stockte. Mit einer raschen Bewegung warf ich den schweren Mantel von mir und riß das Fenster rücksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen, dessen ich nicht Herr werden konnte, erschütterte meinen Körper. Dann wandte ich mich um und hob den Mantel von der Erde auf.
»So will ich gehen —,« kam es tonlos über meine Lippen, — ich konnte nicht bitten, ich konnte nicht!
»Setzen Sie sich!« — Es war wie ein Kommando. Die Erschöpfung, nicht der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen.
»Ich werde Ihnen helfen, — Ihnen persönlich, — dieses eine Mal —«
Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die kühle Hand mit meinen Fingern dankend umschlossen hatte. Die Hand des Mannes, vor dem ich mich so erniedrigt hatte!
Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem ich noch hergab, was ich eben empfangen hatte. Ein einziges Mal noch stieg unsere Hoffnung hoch auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt von einem, der helfen konnte, ein festes Versprechen. Er schloß darauf hin aufs neue mit dem Drucker ab und mit dem Papierlieferanten. — Aber die Leuchtkugel zerplatzte, und es wurde ganz, ganz dunkel.
Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, — rückhaltlose. Er gab sie mir mit einer Ruhe, von der ich glaubte, daß sie eine erzwungene sei: Alles war verloren. Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben würden. Um die allernächsten Zahlungen leisten und selbst leben zu können, gab es nur einen Ausweg.
»Wir verpfänden unsere Möbel —,« sagte Heinrich, mit einem Ton, als spräche er von dem Gleichgültigsten von der Welt.
Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem großen Stuhl gesessen, der mir immer wie etwas Lebendiges gewesen war, weil seine Lehne den müden Kopf stützte, seine Arme sich schützend an mich schmiegten.
Jetzt fuhr ich auf. »Das Letzte soll ich hergeben?! Und du meinst, ich täte das so kaltblütig wie du es aussprichst?!« rief ich, vor Entrüstung am ganzen Körper zitternd. »Das hier ist der Rest Heimat, den ich habe. Fast jedes Stück erinnert mich an den Vater, — die Großmutter, — an Georg, an meine Jugend —« Tränen erstickten meine Stimme.
Mein Mann maß mich mit einem kühl-erstaunten Blick. »Stellung, Vermögen, Familie, — alles hast du geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun jammerst du um diesen Trödel,« sagte er kopfschüttelnd. Mein Verstand gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als wäre ihm die schwerste Wunde geschlagen worden.
In der Nacht darauf öffnete sich die Tür zu meines Sohnes Zimmer, er stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals und schluchzte verzweifelt: »Warum weinst du nur so? Warum weinst du nur so?!«
In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer bringen mußte wie keines zuvor. Ich weinte nicht mehr. Ich war ganz still und ganz entschlossen. »Otto darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,« sagte ich zu meinem Mann. »Schon jetzt ist er wie vergiftet, — gar kein Kind mehr —«
Ich erwartete eine heftige Szene.
Statt dessen erhellten sich Heinrichs Züge. »Nun bist du wieder meine tapfere Alix« — damit drückte er mir die Hand, so herzlich wie seit Monden nicht — »natürlich ist das für alle Teile das Beste. Wir beide bauen ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo auf dem Land wieder ein starker, froher Junge ...«
Ich hörte seine Stimme nur noch wie ein fernes Brausen. So nahm er auf, wovon ich nie gesunden würde: — fast froh! Ich starrte ihn an; die schreckliche Erregung verzerrte mir sein Bild, als hätte ich ihn noch nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben verknüpft, — und eben noch den Gedanken an eine Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir schien, als wäre die Trennung vollzogen, lange schon, sonst hätte er in dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach, so nicht zu mir sprechen können, — so nicht!
Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit der Zeit, da ich ihn in dessen Hause traf, hie und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen war, mit einem Gefühl warmer gegenseitiger Anteilnahme waren wir uns immer begegnet. Jetzt leitete er eine Schule hoch oben im Thüringer Wald. Ich sprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns befanden. »Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, und ich will ihm das Schlimmste ersparen, will seine Jugend nicht hineinreißen in den Strudel unseres künftigen Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer das ich von Ihnen erwarte —,« hier zitterte mir die Hand und versagte den Dienst.
Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der mir wohltat: »Ihr Sohn soll uns von Herzen willkommen sein. Und kein drückendes Gefühl darf Ihnen daraus entspringen. Überlassen Sie ruhig der Zukunft die materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist, wird er unserer Schule mehr geben, als er erhält und sich durch Gold aufwiegen läßt..«
Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob es von Tag zu Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war so glücklich, daß ich auf einmal immer bei ihm war, mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm Geschichten erzählte wie in der schönen alten Zeit.
Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen Gesellschaft, mit einem kurzen Abschiedswort an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand von denen, für deren Überzeugung sie gekämpft hatte, ohne sich durch gehässige Angriffe und gemeine Verleumdungen vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als der rechte erschien, kümmerte sich um uns. Keinem konnte es ein Geheimnis sein, daß wir alles verloren hatten, aber kaum ein einziger hatte auch nur eine teilnehmende Frage danach. Wir waren abgetan, — fertig. Die Genossen gingen über uns hinweg wie die Soldaten im Krieg über die gefallenen Kameraden auf dem Schlachtfeld.
Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Gebärde. Große Schmerzen sind ein Palliativmittel gegen die kleinen.
Nur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß auch Romberg nicht wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Mann gehabt, bei der seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn zu offenem Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr nicht viel davon. Aber um mich mochte sich's gehandelt haben und darum, daß Romberg meinem Mann vorwarf, unser Unglück verschuldet zu haben, und dieser sich jede Einmischung in unser Tun und Lassen verbat. War das Grund genug, um mich gerade jetzt im Stich zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte ich geglaubt!
Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein Auferstehungsfest, das die geflügelten Musikanten der Natur mit hundertstimmigem Gesang begrüßten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken bedeckte die Sonne den Erdboden unter den Kieferstämmen. Wir gingen durch den Grunewald nach Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute! Jedes armselige Blümlein, das der karge Sand hervorsprießen ließ, bewunderte er. Und die Luft, die ein Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen durstigen Zügen.
»Ich hasse die Stadt,« sagte er mit der ganzen Energie seiner zehn Jahre. »Warum können wir nicht auf dem Lande leben?«
Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof zu sprechen, der Schule im Thüringer Wald. Mit stockender Stimme begann ich, und erzählte von dem freien Leben dort und den vielen Kindern.
Seine Augen glänzten. »Das denke ich mir riesig fein!« rief er.
»Möchtest du am Ende gar selber hingehen?« fragte ich zögernd.
Er machte einen Luftsprung. »Natürlich! Aus der scheußlichen Stadt heraus auf die Berge, — was gibt es Schöneres!«
Ich hätte mich freuen müssen, — aber die Tränen traten mir in die Augen. So würde ihm der Abschied nicht allzu schwer werden!
Ein paar Tage später reisten wir ab. Er war wie umgewandelt; in leuchtenden Farben malte er sich das Leben aus, das seiner wartete. Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich ansah.
»Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr, Mamachen? Und zu den Ferien komme ich immer nach Haus?« sagte er dann, im Gefühl, mich trösten zu müssen.
Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf durch dichte Tannenwälder. Mein Sohn verstummte und schmiegte sich an mich. Ob ihn nun der Abschiedsschmerz packen würde? Das Herz klopfte mir erwartungsvoll. »Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden Jungens,« meinte er.
Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie Felder strich und mit den kleinen runden Frühlingswölkchen spielte wie ein Kind mit dem Fangball, verlor er seine scheue Stimmung wieder.
»Wie wunder — wunderschön das ist,« sagte er mit einem Blick in die Ferne.
In stiller großer Einsamkeit reihte sich Berg an Berg; die kleinen grauen Menschenwohnungen verschwanden in den tiefen Tälern.
Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. Die Schüler betrachteten aus gemessener Entfernung den Ankömmling. Er umfaßte wie schutzsuchend meine Hand. Jetzt, — jetzt wird er bei mir zu bleiben verlangen! — Da trat ein brauner Bursche aus der Schar.
»Sieh mal die Wiese dort,« sagte er zu meinem Jungen und wies auf den gelbblühenden Abhang, der sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte; »willst du da hinunter mit mir um die Wette laufen?«
Und im selben Augenblick, — kaum daß er Zeit gefunden hatte, mir Mantel und Mütze zuzuwerfen, — flog er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich starrte ihnen nach. Mir gingen dabei die Augen über. Hinter den Fichtenstämmen, — weit, weit im Tal, erloschen sie.
»Er wird sich rasch zu Hause fühlen,« sagte der Direktor.
Er wird sich rasch zu Hause fühlen —!
Ich verließ Waltershof schon am nächsten Morgen. Jede Stunde, die ich blieb, kam wie ein verschlagener Räuber und stahl mir stückweise mein Liebstes.
Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein Sohn mit stürmischer Heftigkeit. Nun endlich wird es ihn übermannen —! Ich preßte ihn an mich, ich hielt ihn fest. Dieser Schoß hat dich geboren, an diesem Herzen wuchsest du empor, — schrie es in mir, — nur ein Wort der Liebe sag mir, ein Wort der Sehnsucht, und ich verteidige deinen Besitz gegen Hölle und Himmel! Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum standen die Lehrer und die Schüler —. Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und küßte ihn. Ich grüßte noch einmal lächelnd nach rechts und links. Dann zogen die Pferde an —
Damals, vor einem halben Menschenalter, als ich im Gewittersturm auf dem Berge stand, dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den Tod. Was hätte ich jetzt noch fürchten können?
In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben hüllte sich der blaue Frühlingshimmel. Milde lächelnd glänzte sein großes Sonnenauge. Und die kleinen weißen Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll staunende Kinder, ehe der Vorhang vor dem Märchenspiel aufgeht. Die Luft streichelte mit weichen Händen die Erde, als wäre sie sehr, sehr krank.
Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten Wohnung. Der große gelbe Wagen vor der Tür wartete darauf, ihn in die neue hinüberzufahren.
Ich sah mich um in den leeren Räumen: auf dem Boden lag Papier und Stroh und Scherben, in den Winkeln Staub in großen grauen Flocken. Zögernd, als hielte eine unsichtbare Hand mich zurück, öffnete ich die Tür zu meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen Füßchen war die Diele zertreten. Dunkel zeichnete sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett gestanden hatte; — wie oft, seitdem er fort war, hatte ich den Kopf in die leeren Kissen vergraben —
Eine Hand berührte meine Schulter.
»Komm, Alix,« sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme hinter mir. Auf seinen Arm gestützt, mit tief gebeugtem Nacken ging ich die Treppen hinab. Auf der Straße versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen so raschen, elastischen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte. Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie einer, der noch als Eroberer ins Leben tritt. Und waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken laut werden lassen. Heinrich blieb stehen.
»Hast du die Waffen gestreckt?!« fragte er stirnrunzelnd mit scharfer Betonung. »Ich nicht! Was uns nicht umbringt, das macht uns stärker.«
Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte schoß mir in die Schläfen.
Er hatte die Türe zu unserer neuen Wohnung mit Blumen bekränzen lassen. Daß ich sie nicht abriß, geschah nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen empfingen uns schon die stummen vertrauten Gefährten unseres Lebens. Aber an dem großen Schreibtisch stand jetzt nur noch ein Stuhl. Ich hatte ein eigenes kleines Zimmer.
»Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,« lächelte mein Mann, mit einem Blick auf mich, in dem eine ernste Frage lag. Ich blieb ihm die Antwort schuldig.
»Freust du dich denn gar nicht, daß all der Kram dir nun doch erhalten blieb?!« sagte er nach einer Pause in einem erzwungen leichten Ton. »Wie hast du darum gezittert, du armer Angsthase du!« Und wieder stieg mir das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich, daß ich so hatte empfinden können.
»Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar sein,« sagte ich leise, — es war keiner der alten Freunde, keiner der offiziellen Vertreter der »Brüderlichkeit« gewesen! — »Aber mehr darum, weil ich doch noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden habe, als um der Stühle und Schränke und Kisten und Kasten willen ...«
Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine der letzten Nummern der Neuen Gesellschaft aus dem Bücherschrank.
»'Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Mißhandlung, Entwürdigung, — ich wünsche, daß ihnen das Elend der Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer Wert hat, oder nicht, — daß er standhält ...'« las er. »Diese Worte Nietzsches habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe Überzeugung aussprechen.«
Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht überwinden. Es kam mir wie ein Verrat an meinem Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff, als ginge ich gestärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte mein Leid mit selbstquälerischer Wollust. Ich liebte es.
Aber — seltsam —: Je länger es neben mir herging, desto mehr wandelte sich sein gräßliches Medusenhaupt in das stille, ernste Antlitz eines Freundes. Es nahm mich bei der Hand und führte mich langsam, Schritt vor Schritt, — mein Herz ertrug es nicht anders, — einen hohen Berg hinauf. Und von da oben sah ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte seine großen Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse auf den Wegen — den Unrat auf den Straßen — sah ich nicht mehr.
Eines Tages trat mein Mann mit einem großen Strauß duftender Rosen in mein Zimmer.
»Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen bringen kann,« sagte er lächelnd. Nun erfuhr ich erst von seiner Arbeit, von den Plänen, die ihrer Verwirklichung entgegengingen, — rein geschäftlichen Unternehmungen, denen er neben seiner literarischen Tätigkeit all seine Kräfte widmete, ohne sich eine Stunde der Ruhe, eine Pause der Erholung zu gönnen, — nur das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu zahlen, uns eine Existenz zu gründen und — er sprach es so leise aus, als ob er sich scheue, daran zu rühren — »dir dein Kind zurückzugeben.«
»Heinz!« rief ich, — die Tränen stürzten mir aus den Augen, — ich griff nach seinen beiden Händen und drückte sie zwischen den meinen.
»Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!« Und vorsichtig, als wäre ich etwas sehr Zerbrechliches, zog sein Arm mich an sich.
Ich fuhr schon am nächsten Morgen nach Waltershof. Wie langsam schlich der Zug durch die blühende Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all den vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. Droben auf der Höhe, wo jetzt das Korn in hohen Garben stand und alle Ähren grüßten und nickten, als wüßten sie um mein Glück, kam mir mein Junge entgegengelaufen — —
Wie groß und wie braun, und wie stark und wie froh er war! Sonderbar, daß irgend etwas dabei mich schmerzte. Er küßte und herzte mich immer wieder, — aber nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach Anlehnung, wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die Mutter schmiegen. Ich sah ihn dann im Kreise der Kameraden auf der grünen Wiese, im Tannenwald: wie er seine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an unsere Straße, unsere enge Wohnung; — ich wagte noch nicht, ihm zu sagen, warum ich gekommen war. Und als ich am nächsten Vormittag dem Unterricht beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn Kinder beieinandersaßen und der Lehrer imstande war, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen, auf seine Interessen und Fähigkeiten einzugehen, — da dachte ich an die überfüllten städtischen Gymnasien mit all ihrem Gefolge von Krankheit und Laster und Stumpfsinn; ihre unglückseligen Opfer fielen mir ein, die den Martern des Geistes und Körpers den Tod vorzogen. Mich schauderte: hatte ich ein Recht, über mein Kind zu verfügen nach meinem Gefallen? Kein Zweifel: sein Instinkt hatte für Freiheit und Natur entschieden.
»Ich komme morgen nach Haus, und komme — allein,« schrieb ich an meinen Mann. »Otto ist ein selbständiger Mensch geworden, und ich habe hier gelernt, was keine pädagogische Buchweisheit mir hätte beibringen können: daß auch die Kinder sich selbst gehören, nicht uns; daß die Kindheit einen Wert an sich hat. Es mußte so sein, wie es ist. Wenn unser Sohn stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu bleiben, wird er vielleicht freiwillig zurückkehren ... Ich schreibe das Alles so hin, und die Worte sehen aus, als kosteten sie mich nichts. Ich glaube, ich brauche Dir nicht erst zu sagen, was ich überwinden mußte. Es wird noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe abgestreift haben werde, was jeder Liebe eigentümlich ist: den Willen zum Besitz. Seitdem Du mich fühlen ließest, daß auch Du unser Kind entbehrst, weiß ich: Du wirst Geduld mit mir haben.«
Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines Lebens bewußt: war ich schon so alt, um nur noch in philosophischer Ruhe seine Resultate zu ziehen? Um abseits zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld?
Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung zuging, einige ausschließlich Bildungszwecken dienende Vorträge im internen Kreise organisierter Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von der ich glaubte, daß sie mir wenigstens eine befriedigende Tätigkeit eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten die Partei und die Gewerkschaften, einem Beschluß des Mannheimer Parteitags folgend, den Bildungsbestrebungen tatkräftigeres Interesse zugewandt. Außer der Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und ähnlichen Einrichtungen in den größeren Provinzstädten, wo eine beschränkte Zahl ausgewählter Schüler systematischen historischen und nationalökonomischen Kursen regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen zugänglich waren, die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation nachweisen konnten. Die Lehrer der Parteischule waren Radikale strengster Observanz. Sie sprachen von »bürgerlicher« Wissenschaft, »bürgerlicher« Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartende in scharfem Gegensatz stünden. Sie waren Geist vom Geist des preußischen Kultusministers, der einen Privatdozenten abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In ihrem Kreise waren die kühnen Sätze gefallen, daß die Philosophie eine ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe und ihre Geschichte eine Geschichte bürgerlichen Denkens sei.
Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen aber darum nicht weniger starken Gegensatz, der auch in der Wahl ihrer Referenten zum Ausdruck kam. Schon als ich zum erstenmal sprach, — vor einer Zuhörerschaft von ein paar hundert Arbeiterinnen, — wurde mir erzählt, wie empört die führenden Genossinnen seien, daß man mich dazu aufgefordert habe.
Durch Fragen, durch Bitten um Ratschläge für ihre selbständige Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, und die mir persönlich zurückgebracht wurden, kam ich in Berührung mit Männern und Frauen, die noch nicht zu den »gehobenen Existenzen« gehörten. In der Nüchternheit des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste und Kämpfe entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen kennen. Es stand fast ausnahmslos unter dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an einem Inhalt, der über die Misere des Daseins hinaus stark und hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere kam vielen zum Bewußtsein, etwa wie ein Gefühl dauernden Frierens. Die Ideale des Sozialismus hatten, da ihre Verwirklichung so fern gerückt war, für das persönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren.
Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit mit den äußeren Erfolgen und den inneren Werten der Partei lag eine starke latente Kraft, die bereit war, jeden Augenblick alles Lastende, Hindernde fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie sich zeigte.
Nach einer meiner Versammlungen begrüßte mich Reinhard. Er war zuerst ein wenig verlegen, als ich aber harmlos und freundlich blieb, taute er auf. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen. »Ich bilde mir natürlich nicht ein, daß sie maßgebend sind, aber ich halte sie doch für Symptome.«
Er gab mir recht. »Wir befinden uns zweifellos in einer inneren Krisis,« sagte er, »die sich immer wieder nach außen bemerkbar macht. Jetzt beginnt der Zank schon wieder. Diesmal um die Frage der Budgetbewilligung. Sobald wir versuchen durch eine Politik, die immer mehr oder weniger auf Konzessionen beruht, Schritte nach vorwärts zu tun, Vorteile oder Einfluß zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken mit Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des Prinzips. Ich möchte wissen, was geschehen soll, wenn wir einmal in den Parlamenten eine Vertretung haben, mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das prinzipienfeste Neinsagen unseren Wählern gegenüber verantworten können? — Ich sehe schwarz in die Zukunft, Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich fürchte, wenn erst einmal unsere Alten tot sind, dann fällt die Partei auseinander.«
»Und wäre das wirklich so fürchterlich?« wandte ich ein. Er fuhr auf. Seine Augen blitzten mich an wie früher.
»Genossin Brandt!« rief er entrüstet. »Sollten die Leute recht haben, die von Ihnen behaupten, daß Sie nicht mehr die unsere sind?!«
»So —,« sagte ich gedehnt, »das also erzählt man von mir?! Und Ihnen erscheint es möglich, weil ich eine Spaltung der Partei nicht für den schrecklichsten der Schrecken halte?! Es zeugt für ein sehr geringes Vertrauen in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, wenn wir annehmen wollten, daß solch ein Ereignis einen mehr als vorübergehenden Nachteil nach sich zöge. Unser Ziel bleibt doch unverändert dasselbe, in wie viel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!«
Reinhards Gesicht färbte sich dunkelrot. »Sie scheinen ja ein solches Unglück fast zu wünschen!« sagte er mit verbissenem Grimm.
»Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,« antwortete ich. »Ich suche nur, Sie und mich von der Angst davor zu befreien. Dabei frage ich mich, ob es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und lähmender für die Aktion der Masse ist, wenn immer wieder um der äußeren Einheit willen Resolutionen angenommen werden, die für sehr viele nur auf dem Papiere stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft aufrecht erhalten wird, obwohl immer weitere Kreise von Genossen ganze Sätze daraus für unrichtig halten. Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine Spaltung, gehen dabei von einer ganz richtigen Empfindung aus: daß die innere Einheit die Voraussetzung der äußeren sein muß. Nur daß sie wie Kurpfuscher an den Symptomen herumkurieren.«
»Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu heilen?« Dabei sah Reinhard mich an, als erwartete er eine Offenbarung von mir.
Ich lachte. »Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben Sie, ich hätte es nicht schon längst auf allen Gassen ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube ich zu wissen. Die Übel, unter denen wir leiden, lassen sich alle auf eine Ursache zurückführen: die fehlende richtige Grundlage unserer Bewegung. Was bisher als solche galt, hat sich zu einem Teil als falsch oder nicht ausreichend erwiesen.«
Er machte ein enttäuschtes Gesicht: »Also ein neues Programm! Wenn es weiter nichts ist!«
»Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen Satz, der sich mir ins Gedächtnis geprägt hat,« fuhr ich fort, »'die theoretische Arbeit bringt mehr in der Welt zustande als die praktische; ist das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand'. Gerade wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast vergessen. Sie auch, wie ich sehe. Und doch glaube ich, hätten wir ein Programm, das alle inzwischen zweifelhaft gewordenen Theorien beiseite ließe, alle praktischen Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimgäbe und nur den Ausgangspunkt feststellte, — den Klassenkampf, — und das Ziel, — die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden weniger zerrüttende Kämpfe in unseren Reihen haben, und Millionen Außenstehender würden nicht Mitläufer, sondern Parteigenossen werden.«
»Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen Aufräumen den Klassenkampf nicht auch zum Fenster hinauswerfen,« spottete Reinhard mit einem Anflug von Ärger.
»Sie sind hellsehend, lieber Genosse,« entgegnete ich, »denn die Form, in die er vor einem halben Jahrhundert gezwängt wurde, ist freilich unbrauchbar geworden. Leute wie ich zum Beispiel haben keinen Platz in ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten es, daß wir aus reinem selbstlosen Edelmut in die Partei eintraten; wir blieben infolgedessen, als nicht recht dazu gehörig, unsichere Kantonisten in den Augen der geborenen Klassenkämpfer. Ich bin inzwischen schon für mich allein von dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen und habe gefunden, daß ich mit demselben Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich nicht abhängig von meiner Familie, also unfrei? Der hungernde Arbeiter sucht freilich in erster Linie Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige bürgerliche Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat, weil er mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach ich verlangte, als es mich in die Partei trieb; genau dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen, — lauter Abhängige, — lauter geborene Klassenkämpfer, die die Partei mit ihrem engen: ›die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein‹, mit der ›Diktatur des Proletariats‹ als notwendiges Befreiungsmittel zurückstößt, im besten Falle nur duldet ...«
Wir waren vor der Tür meiner Wohnung angekommen.
»Selbst wenn Sie recht hätten, — was ich nicht weiß —,« sagte Reinhard; »die radikale Tradition ist viel zu stark innerhalb der Arbeiterschaft, als daß solch eine Programmänderung möglich wäre. Mir scheint auch, es würde immer noch etwas fehlen —«
Ich nickte. »Es fehlt noch immer etwas, — ja —,« meinte ich nachdenklich. Dann trennten wir uns.
Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam ich keine Aufforderungen mehr. An meinen Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Erscheinen, ihr wachsendes Interesse zeugte dafür. Aber der Einfluß der Zionswächter des Radikalismus war stärker als sie.
»Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,« sagte mein Mann ärgerlich.
»Es ist vielleicht für mich das beste,« meinte ich. »Zuviel Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang hat das Fieber der Tagesforderungen sie immer wieder unterdrückt. Jeder denkende Mensch sollte eigentlich die Möglichkeit haben, sich hie und da von der Welt zurückziehen zu können, um zu sich selbst zu kommen. Trappistenklöster für Ungläubige, — das wäre eine erlösende Einrichtung.«
»Möchtest du den Schleier nehmen?!« fragte er, — etwas wie Besorgnis sprach sich in seiner Frage aus.
»Für ein paar Monate, ja!« entgegnete ich. »Um als ein starkes und frohes Weltkind zurückzukehren.«
Aber wenn ich ihn ansah, schämte ich mich, solche Wünsche zu haben. Er war abgespannt und müde. Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. So wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, daß das Mißlingen sich mit grausamer Hartnäckigkeit an seine Fersen heftete.
Die Sorgen, die er hatte von unserer Türe fernhalten wollen, krochen durch die Fenster herein; aber wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie neue Hindernisse nur immer neue Widerstände in ihm entwickelten, dann überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, ganz dicht, geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens ...
Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder. Ich mußte Geld verdienen. Und was dies Publikum verlangte: ein wenig Anregung, ein wenig Sensation, war ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter als sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was mir bei den Proletariern begegnet war, das fand ich in anderer Form wieder: wer nicht im Genußleben ertrank oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde, den beherrschte ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes Suchen.
Es war die Zeit, wo Fürst Bülow, in der Hoffnung auf diese Weise die Steuerforderungen der Regierung durchzusetzen, die unnatürliche Verbindung zwischen Liberalen und Konservativen herbeigeführt hatte. Wer noch vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich fühlte, mußte sich dieser Paarung schämen.
Die besten Elemente des Bürgertums waren politisch obdachlos. Ihr steuerloses Schiff näherte sich unwillkürlich wieder der Flut des Sozialismus.
»Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl jeder von uns an,« sagte mir ein junger Gelehrter in einer kleinen Universitätsstadt. »Und daß ihr ökonomisches Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein objektiv Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen die Reaktion auch die Hoffnung derer, die nur zusehen müssen.«
Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis der Notwendigkeit sauberer Wäsche und reiner Nägel eine Weltanschauung konstruiert und Rombergs Ausspruch, daß Bildung und Politik unvereinbare Begriffe wären, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte sichtlich zusammen.
Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen wuchs die Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei müßiger Stunden wurde die Kunst zu einer Angelegenheit persönlichen Lebens, — eine Kunst, die von den Göttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war, die den charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit allem aufprägte, — vom geringfügigen Gebrauchsgegenstand bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus einer Tradition, der man sich nur an jedem Feiertag erinnerte, wurde die Religion zu einer die Gemüter erregenden Bewegung; daneben drängten pädagogische und sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den Vordergrund, und neben den alten Werten der Schule, der Ehe, der Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet riesengroße Fragezeichen.
Als eine reaktionäre Masse wurde die Bourgeoisie nach altem Rezept von der Partei bezeichnet. Die Wirklichkeit strafte sie Lügen. Was ich sah, war wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten Dämme zu spotten schienen und sich nun wahllos, ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das neue Bett, um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu machen.
Ich fühlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen Erkenntnis, wie meine Hoffnung ihre Flügel regte und Überzeugungen, die im Sturm der Zweifel geschwankt hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen.
Aber es war, als stünde unser Leben unter einem bösen Zauber: Sahen junge Triebe der Freude mit einem hellen Frühlingslächeln aus dem Erdboden hervor, so prasselten Hagelkörner vom Himmel und schlugen sie grausam nieder.
Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme völlig. Was die Ärzte schon lange vorausgesagt hatten, geschah: von einer Tätigkeit wie der bisherigen konnte keine Rede sein.
Was nun? Ich saß vor meinem Schreibtisch, — einem ganz alten aus hellem Birnbaumholz mit schwarzen Säulchen, der früher irgendwo in einem Winkel gestanden hatte, — und lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zurück. Großmutters Stuhl! Mir war, als sähe ich sie vor mir: das schmale, dunkle Gesicht mit den großen Augen, und einem Lächeln um die feinen Lippen, das über alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel zu früh hatte ich sie verloren! Plötzlich fielen mir die Papiere ein, die ich von ihr besaß: Briefe, Tagebuchnotizen, Stammbücher. Sie hatte sie mir hinterlassen, mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus den vergilbten Blättern duftete der Frühling berauschend, und die Sonne schien bis tief hinein in das winterstarre Herz, und aus schweren dunkeln Wolken strömte warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand streichelte mich, als wäre auch ich krank, sehr krank.
Ihr Leben war voll stiller Kämpfe gewesen, und aus einem jeden war sie stärker hervorgegangen. Es hatte ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte ihr Freunde und Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust nur reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war sie einsam zurückgeblieben, zwischen lauter Fremden, und war doch nicht bitter geworden, und verstand auch den Fernsten und den Ärmsten. Nur eins überwand sie nie: das unverschuldete Elend in der Welt —.
Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres Daseins nach. Dabei entdeckte ich ein Gewebe feiner Fäden, das sich von ihr bis zu mir herüberspann, eine ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine eherne Gesetzmäßigkeit.
Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben mußte. Von früh bis spät arbeitete ich. Es war dabei sehr still um mich und in mir. Nur wenn ein Brief von meinem Kinde kam, — einer jener kurzen, frohen, lebensprühenden Zeichen seiner Jugendkraft, — nahmen meine Gedanken eine andere Richtung an. Aber sie trieben mir nicht mehr die Tränen in die Augen: denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch wenn er fern war. Meiner Großmutter Kinder waren ihr fern gewesen, wenn sie sie mit Händen hatte greifen, mit Augen hatte sehen können. Und auch daran war sie nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten.
Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine Wünschelrute. Sie schloß in meinem Innern lauter verschüttete Quellen auf.
Von dem glühenden Abendhimmel der klassischen Periode Weimars war der Großmutter Jugend umstrahlt gewesen; die geistigen Heroen des neunzehnten Jahrhunderts hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang der Vergangenheit entgegentrat, zu desto klareren Bildern schoben sich die scheinbar wirr durcheinanderlaufenden Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem Gesetz dieses großen Entwicklungsprozesses stand auch ihr Leben; das gab ihm seine Bedeutung, so eng, so still es an sich auch gewesen war.
Mein Buch erschien. Und plötzlich schien die Großmutter nicht nur für mich lebendig geworden. Sie stand da, mitten in der Welt und redete mit den Menschen. Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen lockte sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und dankten mir, als ob ich sie geschaffen hätte!
Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften; es war in dem Buch auch von Fürsten und Aristokraten die Rede, die keine Schufte waren. Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein? Oder stand ich den alten Genossen so fern? Erst allmählich fing ich an, mich selbst zu verstehen.
»Geht es dir so nahe, daß du nicht darüber zu sprechen vermagst?« fragte mich mein Mann.
»Es ärgert mich nicht einmal,« antwortete ich.
Sein Gesicht leuchtete auf: »So stehst du endlich über den Dingen und wertest die Menschen, wie sie es verdienen.«
»Du verstehst mich nicht ganz,« wandte ich ein. »Nicht nur weil ich weiß, daß sie mir in Wahrheit nichts anhaben können, gräme ich mich nicht mehr über Urteile wie diese, sondern weil ich sie verstehe —«
Er sah mich ungläubig lächelnd an.
»Ja, ich verstehe sie,« wiederholte ich. »Uns trennt ein unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. Wie die Genossinnen sich ständig über mein Äußeres ärgerten, — weil ich eben anders war als sie, — so muß der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen Anstoß nehmen.«
»Hm —,« machte mein Mann, »das klingt —«
»Sehr hochmütig,« vollendete ich. »Ganz gewiß! Und doch ist es weit von jedem Hochmut entfernt. Was ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht nur meinen Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr sklavisches Arbeitsleben erst möglich machten.«
»Folgerst du nun aus deiner Behauptung, daß Menschen wie du sich von der Partei fern halten müßten? Daß also der Satz: ›Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein‹ im Sinne der radikalen Genossen, die heute jeden Überläufer zurückweisen möchten, aufgefaßt werden darf?« fragte Heinrich interessiert.
»Damit würde ich mich selbst negieren,« rief ich lebhaft. »Ich folgere zunächst etwas rein Persönliches: daß ich den Genossen unrecht tat, wenn ich ihnen ihre Feindseligkeit zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer, allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war, wenn ich von ihnen Anerkennung, Verständnis, Anteilnahme erwartete. Sind sie uns denn in ihrer Masse persönlich anziehend? Stören uns nicht schon eine Menge bloßer Äußerlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?«
»Du vergißt, wie mir scheint,« warf Heinrich ein, »daß eine Reihe Akademiker ganz im Proletariat aufging —«
»Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch gebärden mögen, um den Anschein zu erwecken, es wäre so,« entgegnete ich. »Wenn ihre Kultur nicht nur Tünche ist, so rächt sich ihre Heuchelei in stillen Stunden bitter an ihnen. Weißt du —,« fügte ich langsam hinzu, »sobald ich mir Wanda Orbins früh gealterte, durchfurchte Züge vergegenwärtige, bin ich gewiß, daß sie empfindlich darunter leidet —«
Heinrich runzelte die Stirn: »Du gehst denn doch ein wenig weit in deinem Mitgefühl. Willst du vielleicht auch ihr Verhalten gegen dich beschönigen?«
»Beschönigen — nein; erklären — ja! Sie muß herrschen, um die Preisgabe der inneren Freiheit ertragen zu können. Infolgedessen beseitigt sie jeden, der ihr im Wege steht, — ganz abgesehen davon, daß ich ihrem fanatischen Radikalismus als Schädling erscheinen mußte!«
»Das Endresultat deiner Erwägungen,« sagte mein Mann mit einem leisen Spott im Ton der Stimme, »ist demnach ein erhaben christliches: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen —«
Ich hob abwehrend beide Hände. »Nein, nein, nein!« rief ich aus und stand auf, um mit raschen Schritten im Takt meines Herzschlages auf und ab zu gehen. »Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn je. Die tief eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist es ja, die uns zu so falscher Stellungnahme getrieben hat. Da ist zunächst die christliche Idee der Selbstaufopferung. Keiner von uns Überläufern, mich selbst eingeschlossen, hat sich nicht zuweilen mit einer Art pfäffischer Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht, hat sich nicht innerlich vorgerechnet, was er alles um der Sache willen aufgab, hat sich nicht das Leben in dem Gefühl verbittert, daß die Genossen dieses Opfer nicht zu würdigen verstehn. Wenn ich schon als Kind außerstande war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, — nicht nur, weil er als Gottessohn die Gewißheit ewigen Lebens besaß, sondern weil es mir nicht so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens für die Erlösung der ganzen Menschheit zu sterben, — so weiß ich jetzt, daß unser Opfer gar kein Opfer ist, sondern im Gegenteil Selbstbehauptung. Es wäre ein Opfer gewesen, — und eine Sünde wider den Geist wie jedes ›Opfer‹, — wenn ich mich nicht zum Sozialismus bekannt hätte. Seiner Überzeugung nicht folgen, die Stimmen seines Innern nicht hören wollen, — das allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher Sünden schuldig gemacht: als ich mich einmal Wanda Orbin unterwarf, als ich Forderungen meines Geistes und Herzens zum Schweigen brachte.«
»Auch des Herzens?« unterbrach mich mein Mann.
»Weißt du nicht mehr, — damals, — als meine Sehnsucht nach dir rief — und ich sie unterdrückte!«
Er nickte mit gesenktem Kopf. »Ich habe mir schweren Schaden getan,« bekannte ich, als spräche ich jetzt nur mit mir selber, »die Liebe ist eine Quelle der Kraft. Daß so viele Frauen so klein sind und so armselig, liegt wohl nur daran, daß sie sich selbst verurteilen, daneben zu stehn, während die anderen die freien Glieder in ihrem brausenden Strome baden.«
Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen Zügen. »Hast du — noch andere Opfer gebracht? Herzensopfer — meine ich,« fragte er langsam. Ich preßte die Handflächen krampfhaft aneinander.
»Mein Kind —,« kam es mühsam über meine Lippen.
Wir schwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal mit der Hand über die Stirne streichen; mit schweren, grauen Schwingen strichen die Vögel meiner Schmerzen mir um das Haupt.
»Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, — verzeih!« knüpfte Heinrich das Gespräch nach einer langen Pause wieder an. »Von der christlichen Idee der Selbstaufopferung gingst du aus —«
»Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irre geführt,« fuhr ich fort, »aber mit den anderen führen wir die Massen irre: mit der Gleichheit aller im Sinne gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit der Brüderlichkeit im Sinne gegenseitigen Verständnisses. Als ob die Natur, die jeden Grashalm vom anderen unterschied, den Menschen nicht eine noch reichere Mannigfaltigkeit ermöglichen sollte; — als ob wahre Brüderlichkeit nicht immer seltener, dafür aber immer tiefer würde, je mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken respektieren, statt sie niederzureißen, — Distanzen anerkennen, statt sie mit Phrasen zu überbrücken, — kurz, im Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom Einförmigen zum Vielfachen schreitet, — das wäre unsere Aufgabe! Statt dessen ziehen wir unter der Maske der Brüderlichkeit den Dünkel groß, rotten die Ehrfurcht vor den Heroen des Geistes aus, so daß schließlich jeder Hans Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn der Forderungen, das die Revolution vom Christentum übernahm und der Sozialismus von beiden, wird nur eins übrig bleiben: die Freiheit!«
Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns. »Vielleicht begegnen wir einander allmählich in unseren Gedankengängen und könnten dann wenigstens noch zu jener seltenen Brüderlichkeit gelangen —,« sagte Heinrich schließlich.
Mit einer raschen Bewegung näherte ich mich ihm und legte den Arm um seinen Hals. Der Klang seiner Stimme tat mir zu weh. Er löste sich sanft aus der Umschlingung. »Nicht so, Alix —,« sagte er leise; »weißt du noch, wie du einmal zu mir sagtest: der Stunde sollten wir warten, der wir gehorchen müssen?! — Ich fürchte, sie ist noch fern —!« Und in ruhigem Gesprächston fuhr er fort: »Du wirst dich darüber in keiner Täuschung befinden: Alles, was du sagtest, ist für die heutige Sozialdemokratie Ketzerei.« Ich nickte.
»Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die losen Gedanken sich zur Kette zusammenschieben, so werde ich den Schatz nicht in meine Truhe legen.«
»Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu fabrizieren?!«
Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der Kampflust strömte mir durch die Adern und bewies mir, daß ich lebte. »Auch dann!«
Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von einem gut Teil äußerer Sorgen. Und jetzt erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht mehr hinter mir stand, fühlte ich alle Striemen, mit denen ihre Peitschenschläge meinen Körper gezeichnet hatten. Ich sah die Blässe meiner Wangen, die Falten um meinen Mund, die müden Augen. Und doch wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor mir, und ich wollte nicht häßlich sein, denn eine tiefe, tiefe Sehnsucht trieb mir heißes Blut durch die Adern.
Ich ging in ein Sanatorium in die Nähe von Dresden, um gesund zu werden. Unter dem Menschenschwarm aus der alten und neuen Welt, der sich dort ein Stelldichein zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten: Hessenstein. Meinen alten Tänzer, einen der glänzendsten Kavaliere der Westfälischen Gesellschaft, hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem gebeugten Rücken kaum wiedererkannt.
»Merkwürdig,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »Sie sind immer noch Alix von Kleve! — Eben las ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie auch innerlich noch Alix von Kleve sind, oder — besser gesagt — daß Sie heimkehrten.«
»Wie meinen Sie das?« fragte ich lächelnd. »Ich brauchte nicht heimzukehren, denn ich war immer bei mir!«
»Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, Luxemburg, und wie die Zierden der Partei alle heißen mögen, gehörten?!«
»Ich war und bin Sozialdemokratin, — damit gehöre ich meiner Überzeugung, nicht den Menschen,« antwortete ich merklich kühler werdend.
»Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und konnten dies schreiben —,« er zog das Buch von der Großmutter aus der Tasche, »— das Werk eines vollendeten Aristokraten —«
»Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr von Hessenstein,« unterbrach ich ihn.
»Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nachgehangen?!« meinte er.
Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem teilnehmenden Menschen von meinem Leben zu erzählen.
An einem kühlen Herbsttag, — dem letzten vor meiner Abreise, wanderten wir auf die Heide hinaus. »Ich liebe sie,« sagte Hessenstein, »sie geht mit so stiller Würde dem Winter entgegen, ohne sich durch überflüssige Stürme über die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.«
»Nun weiß ich endlich, warum ich sie nicht liebe,« antwortete ich; »diese Ergebung in das Schicksal wird mir immer fremd sein. Ich würde mich an den Sommer klammern, wenn es Winter werden wollte.«
Er sah mich kopfschüttelnd an: »Nach all Ihren Erfahrungen diese Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer nutzlos waren?!«
Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt hatte oder nicht, hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich überlegte: all die Reformen, für die ich in hartem Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so welterschütternd vor. Aber immerhin; sie hatten sich durchgesetzt. Die Dienstbotenbewegung war im Gang, die Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle der Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir fast den Hals gekostet hatte, war vor ein paar Jahren geschaffen worden und funktionierte vortrefflich. Und wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben? Ich sah wieder glänzende Augen auf mich gerichtet, fühlte den Druck schwieliger Hände, hörte den Siegesjubel mich umbrausen —.
»Nein,« sagte ich hell und laut, »meine Arbeit ist nicht nutzlos gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht die Luft in Schwingung versetzt, keinen Gedanken, der sich nicht weiterpflanzt! — Und daß ich in der Partei aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an meiner Überzeugung irgend etwas geändert werden, wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn sie, — was ich nicht für unmöglich halte, — mich noch einmal gehen heißt? Gewiß, ich zweifle an der Richtigkeit mancher ihrer Programmforderungen, ich halte ihre Taktik sehr oft für falsch, ich sehe, daß sie von hundert Schönheitsfehlern behaftet ist, — aber all das vermag die Hauptsache nicht zu erschüttern. Der Sozialismus ist das einzige Mittel, um die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei auf die erste Stufe der Kultur zu erheben —«
Er legte beschwichtigend seine schmale, blaugeäderte Hand auf die meine. »Sie sind in keiner Volksversammlung,« sagte er; »sie brauchen nicht so starke Farben aufzutragen —«
»Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster Überlegung,« fuhr ich fort. »Oder ist es etwa keine Barbarei, daß die überwiegende Masse der Menschheit, daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis zum Greisenalter zu härtestem Frondienst verurteilt sind, daß sie von dem einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung der Persönlichkeit zur höchsten Potenz ihrer Leistungs- und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt und des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des Menschen von den blinden Gesetzen des Schicksals, die vollkommene Unterjochung der Materie unter den Geist, — das ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft aber wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung erscheinen.«
Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben von der Heide in den herbstbunten Wald schritten, sprach er wieder. »Ich bewundere Ihren Glauben. Sollte wirklich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel solchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings sträflich, sich ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!«
»Ich sehe zunächst kein anderes,« antwortete ich. »Freilich: ein aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas wie eine regulative Idee. Im übrigen: ich schwöre ja nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, daß sie einmal durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber das Ziel ist für mich unverrückbar.«
Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. »Sie gehen nach Java zurück?« fragte ich, ehe wir uns trennten. »Nein,« entgegnete er. »Dreizehn Jahre habe ich da unten gelebt, — eine böse Zahl! — Ich bin dabei ein reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt will ich —,« er schürzte in bitterer Selbstverhöhnung die Lippen, »— mein Leben als Europäer genießen. Sie sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist keine zuverlässige Grundlage des Glücks.«
»Glücklichsein — im Sinne der Befriedigung unserer Triebe ist doch auch nur ein Herdenideal. Wessen Leben es ausfüllt, der ist entweder ein Schwächling oder ein Greis —«
Er drückte mir die Hand. »Sie sind eine merkwürdige Frau. Vielleicht komme ich nach Berlin und lerne auf meine alten Tage noch leben. Nur eins geben Sie mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt, daß Sie das Glück ganz auszuschalten vermögen, und — wenn nicht — was verstehen Sie darunter?«
Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage wie diesem mit dem Geliebten im Wald, — die Sehnsucht packte mich, so heiß, so stark, daß ich erschauerte. Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir stand, hätte ich nicht sagen können, was mich bewegte. »Kampf, — Kraftentfaltung, — Widerstände beseitigen, — sie aufsuchen, wenn sie sich nicht von selbst ergeben, — darin kulminiert das Lebensgefühl der Starken,« sagte ich.
Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden, mit gebeugtem Rücken, sehr müde.
Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger als sonst. Ich dachte an Heinrich. Seine Lebensauffassung war's, der ich Worte geliehen, an der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die nun wie ein Fluidum in meine Seele geströmt war. Ein Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit überkam mich, das ich noch nie empfunden hatte, — am wenigsten dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt, unzertrennlich waren. Vielleicht, daß Freunde so miteinander leben und arbeiten können; — Liebende nicht, sicher nicht! Aber sind es nicht die besten Ehen, die zur Freundschaft werden? Oder ist das nicht auch eine jener alle Natürlichkeit knechtenden Anschauungen, die wir armen Menschen uns von der Moral des Christentums einpauken ließen, einer Moral, für die die Sinne und die Sünde identisch waren, der ihre Überwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe ist der Bund zweier Liebenden; wo sie zur bloßen Freundschaft wurde, sind die Sinne tot oder äugen sehnsüchtig nach anderer Befriedigung.
Die Ehe von einst beruhte auf der Autorität des Mannes gegenüber der Frau, der Autorität der Eltern gegenüber den Kindern, — ein Staat im kleinen mit Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualitäten einander gegenüber. Das Leben von einst läßt sich ihnen wohl noch aufzwingen, aber sie zerbrechen daran. Zur Herdflamme wird die Liebe nicht mehr. Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen des Lebens!
Für die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit. Sie wächst mit dem Pathos der Distanz.
Wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Male liebt, wagte ich kaum mir selbst zu gestehen, was ich fühlte. Als mein Mann mich am Bahnhofe empfing und mir die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Züge musterte und die Haare anders zu stecken versuchte. — Er war jetzt immer so förmlich, so ritterlich zu mir! Ob ich am Ende zu alt war: — Zweiundvierzig Jahre! In Paris hatte ich Frauen gesehen, die älter waren als ich und doch noch schön. Freilich: das Leben hatte mich gezeichnet! — Ganz heimlich — ich hätte mich sonst vor ihm zu sehr geschämt! — fing ich an, mich mehr zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die Form meiner Hüte sorgfältiger auszuwählen. Ich verschwendete fast. Ganz, ganz in der Ferne sah ich einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch lag er im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren Erde. Aber meine Sehnsucht trog mich nicht: er mußte kommen.
In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee um die Schultern, trat das neue Jahr seine Herrschaft an. Gleichgültig sahen seine kalten Augen über die Menge hinweg, die jammernd die Arme zu seinem Thron erhob.
Die Not war groß. Brot und Fleisch waren teuer, und für die Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es keine Arbeit. Der Winter trieb die Arbeitslosen in Scharen in die Wärmehallen; vom frühen Nachmittag an drängten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen. Wer in ihre Nähe kam, den trafen Blicke, in denen der Haß gegen die Herrschenden, der Groll mit dem Schicksal flammte. Das waren keine Almosen heischenden Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick Ergebenen.
Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die Säle, um gegen eine Politik zu protestieren, die zwar mit den Insignien des Konstitutionalismus prunkte, aber nur ein Werkzeug des Absolutismus war. Es wußte von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es hatte erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion machtlos war, daß die eiserne Hand Preußens auf ihm ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es erkannte, daß es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die feste Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen hielten sie besetzt, bereit, nur über ihre Leichen den Weg frei zu geben.
Der erste Akt des Dramas begann.
Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedrängte Menschenmasse. Polizisten zu Fuß und zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende, Männer, Frauen, Kinder. Sie warten. Sie besetzen die Auffahrt des gegenüberliegenden Kunstgewerbemuseums. Sie halten Umschau von oben. Und plötzlich biegt in scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz Albrechtstraße. »Der Reichskanzler!« gellt es laut. Die Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, eine einzige dunkle Welle. Und brausend tönt es um ihn: »Hoch das freie Wahlrecht!« Dann wieder Stille. Sie wartet weiter.
Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauses erscheint Fürst Bülow zur Beantwortung des freisinnigen Antrags: Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den preußischen Landtag. Mit unterschlagenen Armen, ruhig und selbstbewußt, den harten Ausdruck geborener Herrscher auf den Zügen, sitzt die Mehrheit vor ihm. Sie weiß, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist ein Erwählter des Kaisers, nicht des Volkes, und der Kaiser ist der Ihre.
»... Für die Königliche Staatsregierung steht es nach wie vor fest, daß die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen dem Staatswohl nicht entspricht und daher abzulehnen ist. Auch kann die Königliche Staatsregierung die Ersetzung der öffentlichen Stimmabgabe durch die geheime nicht in Ansicht stellen.«
Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Weltmannes, ohne das verbindliche Lächeln des Diplomaten, klingt die Erklärung durch den Saal.
Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen; hart schlägt ihr Tritt auf den Asphaltboden auf, Pferdehufe klappern dazwischen, — die Begleitung zum Text des Kanzlerliedes.
Das Volk zieht sich zurück.
Zwei Tage später. Ein heller Wintersonntag. Mittags Unter den Linden das gleiche Bild wie immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere und Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Kaffees neugierige Sonntagsbummler.
Wir gehen langsam dem Schloßplatz entgegen. Schutzleute erscheinen. Aus allen Nebenstraßen blitzen ihre Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem Museum, am Dom und rings um das Schloß — lauter Pickelhauben. Mit klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und glänzend, eine Augenweide für alle Farbenfrohen. An der Kreuzung der Friedrichstraße stockt der Zug der Soldaten, ein anderer überschreitet seinen Weg, ein einförmig dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der Stadt kommen, wo heute die Wahlrechtsversammlungen tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es ist, als ob er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe.
Da — Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger stutzen; drei gelbe Automobile rasen vorbei, dem Schlosse zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein Gruß, alles bleibt still, — wie benommen.
Und plötzlich, als hätte die Erde sie ausgespieen, wimmelt es auf der breiten Straße von Menschen; im selben Augenblick bildet sich vor dem Schloß eine Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mißt ihre Gegner mit dem spöttischen Blick der Überlegenheit: Wenn wir wollten —! Aber sie wollen nicht. Sie haben stärkere Mauern zu stürmen.
Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie schwellen an. Sie begleiten den gleichmäßigen Tritt Tausender: — soweit das Auge die Friedrichstraße hinunter gen Süden reicht — ein Meer von Menschen. Es überflutet die Linden. Rechts und links weichen die Spaziergänger zurück. Noch nie hat die Allee der Fürstentriumphe solch einen Aufzug gesehen! Eine Schwadron Berittener sprengt den Demonstranten entgegen, mitten in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen ängstlicher Weiberstimmen, — dann gewitterschwangere Stille.
Einsam liegt das Königsschloß. Leer gefegt ist der weite Raum ringsum. Schwer hängt die Kaiserstandarte in der unbewegten Luft. Hier hält das Leben seinen Atem an.
Aber ringsum, von Norden und Osten, von Süden und Westen, strömen sie jetzt herbei in hellen Scharen. Sie singen. Niemand hat den Taktstock geschwungen, sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille gestürmt hat und die Barrikaden: die Marseillaise. Es schlägt gegen die Mauern der Kirchen und der Paläste, — und ihr Echo muß es wiedergeben. Es braust sieghaft hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. Hoch über dem Königsschloß fluten seine Töne zusammen, — es klingt wie das Klirren scharfer Klingen, — wie Wotans gespenstisches Heer.
Und nun hüllt der Abend die Stadt in seinen dunkeln Mantel. Der Gesang verstummt. Das Pferdegetrappel der Polizisten, das Geschrei der Verfolgten tönt nur noch von weit her.
Mir aber ist, als sähe ich in einen unermeßlichen Saal. An seinen Wänden prangen die Bilder verflossener Jahrhunderte: die Geschichten von den Königen und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn und Fürsten, Priester und Propheten. In der Mitte aber auf goldenem Stuhl thront Er. Um das Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenschein; die Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, — die Weltenkugel; in der rechten das Zepter, — eine Peitsche, um Nacken zu beugen, Widerspenstige zu zähmen; auf der Brust ein großes leuchtendes Kreuz. Ich staune ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns tot ist, umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein Glanz erhellt, erscheint das Licht des Tages grau und kalt.
Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir überwinden müssen.
Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich in einem Restaurant der Friedrichstadt in der Nacht nach den Wahldemonstrationen zufällig zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, verscheuchte jede Müdigkeit. Große Ereignisse lösen die Lippen. Auch die Kühlen waren warm geworden. Man diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung der Straße, über die künftige Entwickelung der Bewegung, über die Möglichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich nicht um die Aufrichtung des Zukunftsstaates, sondern um die Niederwerfung der Junkerherrschaft handelte, das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die unsicher abseits standen, mobil zu machen. »Ein Riesenkampf gegen die Reaktion, — das ist's, was die stagnierenden Gewässer in Fluß bringen würde!« sagte einer.
»Er würde die Geister scheiden, wie nichts zuvor —,« ergänzte enthusiastisch ein anderer.
»Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen Wahlrechts für den preußischen Landtag solch weltbewegende Kräfte entfesseln könnte?« fragte ich. Mein Spott rötete die Gesichter der Begeisterten noch mehr.
»Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur Stummheit ergriffen!« meinte vorwurfsvoll mein Nachbar.
»Ich bin es noch,« antwortete ich; »mir war, als hätte ich wirklich den Flügelschlag der neuen Zeit gefühlt. Ich fürchte nur, sie rauscht an uns vorüber.«
»Das aber liegt doch an uns!« rief über den Tisch herüber ein jungem Literat, der darauf brannte, sich die politischen Sporen zu verdienen. »Wir müssen sie festhalten, wir müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist.«
»Womit, wenn ich fragen darf?« —
Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander: »Durch die Aussicht auf eine wahrhaft liberaldemokratische Ära,« — »auf wirtschaftliche Reformen großen Stils,« — »Verminderung der Steuern,« — »der Militärlasten,« — »Trennung von Kirche und Staat —«
»Lauter Einzelforderungen, die große, heute noch indifferente Massen kaum begeistern, die heterogene Elemente nicht zusammenschweißen werden, die, vor allen Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,« sagte ich ruhig.
»So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!«
Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespräch Fragen berührte, die mir sehr nahe gingen, überkam mich oft eine gewisse verlegene Unbeholfenheit. »Stünde ich vor einer Volksversammlung, so würde es mir leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen und — lächelnden Mienen,« meinte ich.
»So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,« sagte mein Nachbar sichtlich belustigt; »wir sind die letzten Gäste, beherrschen also im Moment die Situation. Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das Wort.«
Ich sah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu. Ich klammerte meinen Blick an den seinen und erhob mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal klar vor Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. — Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Und doch fühlte ich, es mußte sein. Nicht um dieser Tafelrunde willen, — sondern meinetwegen. Der Gedanke zerflattert, wenn er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird.
»Mir scheint,« begann ich zögernd, »daß es nicht so sehr darauf ankommt, einzelne praktische Ziele zu setzen. Das haben die Parteien schon längst getan und sind über die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle großen entscheidenden Weltbewegungen sind von einem Geist getragen worden —« »Und die materialistische Geschichtsauffassung?!« unterbrach mich ein Genosse.
»Von einem Geist —,« fuhr ich unbeirrt fort, »der sich selbstverständlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen heraus entwickeln konnte und immer erst dann entstand, wenn der Widerspruch der Gegenwart zur Vergangenheit überall schmerzhaft fühlbar geworden war. Das gilt für das Christentum, — den Muhamedanismus —« »die Revolution,« rief einer dazwischen.
»Nein,« antwortete ich. »Es gibt Zeiten, in denen der Geist der Verneinung, wie ich ihn einmal nennen will, nicht zu reinem, vollem Ausdruck kommt, wo er nur beschränkte Schichten des Volkes ergreift, — wie zur Zeit der Renaissance, der Revolution, — und wo er darum schließlich gezwungen wird, mit dem Geist der Vergangenheit zu paktieren. So baute die Renaissance christliche Kirchen, und die Revolution übernahm die Phraseologie des Christentums. Auch wir versuchen mit jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere an die Bemühungen, die Kirche zu modernisieren, an das Bestreben, in der Partei die Ethik Kants für den Sozialismus in Anspruch zu nehmen.«
Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter Kantianer, und vergaß im Eifer des Widerspruches die von ihm selbst gewollte parlamentarische Ordnung.
»Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen Herkunft losgelöst, ist tatsächlich der dirigierende Geist, auf den Sie offenbar hinauswollen,« rief er.
»Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser transzendentalen Herkunft nicht loslösen läßt, weil er Geist vom Geist des Christentums ist, weil wir auf Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, daß es ein allgemein gleiches, verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt, weil nicht einmal zwischen Einzelindividualitäten eine Äquivalenz der Handlungen besteht —«
»Ich höre Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!« spottete jemand. Die anderen lächelten vielsagend.
»Sie haben mir vorgegriffen,« entgegnete ich ruhig. »Ich hätte den Namen des Mannes genannt, der zwar nicht der Erlöser, wohl aber sein Prophet sein kann.«
»Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,« hörte ich entrüstet rufen; »wie vermögen Sie Ihre sozialdemokratische Gesinnung mit dem Nachbeten Nietzschescher Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine Vergötterung der ›Herrenmenschen‹, an seine Verhöhnung jedes ›Sklavenaufstands‹!«
»Diesen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere Sie demgegenüber zunächst nur daran, daß es derselbe Nietzsche war, der anerkannte, daß die einzelne starke Individualität am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft sich erhalten und entwickeln könne. Aber diese Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht weiter darauf einzugehen brauche. Natürlich gebe den Nietzsche preis, der unsere große soziale Bewegung weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann das um so leichter, weil er unbewußt selbst im Flusse dieser Bewegung schwamm, weil er dem Sozialismus das gab, was wir brauchen: eine ethische Grundlage.«
Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen, aber jetzt, da ich mir selbst immer klarer wurde, störte mich das nicht mehr.
»Alle seine großen Ideen leben in uns: der Trieb zur Persönlichkeit, die Umwertung aller Werte, das Jasagen zum Leben, der Wille zur Macht. Wir brauchen die blitzenden Waffen aus seiner Rüstkammer nur zu nehmen, — und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des größten Glücks der größten Anzahl, — an das ich glaubte, wie Sie alle, — schaffen wir eine Gesellschaft behäbiger Kleinbürger.... Und spüren Sie den Geist der Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist und vorwärts will? Kunst und Literatur, Wissenschaft und Politik setzen ihr Nein der Vergangenheit entgegen, die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend war, — Unterwürfigkeit, Demut, Ergebung in das Schicksal, Ungehorsam gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen Obere es fordert, — erscheint uns mindestens als Schwäche, wenn nicht als Unrecht. Der Glaube an die gottgewollten Zustände von Armut und Reichtum, von Herrschaft und Dienstbarkeit ist weit über die Kreise der Partei hinaus zerstört. Und mit alledem, das wir unbewußt und bewußt von uns geworfen haben, panzert sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert Jahren unterwarf die Moral des Christentums die heidnische Welt. Vergebens hat die Renaissance und die Revolution sich gegen sie empört, — die Zeit war noch nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat ihr den Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, so würden sich vor ihr die Feigen von den Mutigen, die Schwachen von den Starken sondern, und alles würde ihr zuströmen, was jungen Geistes ist, was Zukunft in sich hat. Den Weg zu unserem Ziel finden wir nur, wenn die Idee der ethischen Revolution der Idee der ökonomischen Umwälzung Flügel verleiht....«
Die Türe ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte mißmutig die seßhaften Gäste. Ich erwachte wie aus einem Traum. Die anderen blieben stumm. Ob aus Überraschung, aus Empörung, aus Müdigkeit? »Ich möchte heim,« sagte ich leise zu meinem Mann. Wir gingen allein und schweigsam nach Hause.
Ich hörte danach, daß man mich verspottete: Die Sozialdemokratin und Verkünderin der »Herrenmoral«! Mir schien, als gingen mir die Genossen noch mehr als sonst aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht.
Ein feuchter Märzwind strich durch die Straßen. Die Bäume und Büsche zitterten in seiner Umarmung, denn er flüsterte ihnen vom Frühling die frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein weicher Atem. Hatte ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie alte Leute grüßen würde: versunken in Erinnerungen? —
Ich saß am Fenster und las meines Sohnes Briefe. Seit einiger Zeit schrieb er mir oft: Seiten und Seiten voller Fragen und erregter Geständnisse. Zum erstenmal stand sein junger Geist in offenem Kampf mit der Wahrheit und den Autoritäten. Und er unterwarf sich nicht. Er war mein Kind.
Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu zeigen, was er schrieb. Wir waren früher heftig aneinander geraten, weil ich schon des kleinen Kindes Selbständigkeit respektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfstein würde es sein auch für unsere Beziehungen. Ich liebte meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer als zu jener Zeit, da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um Unterwerfung ertragen zu können. Wenn er das Kind nicht verstand, so würde er auch mich nicht verstehen. Wieder aneinander gebunden sein, so daß jeder selbständige Schritt des einen den anderen ins Fleisch schneiden muß; die Blume der Liebe, die nichts als der Persönlichkeit reichste Entfaltung ist, abpflücken, nur damit sie die Brust des anderen schmückt, zu frühem Welken verurteilt, — das vermochte ich nicht mehr —
Es läutete draußen, lang und heftig. Ich sprang auf, beide Hände auf das wild klopfende Herz gepreßt. Wer lärmte zu früher Morgenstunde so ungeduldig an der Türe? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins Zimmer flog es herein wie ein Wirbelwind, und zwei Arme umschlangen mich, und ein glühendes Gesicht mit zwei glänzenden Augen hob sich zu mir empor. »Mein Kind! Mein Kind!« —
Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. »Davongelaufen bin ich — bei Nacht und Nebel, — ich hielt's nicht länger aus,« sprudelte es hervor, atemlos, triumphierend.
Ich hörte kaum, was er sprach, ich sah nur, daß er da war, wirklich da war!
Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner Versunkenheit. »Der Vater!« rief ich angstvoll und legte wie schützend den Arm um meinen Sohn. Der aber riß sich los, lachte mich an und lief mit einem: »Ich fürchte mich nicht!« dem Kommenden entgegen.
Ich stand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wortwechsel, dann ein langes, ernstes Gespräch. Frage und Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins Zimmer. »Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten müssen,« lächelte mein Mann, »und heute soll für uns drei ein Feiertag sein.«
Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die Kiefern standen schwarz gegen den hellen Himmel, und lichtgrün schmiegten sich die Büsche ihnen zu Füßen. Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit voraus sprang unser Sohn.
»Weißt du noch?!« sagte Heinrich.
»Ich weiß! Damals schüttelte der Sturm die Bäume. Mich fror, und du schlugst deinen Mantel um mich —«
»Und habe dich doch nicht schützen können —«
»Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.«
»So stark, daß du allein zu gehen vermagst —,« seine Stimme schwankte dabei. Mich traf's wie blendendes Licht, — ich sah auf dem Wasser nichts mehr als die goldene, schimmernde Sonnenstraße.
»Damals warnte ich dich vor mir,« fuhr er fort.
»Ich aber ließ dich nicht —«
»Und heute?! —«
»Du siehst: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben dir —«
Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbeglänzten Wiese öffnet, tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes auf. Er hielt einen Zweig jungen Grüns in der hochgehobenen Hand. Der wehte über ihm wie eine Fahne.
Und dann kam das Leben wieder und der Alltag, und sein Pfad blieb rauh. Aber ich hatte ihn freiwillig gewählt, und meines Herzens Glut schützte mich vor dem Frost. Er blieb einsam. Aber ich wußte vorher: wer eigene Wege sucht, findet wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturzbäche hinweg flog siegreich hin und her der Gruß der Liebe.
Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine meine Füße verwundeten, sah ich forschend zurück. Und ich erkannte, daß ich nicht irre gegangen war.
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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at https://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit https://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: https://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.